DFG-Projekt „Edition Hitlerreden 1933–1945“: Team um Prof. Cornelißen übernimmt Neuedition der Hitlerreden ab 1933
Seine schneidende Stimme ist unverkennbar, man meint sie aus vielen Tonbeispielen zu kennen. Doch die meisten Reden Adolf Hitlers sind bislang nicht gut zugänglich. Nun sollen sie umfassend wissenschaftlich ediert und veröffentlicht werden. Das DFG-Forschungsprojekt „Edition Hitlerreden 1933–1945“ ist am 1. Januar offiziell gestartet. Einen entscheidenden Impuls dazu gaben Christoph Cornelißen, Professor für Neueste Geschichte mit dem Schwerpunkt Geschichte Europas im 20. Jahrhundert, und sein Team, das auch maßgeblich am Projekt mitwirken wird.
Die Zeit des Nationalsozialismus steht seit 1945 im Fokus der zeithistorischen Forschung. Für Laien mag es deshalb erstaunlich sein, dass die Reden Adolf Hitlers von der „Machtergreifung“ an nicht in wissenschaftlich sauber edierter Form vorliegen sollen. Eine verschriftliche Ausgabe seiner Reden hat es zwar durchaus gegeben: die vierbändige Edition, die der Würzburger Archivar Max Domarus erstellt hat. „Diese Ausgabe wurde seit ihrem Entstehen als Hauptreferenzquelle genutzt, sie hat die Forschung geprägt“, erklärt Professor Christoph Cornelißen, der an der Goethe-Universität zur Neuesten Geschichte forscht. Doch die Edition war nicht nur unvollständig, sondern die einzelnen Reden waren von Domarus auch zum Teil gekürzt und angepasst worden und gingen beinahe alle auf die manchmal stark redigierten Textversionen im „Völkischen Beobachter“, der Parteizeitung der NSDAP, zurück. Was hat den Historiker, Lehrer, Schriftsteller und Publizisten angetrieben, der schon 1932 damit begonnen hatte, die Äußerungen Adolf Hitlers zu sammeln? Dies ist inzwischen Gegenstand eigener Forschungsarbeiten geworden.
Prof. Christoph Cornelißen und sein Team – Dr. Dirk Stolper, Dr. Muriel Favre und Nikolaus Freimuth M.A. – haben es sich zum Ziel gesetzt, Forschung und Öffentlichkeit die im Radio übertragenen Reden als Quellen von anderer Qualität zur Verfügung zu stellen – zumal der heutige Stand der Technik ganz neue Möglichkeiten bietet. Gemeinsam mit dem Institut für Zeitgeschichte München-Berlin, der Philipps-Universität Marburg, der Stiftung Deutsches Rundfunkarchiv Frankfurt am Main/Potsdam-Babelsberg und dem Leibniz-Institut für Deutsche Sprache in Mannheim haben sie bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft das Verbundprojekt „Edition Hitlerreden 1933–1945“ beantragt – mit Erfolg. Ziel des auf sieben Jahre angelegten und mit 4 Millionen Euro ausgestatteten Vorhabens ist es, alle einschlägigen Texte und Audio-Überlieferungen in einer wissenschaftlich zuverlässigen Form nutzbar zu machen. Sieben Jahre – das klingt erstmal nach viel Zeit. Aber angesichts des zu untersuchenden Materials relativiert sich dieser Zeitraum.
300 Reden als Audiodokumente erhalten
Denn Material gibt es eine ganze Menge: Insgesamt sind knapp 800 Reden von Adolf Hitler überliefert, allerdings die meisten nur in schriftlicher Form, abgedruckt im „Völkischen Beobachter“. Etwa 300 Reden sind als Audiodokumente erhalten. Die auf unterschiedlichen Tonträgern vorhandenen Aufzeichnungen wurden bis 1945 in den Rundfunkhäusern aufbewahrt, ein Großteil davon wurde von den Briten als Kriegsbeute nach London gebracht. Über unterschiedliche Wege kamen dann Kopien dieser Aufzeichnungen nach Deutschland zurück. Seit 1952 sammelte das Deutsche Rundfunkarchiv alle Tonträger, die aus der NS-Zeit auftauchten. Die offiziellen Quellen sind längst versiegt, aber aus privater Hand wird bis heute hin und wieder ein Mitschnitt einer Hitler-Rede bekannt. Anfang des neuen Jahrtausends hat das Deutsche Rundfunkarchiv damit begonnen, diesen Bestand zu digitalisieren – allerdings für die Bedürfnisse des Rundfunks. „Das ist ein großer Schatz, aber wissenschaftlichen Standards genügt das nicht“, erklärt Dr. Favre. Das Deutsche Rundfunkarchiv sei dennoch ein sehr wichtiger Partner: „Hier liegt die größte Expertise hinsichtlich der Entstehungs- und Überlieferungsgeschichte der Aufnahmen“, so Favre.
Moderne mediale Aufbereitung
Eine Edition, die wissenschaftlichen Bedürfnissen genügt und der Forschung ganz neue Perspektiven eröffnen wird, das ist das Ziel des Editionsprojekts. Das Team an der Goethe-Universität wird sich nun die im Deutschen Rundfunkarchiv vorhandenen Aufzeichnungen systematisch vornehmen und mit anderen Überlieferungen der jeweiligen Rede abgleichen. Auf diese Weise soll eine möglichst realitätsgetreue Aufnahme rekonstruiert werden. Damit auch in den Audiodateien nach Begriffen oder Publikumsreaktionen recherchiert werden kann, kommt der Informatiker Prof. Bernd Freisleben von der Universität Marburg ins Spiel: Er wird die vom Frankfurter Team ermittelten Dateien mit Hilfe von Künstlicher Intelligenz und Audioerkennung entsprechend präparieren. „Für Historiker ist das ein Quantensprung“, freut sich Muriel Favre. Nun könne man direkt im Audiodokument recherchieren ohne den Umweg über die Transkription.
Die Redetexte wird das Institut für Zeitgeschichte auf der Grundlage der Audios oder weiterer Quellen ermitteln, kommentieren und als gedruckte Bände herausbringen; eine Online-Version im Open Access soll folgen. Redetexte und Kommentare werden ebenfalls in die Audioedition kommen. Soweit möglich, sollen dort auch die Umstände der Inszenierung der Reden auf der Bühne oder im Radio erforschbar gemacht werden. Gab es Zwischenrufe? Querverweise vom Redner selbst auf andere Redeauftritte? Auch schon die Ankündigung der Rede in der Presse und im Radio, die Zusammensetzung des Publikums, die Kleidung der Personen auf der Bühne spielen eine Rolle. „Es ist interessant, dass Goebbels zum Beispiel immer in Zivilkleidung auftrat, Hitler jedoch in Uniform“, sagt Dr. Dirk Stolper.
„Wir wollen eine neue Grundlage für die Erforschung der Wirkungsgeschichte der Hitler-Reden schaffen“, sagt Professor Cornelißen. Die Wahrnehmung Hitlers in der Geschichtsforschung habe sich im Lauf der Jahrzehnte seit 1945 immer wieder gewandelt. Während in den 1950er Jahren die Auffassung vom übermächtigen Führer verbreitet war, der die Deutschen fest im Griff gehabt habe (deren eigene Verantwortung damit kleiner erschien), sah Hans Mommsen in ihm den „schwachen Diktator“, der „häufig unsicher, ausschließlich auf Wahrung seines Prestiges und seiner persönlichen Autorität bedacht“ gewesen sei. Die Vernichtung der europäischen Juden sei in einem Prozess der „kumulativen Radikalisierung“ geschehen, eines ausdrücklichen Befehls Hitlers habe es dafür gar nicht bedurft. Andere Auffassungen wie die von Daniel Goldhagen („Hitlers willige Vollstrecker“) arbeiteten sich daran ab. „Im Grunde geht es auch heute noch um die Frage: Wer waren die Täter?“, sagt Christoph Cornelißen. Anhand der Reden könne man den „ideologischen Kern“ in Hitlers Wesen als Politiker herausarbeiten. Dass es diesen Kern gibt und dass Hitler daran festgehalten habe, könne man anhand der Tondokumente nachweisen. Der Meinungsstreit unter Historikern werde deshalb nicht aufhören, meint Cornelißen. Aber man könne ihn näher entlang der Quellen führen.
Analyse der rhetorischen Mittel
Unbestritten ist sicher, dass Hitler ein außergewöhnliches rednerisches und theatralisches Talent aufwies. 1919 hatte er einen Rednerkurs an der Münchner Universität besucht, von da an sprach er vor ständig größeren Menschenansammlungen. Wie stark er auf seine Zuhörer wirkte, zeigte sich zum Beispiel darin, dass selbst gebildeten Personen aus Wirtschaft und Militär wider besseren Wissens seinen Argumenten erlagen. Welche sprachlichen Mittel er dabei verwendete, das soll im Editionsprojekt ebenfalls eine Rolle spielen: Auch das Institut für deutsche Sprache in Mannheim hat ein Teilprojekt übernommen, in dem es um die sprachlich-rhetorischen Analyseinstrumente gehen wird.
„Wir denken heute, niemand würde einem solchen Redner auf den Leim gehen. Aber wir sollten uns da nicht so sicher sein“, formuliert Professor Cornelißen den Bezug zur Gegenwart. So gehe es in dem DFG-Projekt um weit mehr als die Rekonstruktion des historischen Phänomens Hitler: Man könne daran auch erforschen, wie die politische Rede in Krisenzeiten generell wirkmächtig wird.