Die 16. Internationale Konferenz zur Wissenschafts-, Technik- und Medizingeschichte Ostasiens, die in diesem Jahr vom 21. bis zum 25. August stattfindet, ist ein weiterer Schritt bei der Erforschung der ostasiatischen Wissenschafts-, Technik- und Medizingeschichte. Sie wird unter der Schirmherrschaft der Goethe-Universität Frankfurt am Main im Auftrag der International Society for the History of East Asian Science, Technology and Medicine (ISHEASTM) organisiert. Die Konferenzreihe begann 1980 mit einer kleinen Konferenz zur chinesischen Wissenschaftsgeschichte und hat sich mittlerweile auf ganz Ostasien ausgedehnt. Sie zieht regelmäßig mehrere hundert Teilnehmer an – in Frankfurt werden ca. 400 Teilnehmer erwartet. Thematisch umfasst die Konferenz das gesamte Feld der Wissenschafts- und Technikgeschichte in Ostasien, von den Anfängen bis zur Gegenwart. Ein besonderer Schwerpunkt der diesjährigen Konferenz liegt auf dem Thema „Krisen und Verflechtungen“. Dabei wird sowohl die Verantwortung von Wissenschaft, Technik und Medizin für die Entstehung betrachtet, andererseits aber auch darauf hingewiesen, wie Prozesse der Kollaboration und die Unmöglichkeit, die Verflechtungen der Welt aufzulösen, historisch betrachtet das Potenzial hatten, Krisen zu verhindern, zu lösen oder zumindest zu entschärfen.
ICHSEA 2023
16. Internationale Konferenz für die Geschichte der Wissenschaft in Ostasien
21. – 25. August 2023,
Goethe-Universität, Frankfurt am Main
www.ichsea2023.uni-frankfurt.de
Zum Hintergrund
Die vielfältigen Krisen, die die heutige Welt heimsuchen, erfordern entscheidende Interventionen der historischen Forschung, einschließlich Studien zur Geschichte der ostasiatischen Wissenschaft, Technologie und Medizin. „Whiggish“-Vorstellungen über die Geschichte der Wissenschaft wurden längst verworfen und Fantasien über ein „Ende der Geschichte“ wurden zur Ruhe gelegt. Stattdessen haben neuere Studien die Verflechtung der Geschichte von Wissenschaft, Technologie und Medizin hervorgehoben, identifizierten die verschiedenen Akteure, die an ihrer Produktion und Verbreitung beteiligt waren und erforschten die vielfältigen Skalen, in denen epistemische Praktiken angesiedelt sein müssen. Auch wenn diese neuen Ansätze spannende und fruchtbare Perspektiven eröffnen, haben sie selten versucht, unser Fachgebiet um einen Rahmen zu erweitern, der die Existenz und das Fortbestehen von Krisen, die das Überleben der Menschheit zu bedrohen scheinen, systematisch anerkennt.
Probleme, die durch einen solchen Rahmen angegangen werden können, beginnen mit der Frage, inwieweit Wissenschaft und Technologie zur Entstehung oder Verschärfung solcher Krisen beigetragen haben, und reichen bis hin zu Hoffnungen und Erwartungen, dass Wissenschaft, Technologie und Medizin zur Überwindung dieser Krisen beitragen können. Nicht weniger wichtig ist die Frage nach der Rolle von Verflechtungen in Krisenzeiten: Wie belastbar ist die wissenschaftliche und technologische Zusammenarbeit und wie zuverlässig sind Netzwerke, durch die Wissen generiert und bewahrt wird?
Wenn man sich Krisen so vorstellt, dass sie mit erheblichen Störungen des gesellschaftlichen Lebens einhergehen, wird die Frage, wie Wissenschaft, Technik und Medizin unter solchen Bedingungen funktionieren, zu einem entscheidenden Problem. Tatsächlich haben geografische, zeitliche, disziplinäre und intellektuelle Verflechtungen oft eine wichtige Rolle bei der Milderung oder Bewältigung von Krisen gespielt. Bei diesem Bemühen waren die Aufrechterhaltung der Zusammenarbeit und des Kontakts zwischen wissenschaftlichen Gemeinschaften, die Erforschung historischer Präzedenzfälle und das „Denken und Handeln über den Tellerrand hinaus“ von großer Bedeutung. Auch wenn diese Reaktionen innerhalb wissenschaftlicher Gemeinschaften Krisen nicht allein lösen konnten, waren sie es oft doch Wege aus ihnen vorschlagen oder ebnen. Diese Konferenz lädt zu Beiträgen zu diesem Thema ein und zielt darauf ab, neue Ansätze in der Geschichte der Wissenschaft, Technik und Medizin in Ostasien zu identifizieren, die den Herausforderungen unserer Zeit gerecht werden.
Forschungen zur Geschichte der ostasiatischen Wissenschaft, Technik und Medizin sind ein relativ neues Phänomen. Ein maßgeblicher Beitrag dazu wurde von dem renommierten englischen Embryologen und Wissenschaftshistoriker Joseph Needham (1900-1995) geleistet. Die UNESCO (United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization) verdankt ihm das „S“ für Wissenschaft in ihrem Namen. Bereits in den 1930er Jahren äußerte Needham erstmals Zweifel an der triumphalen Erzählung der westlichen Wissenschaft und wies darauf hin, dass Ostasien, insbesondere China, erhebliche Beiträge zur Entwicklung der universellen Wissenschaft geleistet habe. Dieser Aufruf zur Erforschung nichteuropäischer Wissenschaft stieß auf großes Interesse bei Historikern und Naturwissenschaftlern in Ostasien. Needhams vielbändiges Opus Magnum „Science and Civilisation in China“ dürfte zu den mit am meisten gelesenen Werken der Wissenschaftsgeschichte gehören – anders als der Titel suggeriert, spielen auch hier Technik und Medizin eine große Rolle.
Aus einem anfänglich kleinen Feld ist nicht zuletzt durch Needhams Beiträge mittlerweile ein äußerst wichtiges und kreatives Gebiet der Ostasienwissenschaften entstanden. Gleichzeitig hat es auch zunehmend Eingang in die allgemeine Erforschung der Wissenschaftsgeschichte gefunden. Die Beschäftigung mit der Geschichte der ostasiatischen Wissenschaft bedeutet jedoch nicht nur eine Wiedergutmachung historischen Unrechts. Viel wichtiger ist es, den eurozentrischen Blickwinkel zu durchbrechen und das weit verbreitete Narrativ zu erweitern, dass Wissenschaft ausschließlich auf der griechischen deduktiven Logik basierend in Europa entwickelt wurde.
Die Kulturen Ostasiens haben eine lange Tradition der sorgfältigen Beobachtung und Aufzeichnung der Natur. Diese stellte eine wichtige Grundlage für die Entstehung und Fortentwicklung wissenschaftliches Denkens dar, sie liefert uns aber auch wertvolle Daten zu geologischen Ereignissen wie Erdbeben, zur Astronomie, zu Klimaveränderungen sowie zu Flora und Fauna, die für unser Verständnis des Anthropozäns unverzichtbar sind.
Die Begeisterung für nicht-invasive medizinische Praktiken und Akupunktur auch in Europa und Amerika ist ohne den Blick auf die Geschichte der ostasiatischen Medizin kaum zu verstehen. Das Gleiche gilt für die Pharmazie. Es wurde oft darauf hingewiesen, aber bisher nur unzureichend gewürdigt, dass für die Isolierung des Artemisinins als Antimalaria-Mittel, für die der chinesischen Pharmakologin Tu Youyou im Jahr 2015 der Nobelpreis verliehen wurde, die Verwendung der traditionellen chinesischen alchemistischen und pharmazeutischen Literatur von großer Bedeutung war. Auch der ostasiatische Umgang mit Krankheiten, Seuchen und Pandemien (zum Beispiel die Verbreitung der verschiedenen Pestwellen über die Welt) und deren Kontrolle findet zunehmend Beachtung. Zudem gewinnen umwelthistorische Fragen an Bedeutung, die in vielen Fällen mit wissenschafts-, technik- und medizinhistorischen Fragen in Beziehung stehen.
Schließlich hat in jüngerer Zeit die internationale Forschung verstärkt Prozesse des Austauschs und der Verflechtung zwischen Ostasien und dem Rest der Welt in den Fokus genommen. Die Analyse von Kooperationsformen und den damit verbundenen Möglichkeiten und Schwierigkeiten hat weitreichende Bedeutung, die über die rein historische Erkenntnis hinausgeht. Sie ermöglicht uns, Einblicke in Strukturen, Formen und Persönlichkeiten zu gewinnen, die den Aufbau wissenschaftlicher Netzwerke zum Nutzen aller Beteiligten ermöglichen.