Mirjam Wenzel im Interview: »Wir sind ein Museum ohne Mauern«

Am 21. Oktober wurde das Jüdische Museum in Frankfurt nach fünf Jahren Renovierungs- und Erweiterungsarbeiten wiedereröffnet. Der UniReport hatte die Gelegenheit, vorab mit der Direktorin des Museums und Honorarprofessorin an der Goethe-Universität, Dr. Mirjam Wenzel, zu sprechen.

UniReport: Frau Professor Wenzel, das Jüdische Museum in Frankfurt öffnet in einer Zeit, in der Antisemitismus auch in Deutschland wieder zugenommen hat und über dessen Gründe diskutiert wird. Stellt das Ihre Arbeit vor große Herausforderungen?

Prof. Mirjam Wenzel: Unsere Arbeit, vor allem im Bildungsbereich, steht schon seit längerer Zeit unter dem Vorzeichen von ansteigendem Antisemitismus und gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit, von Hass und Hetze gegen alles, was als „anders“ markiert und wahrgenommen wird. Dieser Entwicklung halten wir, ganz im Sinne von Adornos Radioessay „Erziehung nach Auschwitz“, eine Erziehung zur Selbstreflexion entgegen; das ist das zentrale Motto unserer Bildungsarbeit. Als Kultureinrichtung steht unsere Bildungsarbeit zunehmend unter dem Vorzeichen politischer Veränderungen und vor der Notwendigkeit, klare Haltungen zu formulieren und ethische wie politische Grenzen zu markieren. Dieser Veränderung widmet sich auch die erste Konferenz nach unserer Eröffnung, die den Titel „Politische Aspekte kultureller Bildung“ hat und die wir in Kooperation mit der Bundeszentrale für politische Bildung veranstalten. Aufgrund der historischen Erfahrung müssen wir uns als Jüdisches Museum für Demokratie und Diversitätssensibilität einsetzen – und machen damit in der gegenwärtigen Situation eine politische Aussage, die die Relevanz unserer Museumsarbeit unterstreicht.

In rechten Bewegungen wie QAnon werden auch antisemitische Motive wie die Verschwörung jüdischer Unternehmer und Misshandlung und Ermordung von Kindern verwendet. Sehen Sie die Bildungsinstitutionen in der Pflicht, rechtzeitig auf die Gefahr solcher verschwörungstheoretischen und demokratiefeindlichen Ideologien für jüdisches Leben in Deutschland hinzuweisen?

Wir sind ein politisches Museum, aber keine tagespolitische Einrichtung. Wir werfen einen analytischen und historisch informierten Blick auf die Gegenwart und betrachten einzelne Phänomene in einem größeren Zusammenhang. Die Weltverschwörungslegenden, die eine Bewegung wie QAnon pflegt, knüpfen an tradierte judenfeindliche Vorstellungen an, wie sie etwa im Mittelalter mit der Ritualmordlegende oder dem raffgierigen Juden gepflegt wurden. In diesen Vorstellungen wirkt der christliche Antijudaismus fort, der bis heute in bildlicher Form in vielen christlichen Kirchen zu sehen ist. Diese tradierte Form judenfeindlicher Projektionen tritt heute wieder offener und unverblümter zutage. Ich denke, dass Shulamit Volkov recht hat: Antisemitismus ist der kulturelle Code christlich geprägter Gesellschaften. Deshalb ist der ansteigende Antisemitismus der Gegenwart nicht ausschließlich auf den ansteigenden Rechtsextremismus zurückzuführen. Er ist auch ein Symptom der gesellschaftlichen Umbrüche, die wir gerade erleben und in denen das wieder hervortritt, was nie verschwunden war. Auf die Kontinuitäten und die Gewaltförmigkeit der Judenfeindschaft in unserer Gesellschaft hinzuweisen und dem durch kontinuierliche Bildungs- und Aufklärungsarbeit entgegenzuwirken – das ist unsere Aufgabe!

Worauf dürfen sich die Besucherinnen und Besucher des Jüdischen Museums freuen?

Spontan würde ich sagen: auf ein neues Museum! Denn der Erneuerungsprozess hat tatsächlich dazu geführt, dass das Jüdische Museum, das wir am 21. Oktober öffentlich zugänglich machen, wenig mit dem Museum zu tun hat, das vor zurückzuführen Jahren geschlossen wurde. Jeder, der mal hier gewesen ist, sieht das auch sofort, weil der neue Lichtbau mit seinen überraschenden Lichteinfällen und seinem sich zum Himmel öffnenden Atrium einen ganz eigenen Zauber entfaltet. Auch das Rothschild-Palais erscheint in ganz neuer Gestalt, da mit den Sanierungsarbeiten nach historischem Vorbild der Charakter des einstigen Wohnhauses wieder deutlich hervortritt. In unserer neuen Dauerausstellung machen wir dieses Palais als Objekt erfahrbar. Sie bespielt drei Etagen und thematisiert die jüdische Geschichte Frankfurts der letzten 200 Jahre in persönlichen Geschichten und ausgehend von der Gegenwart. Mit der sie prägenden Form der Mixed-Media-Präsentation wollen wir Nähe zu den Dingen und den mit ihnen verbundenen Geschichten schaffen und Empathie wecken.

Unsere erste Wechselausstellung „Die weibliche Seite Gottes“ schlägt hingegen einen großen kulturhistorischen Bogen von der Zeit des alten Israels bis in die Gegenwart und fragt, wohin die archaischen Vorstellungen von Göttinnen im Monotheismus verschwunden sind. Neben archäologischen Funden, wertvollen Schriftzeugnissen und Zeremonialobjekten zeigen wir hier viele Werke der Bildenden Kunst – auch von bekannten zeitgenössischen Künstlerinnen wie Kiki Smith oder Anselm Kiefer. Darüber hinaus bieten wir vielfältige Veranstaltungen, Konzerte und Diskussionen an und laden die Öffentlichkeit in unser milchig-koscheres Deli und unsere öffentliche Bibliothek mit einem eigenen Kinder- und Jugendprogramm ein. Die Besucherinnen können sich also auf ein lebendiges Zentrum für jüdische Kultur in Geschichte und Gegenwart freuen!

Wie würden Sie Ihr didaktisches Konzept beschreiben?

Unser Vermittlungskonzept setzt eigentlich auf Vielfalt und Lebendigkeit. Das heißt, wir haben für ganz unterschiedliche Zielgruppen, zum Beispiel für Kinder und Familien, aber auch für englischsprachige Besucher*innen, eigene Angebote entwickelt. Wir haben uns im Vorfeld der Neugestaltung Gedanken gemacht, für wen wir eigentlich dieses Museum machen, und uns insgesamt auf acht Zielgruppen geeinigt. Die haben wir personalisiert und ihnen Namen gegeben, damit jeder sie vor Augen hat. Wir haben uns auch auf ein neues Leitbild verständigt, in dem unter anderem steht: Wir sind ein Museum ohne Mauern. Das heißt: Wir wenden uns an eine diverse und plurale Gesellschaft. Und dies tun wir mit zielgruppenspezifischen Angeboten, die in Teilen auch außerhalb unseres Museums stattfinden – mal niedrigschwellig, mal anspruchsvoll, mal sinnlich, aber stets mit ein- und demselben Ziel, nämlich: jüdische Kultur und Geschichte erfahrbar zu machen. Das ist weniger ein didaktisches Konzept als vielmehr die Überzeugung, dass Nähe und Selbstverständlichkeit Schwellenängste und Projektionen abbauen.

Wie kann man museumsdidaktisch jüdisches Leben im Frankfurt, gerade auch im Hinblick auf die Vielfalt der Lebensentwürfe, darstellen?

Unsere Dauerausstellung kreist um die Vielfalt jüdischer Lebensentwürfe in Frankfurt – diejenigen der Frühen Neuzeit sind im Museum Judengasse zu sehen, diejenigen der Moderne und der Gegenwart im Rothschild-Palais. Die persönlichen Geschichten, die wir an beiden Orten erzählen, entwickeln nicht nur jüdische Perspektiven auf ihre jeweilige Zeit, sie sind auch europäische Geschichten. Uns interessiert nicht so sehr die nationale Perspektive, das spezifisch Deutsche an der jüdischen Kultur hier vor Ort, sondern vielmehr deren europäische Dimensionen, die sich in den Biographien der Persönlichkeiten, die unsere Dauerausstellung vorstellt, widerspiegelt. Nehmen wir zum Beispiel die Familie Rothschild, die ursprünglich aus der Judengasse kommt und ein europaweites Unternehmen gründet, das dann im 19. Jahrhundert Geschichte schreibt. Oder die Familie Frank, ebenfalls aus Frankfurt stammend, die dann in die Emigration nach Amsterdam, Basel, London und Paris geht. In der Familie ist Mehrsprachigkeit ein selbstverständlicher Teil des Umgangs miteinander. Dies verdeutlichen wir, indem wir etwa das Spielzeug und die Kinderbücher aus dem Familienbesitz zeigen, die Briefe ausstellen und vorlesen, die in der Familie geschrieben wurden, oder die Schlittschuhe des Schauspielers und Basler Cousins von Anne Frank, Buddy Elias, neben der Designerlampe ihres Pariser Großonkels, des Designers Jean-Michel Frank, präsentieren. Die Geschichten zu den Objekten erzählt ein Multi-Touch-Tisch sowie, ganz klassisch, eine Broschüre, die neben der Vitrine zum Schmökern einlädt.

Sie sind Honorarprofessorin an der Goethe-Universität, unterrichten darüber hinaus schon länger in der Judaistik. Welche Möglichkeiten sehen Sie in der Zusammenarbeit zwischen den Institutionen, wie kann diese noch erweitert werden?

Ich denke, dass es für die Studierenden in meinen Seminaren eine bereichernde Erfahrung ist, dass ich Ihnen eine Perspektive vermittele, wie sie das erworbene Textwissen in die materielle Welt übertragen können. Sie lernen bei mir nicht nur die konkrete Objektwelt der materiellen jüdischen Kultur kennen. Ich halte sie auch an, allgemein verständliche Texte zu diesen Objekten zu schreiben, also ihr Wissen so aufzubereiten, dass es für die breite Öffentlichkeit interessant ist.

Ich selbst empfinde es immer wieder als Bereicherung, die Perspektiven und Fragen kennenzulernen, die Studierende haben. Es ist sehr wichtig, dass ein Museum immer wieder die eigene Perspektive hinterfragt und schärft. Dies können wir nur tun, wenn wir uns fortwährend für neue Zugänge interessieren. Eine weitere enge Verbindung zwischen dem Jüdischen Museum und der Frankfurter Universität ist institutioneller Art und historisch bedingt: Die Goethe-Universität ist aus wissenschaftlichen Einrichtungen hervorgegangen, die von Jüdinnen und Juden gegründet wurden. Sie verdankt ihr finanzielles Startkapital als Stiftungsuniversität wesentlich jüdischem Mäzenatentum und bot in den 1920er Jahren mehreren jüdischen Professoren einen ersten Lehrstuhl an. Es ist mir ist es ein Anliegen, diese Geschichte der Goethe- Universität als Bestandteil der jüdischen Ideen-, Intellektuellen und Wissenschaftsgeschichte Frankfurts sichtbar zu machen, auch hier im Museum.

Neben der Lehre unterstütze ich auch vor diesem historischen Hintergrund auch die Third Mission der Goethe-Universität. Mir gefällt es, dass die Goethe-Universität sich nach wie vor als eine Stiftungs- und Bürger*innenuniversität versteht und die Anbindung an kulturelle Einrichtungen, aber auch an die Wirtschaft sucht. Das hat Zukunftspotenzial für die Uni und die Studierenden, aber eben auch für Wirtschaft, Industrie und uns Kulturproduzentinnen und Museumsmacher*innen. Nicht zuletzt auch, weil dadurch auch selbstverständlicher wird, dass Wissenschaft und Forschung nicht allein an der der Universität, sondern auch in der Industrie oder eben im Museum geschieht. Wir forschen zu Dingen, die wir bewahren und sammeln. Museale Forschung ist weniger theoriegeleitet als die der Universität, sondern vielmehr öffentlichkeitsorientiert und -wirksam. Die Übergänge zwischen beiden Formen von Forschung und Wissenschaft aber sind fließend und ich verstehe es als meine Aufgabe, sie als fließend zu gestalten.

Haben Sie schon drüber nachgedacht, mit Studierenden Ausstellungsprojekte zu entwickeln – im Sinne der Curatorial Studies?

Ich habe im vergangenen Sommersemester gemeinsam mit dem Historiker Bernhard Jussen ein Seminar zur Studiengalerie gegeben, das in eine Ausstellung münden soll. In diesem Seminar ging es um adäquate Perspektiven auf den Umgang mit der Shoah, um den problematischen Begriff der Erinnerungskultur sowie um kuratorische Fragen zu zwei künstlerischen Positionen, die sich mit diesen Fragen beschäftigen und die wir gerne ausstellen würden. Viele Studierende aus den Curatorial Studies waren an dem Seminar beteiligt. Wir hoffen, die Ausstellung im nächsten Jahr in der Studiengalerie zeigen zu können.

Fragen: Dirk Frank und Olaf Kaltenborn

Seit 2019 ist Dr. Mirjam Wenzel Honorarprofessorin an der Goethe-Universität. Sie verstärkt damit den Forschungsschwerpunkt Jüdische Kultur und Holocaustforschung. Mirjam Wenzel, geboren 1972, studierte Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft, Politik-und Theaterwissenschaft in Berlin und Tel Aviv und arbeitete als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Deutsche Philologie der Ludwigs-Maximilians-Universität München. Ihre Promotion beendete sie mit dem Leo-Baeck-Fellowship der Deutschen Studienstiftung zur Geschichte und Kultur des deutschsprachigen Judentums in Europa. Ihre Dissertation erschien 2009 unter dem Titel „Gericht und Gedächtnis: Der deutschsprachige Holocaust-Diskurs der sechziger Jahre“. Wenzel ist Mitherausgeberin mehrerer Kataloge und Aufsatzsammlungen und Autorin einer Vielzahl an wissenschaftlichen Texten, Essays und Blogbeiträgen zur medialen Rezeption des Holocaust, zur Kritischen Theorie, insbesondere zu Siegfried Kracauer, Theodor W. Adorno und Hannah Arendt, zur zeitgenössischen Kunst sowie zur deutsch-jüdischen Kulturgeschichte. Seit 2016 leitet sie das älteste jüdische Museum der Bundesrepublik Deutschland.

Dieser Beitrag ist in der Ausgabe 5.20 des UniReport erschienen.

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