Seltene Erkrankungen: Scharfsinn schlägt Intuition

Weil das Messen einfach und die Laborgläubigkeit hoch ist, wird in der Medizin häufig ohne Hypothesen gemessen. Solche Fishing-Expeditionen führen weniger zu Diagnosen als zu dicken Krankenakten – besonders wenn der Patient an einer Seltenen Erkrankung leidet. Niemand liest diese Akten gründlicher als die Mitarbeiter der Studentenklinik am Frankfurter Referenzzentrum für Seltene Erkrankungen (FRZSE). Auf ihrer Suche nach einer Diagnose sind Datenbanken eine wichtige Hilfe.

Es ist Donnerstagabend, 17:15 Uhr. In einem Seminarraum des Klinikums treffen sich sechs Medizinstudenten zur Besprechung eines schwierigen Falls mit den Leitern der Studentenklinik, Juliane Pfeffel, neuntes Semester, und Marcel Greco, elftes Semester. Für Prof. Dr. Thomas Wagner, der das Frankfurter Referenzzentrum für Seltene Erkrankungen (FRZSE) im Oktober 2012 gründete, übernehmen die beiden fortgeschrittenen Medizinstudenten die Rolle der Oberärzte in der Studentenklinik.

Juliane Pfeffel hat in ihrer Powerpoint-Präsentation die Krankengeschichte einer Frau mittleren Alters zusammengefasst, bei der ein bestimmtes Immunglobulin aus unbekannten Gründen stark erhöht ist. Die Medizinstudentin berichtet über die Symptome der Patientin, Erkrankungen in der Familie, Laborwerte und eine Anzahl ergebnisloser Untersuchungen von Fachärzten. Die Beschwerden der Frau passen zu keiner der geläufigen Diagnosen.

Studierende punkten durch Unvoreingenommenheit

Der nun folgende Dialog erinnert an die Serie »Dr. House«. Fachkundig diskutieren die Studierenden, was bei der Odyssee der Patientin von einem Spezialisten zum nächsten übersehen worden sein könnte. Ist sie auf Parasiten getestet worden? Könnte es sich um die seltene Variante einer Erbkrankheit handeln? Warum haben die Dermatologen keine Biopsie veranlasst? Sind die Blutwerte auch schon während eines Schubs der Erkrankung untersucht worden?

»Das Gute an den studentischen Mitarbeitern ist, dass sie an die Fälle völlig unvoreingenommen herangehen«, erklärt Prof. Wagner von der Medizinischen Klinik I, die das Fach Innere Medizin vertritt. »Ich habe oft schon eine Idee, welche Spur ich verfolgen möchte. Es kann aber sein, dass ich damit den Blick für andere mögliche Diagnosen zu früh einenge. Gerade bei Seltenen Erkrankungen helfen Erfahrung und ärztliche Intuition nicht weiter«, weiß der Pneumologe.

Ein Hausarzt kommt selten in die Verlegenheit, eine Seltene Erkrankung zu diagnostizieren. In seinem Wartezimmer sitzen aber oft genug – auch ohne dass er das weiß – Betroffene von Seltenen Erkrankungen. Einige sind bekannter, wie etwa die Mukoviszidose, Chorea Huntington oder die Amyotrophe Lateralsklerose (ALS), aber die meisten sind selbst Spezialisten wie Prof. Wagner unbekannt. Laut Definition der Europäischen Union ist eine Erkrankung selten, wenn davon nicht mehr als fünf von 10 000 Menschen in Europa betroffen sind. Etwa 6 000 bis 8 000 Seltene Erkrankungen sind inzwischen bekannt, so dass in der Summe zwischen 27 und 36 Millionen Menschen in der EU zu dieser Patientengruppe zu zählen sind.

Der erste Kontakt zum FRZSE kommt über den behandelnden Arzt zustande. Er reicht die Akten des Patienten ein. Bevor sich Studierende im Rahmen eines Wahlpflichtfachs mit dem Aktenstudium beschäftigen, werden diese von zwei erfahrenen wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen gesichtet. »Dieser Filter ist wichtig, um sicher zu sein, dass es sich nicht um eine offensichtlich psychosomatische Erkrankung handelt«, erklärt Ärztin Sinem Koc. Manche Patienten wenden sich auch an das FRZSE, weil sie mit einer bereits gestellten Diagnose unzufrieden und überzeugt sind, an einer Seltenen Erkrankung zu leiden.

Zeit für das Aktenstudium belohnt das Gesundheitssystem nicht

Erfüllt ein Patient die Kriterien für die Aufnahme, kommt er zunächst auf eine Warteliste. Es kann mehrere Monate dauern, bis sein Fall in der Studentenklinik bearbeitet wird. »Kein Facharzt kann in unserem Gesundheitssystem genug Zeit aufbringen, die Krankenakte eines Patienten mit einer Seltenen Erkrankung so gründlich zu analysieren wie unsere Studenten. Während ich mir dafür etwa eine halbe Stunde Zeit nehmen kann, verbringen unsere Studenten zwischen 8 und 20 Stunden damit. Das ist Gold wert«, sagt Wagner.

Das Team der Studentenklinik sucht mit viel Geduld und Scharfsinn nach Seltenen Erkrankungen; Foto: Dettmar
Das Team der Studentenklinik sucht mit viel Geduld und Scharfsinn nach seltenen Erkrankungen; Foto: Dettmar

Gerade bei Patienten mit unklaren Diagnosen werden durch die Konsultation immer neuer Fachärzte viele Untersuchungen unnötigerweise wiederholt. So macht sich beispielsweise kaum ein Radiologe die Mühe, Röntgenbilder eines Kollegen erneut zu befunden, denn dafür wird er nicht bezahlt. Lohnend, auch im Sinne einer Auslastung der teuren diagnostischen Geräte, ist es für ihn nur, wenn er den Patienten erneut röntgt oder in den Computertomografen schiebt. »Das Messen in der Medizin ist einfach und die Laborgläubigkeit extrem hoch. Deshalb wird häufig ohne Hypothesen gemessen«, beklagt Prof. Wagner. »Fishing- Expeditionen sind weitverbreitet.« Dennoch lassen die Mitarbeiter der Studentenklinik nicht das kleinste Detail außer Acht.

»Eine Akte ist wie ein Überraschungsei«, berichtet Marcel Greco, der seit der Gründung des FRZSE dabei ist. Ihn reizt das kriminalistische Vorgehen bei der Diagnosestellung. Diese Begeisterung gibt er an die etwa zehnköpfige Gruppe von Studierenden weiter. Sie befinden sich in ihrer Ausbildung zwischen dem ersten klinischen Semester und dem Praktischen Jahr. Im Wahlfach des FRZSE, das unter dem Titel »Sehen, was keiner sieht« angeboten wird, lernen die Studierenden, wie man eine Krankenakte liest, üben Differenzialdiagnosen, recherchieren in Datenbanken für Seltene Erkrankungen und schlagen in Rücksprache mit Prof. Wagner eine ergänzende Diagnostik durch Spezialisten vor. »Dieses gezielte Vorgehen erfordert einen immensen intellektuellen Aufwand und hat einen hohen edukativen Wert«, sagt Wagner. Er spart nicht mit Anerkennung für seine studentischen Mitarbeiter.

Schwieriges Arzt-Patienten-Verhältnis

Die Studierenden haben zunächst telefonischen Kontakt zu den Ratsuchenden. In der Telefonsprechstunde geben sie Auskunft über die Leistungen des Zentrums. Ihre Aufgabe ist es, Seltene Erkrankungen zu diagnostizieren, nicht zu behandeln. Sie sehen sich als Lotsen, die Patienten nach Bearbeitung ihres Falls an Spezialisten vermitteln. Viele Anrufer erkundigen sich auch nach dem Stand der Bearbeitung ihrer Akten. Diese Kontakte sind nicht immer einfach, denn die meisten Patienten haben einen langen und frustrierenden Leidensweg hinter sich.

Prof. Wagner erinnert sich an den Fall eines Mannes mit Fieber und Gelenkbeschwerden, der von Rheumatologen erfolglos mit großen Mengen an Antibiotika und Cortison therapiert wurde – mit allen Nebenwirkungen. Als das Team am FRZSE endlich herausfand, dass der Patient unabhängig von einer Gelenkerkrankung an einem seltenen Metalldampffieber litt, hatte dieser das Vertrauen in die Medizin bereits verloren. Zwar verschwand das Fieber, nachdem der Mann den berufsbedingten Kontakt mit Zinkdämpfen mied, aber er weigerte sich, seine Gelenkerkrankung behandeln zu lassen.

Für den Arzt ist ein Patient mit einer Seltenen Erkrankung unbequem. »Er spürt den stillen Vorwurf, er gebe sich nicht genug Mühe, die Ursache des Leidens zu finden«, erklärt Wagner. Manche Ärzte lasteten wiederum ihren Patienten den Misserfolg der Therapie an, indem sie ihm eine mangelnde Compliance unterstellten. Wird dann endlich eine Seltene Erkrankung diagnostiziert, ist dies noch kein Grund zur Erleichterung, denn in den meisten Fällen existiert noch keine Therapie.

»Dennoch finden die meisten Betroffenen es besser, endlich eine – selbst eine schlimme – Diagnose zu bekommen als gar keine. Dann haben sie endlich eine Erklärung für ihre Beschwerden«, weiß Wagner. Und noch etwas ist wichtig: Viele gehen versöhnt mit dem Gefühl, dass sich endlich einmal jemand ausgiebig um ihren Fall gekümmert hat.

Detektivische Suche in Datenbanken

»Leider gelingt es uns noch nicht einmal bei jedem zweiten Patienten, eine Diagnose zu stellen«, bedauert Marcel Greco. Und das, obwohl sich die nachwachsende Generation von Ärzten bestens mit den Recherchemöglichkeiten im Internet und in Datenbanken auskennt. Beispielsweise werden in dem 1997 gegründeten französischen Orphanet die Symptome und Ursachen Seltener Erkrankungen beschrieben und – sofern vorhanden – Therapiemöglichkeiten angegeben. Die Herausforderung bei der Nutzung solcher Datenbanken besteht darin, Schlüssel-Symptome so einzugeben, dass die Zahl der Treffer so gut wie möglich eingegrenzt wird.

Wagner illustriert die knifflige Suche am Beispiel eines sportlichen Mannes, der mit Mitte 30 zunächst seinen Zeigefinger nicht mehr bewegen konnte. Als Nächstes bemerkte er, dass ihm das Treppensteigen immer schwerer fiel. Sein Zustand verschlechterte sich weiter über 20 Jahre, bis er an das FRZSE überwiesen wurde. Dort konnte das Team von Wagner über eine Datenbankrecherche schließlich eine seltene Muskelerkrankung diagnostizieren: Die Welander Myopathie.

Der Schlüssel dazu war die Lähmung des Zeigefingers. Verwirrend war an dem Fall, dass die Erkrankung bisher ausschließlich in Skandinavien auftrat. Sie ist als eine genetisch bedingte Erkrankung bekannt, die sich in die Zeit der Wikinger zurückverfolgen lässt. Da der Patient keine Vorfahren aus Skandinavien hatte, vermuten die Ärzte, dass die Mutation bei ihm neu aufgetreten ist. In diesem Fall hatte der Patient Glück: die Mitarbeiter des FRZSE konnten ihnan Spezialisten in München und in Newcastle verweisen. Nicht immer ist jedoch bekannt, welche Gendefekte bestimmte Krankheitssymptome hervorrufen. Anomalien lassen sich in den Genomen der meisten Menschen finden, aber diese müssen nicht immer zu einer Erkrankung führen.

Deshalb ist es umgekehrt auch nicht einfach herauszufinden, ob bestimmte Symptome (Phänotyp) von einem gefundenen Gendefekt (Genotyp) hervorgerufen werden. Die Frankfurter Forscher sammeln deshalb ihre Beobachtungen in einer eigenen Datenbank, die sie in Kooperation mit Informatikern aus Mainz anlegen. So können Kollegen weltweit überprüfen, ob sie Übereinstimmungen finden. In Kombination mit geschicktem Datamining hilft das, neue Seltene Erkrankungen aufzufinden. Prof. Wagner nennt das »Messen 2.0.«. Auch in diesem Punkt setzt er große Hoffnungen auf die neue Generation von Medizinstudenten. »Wir bewegen uns hier an der vordersten Front der Forschung«, sagt Thomas Wagner.

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Weitere Informationen für Ärzte und Patienten

Frankfurter Referenzzentrum für Seltene Erkrankungen (FRZSE)
Universitätsklinikum Frankfurt
Haus 18, EG
Theodor-Stern-Kai 7
D-60590 Frankfurt am Main
E-Mail: FRZSE@kgu.de
Internet: www.FRZSE.de
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