Die Judaistin Elisabeth Hollender über den Beitrag ihres Faches zu »1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland«
321 erließ Kaiser Konstantin ein Edikt, das die Heranziehung von Juden für städtische Ämter in Köln genehmigte. Es ist Anlass für das diesjährige Festjahr „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“, das mit Publikationen und Veranstaltungen in ganz Deutschland begangen wird. Das Frankfurter Seminar für Judaistik trägt seit Langem zur Forschung bei, die dieses Festjahr zu einem Jahr der Information über Geschichte und Gegenwart der Juden in Deutschland macht. Forschung und Lehre des Seminars haben ihren Schwerpunkt in etwa 1000 Jahren jüdischer Kulturgeschichte im deutschsprachigen Raum, gehen aber sowohl zeitlich als auch geografisch über diesen Rahmen hinaus. Frankfurter Forscher*innen sind an verschiedenen Veranstaltungen des Festjahrs beteiligt und präsentieren ihre Forschung sowohl für das Fachpublikum als auch für weitere Interessierte.
Das Forschungsprofil des Seminars für Judaistik der Goethe-Universität ist vor allem auf die Kulturgeschichte des europäischen Judentums vom Mittelalter bis in die Neuzeit hin orientiert, öffnet sich aber auch dem antiken und dem außereuropäischen Judentum. Einen Schwerpunkt bildet die Erforschung der Kulturgeschichte des ashkenazischen Judentums in Mitteleuropa im Hinblick auf die Annahme, dass die deutsch-jüdischen Gemeinden in Mittelalter, Frühneuzeit und Moderne in ein Netzwerk von Kontakten und Beziehungen zu nichtjüdischen sowie zu anderen jüdischen Kulturgemeinschaften eingebunden waren. Die jüdische Identität in den ashkenazischen Gemeinden ist geprägt von einer Vielfalt soziokultureller Faktoren und wird in Auseinandersetzung mit und in Abgrenzung von anderen jüdischen wie nichtjüdischen Traditionen konstruiert. Die unterschiedlichen Komponenten der ashkenazischen Kultur werden im Seminar für Judaistik vorrangig mithilfe der philologischen und kulturhistorischen Analyse von Texten aus den verschiedenen Gattungen jüdischer (v. a. hebräischer und jiddischer) Literatur rekonstruiert. Dabei ermöglicht die Verbindung von unterschiedlichen Ansätzen Fallstudien und systematische Analysen, die Ausschnitte aus der jüdischen Kultur-, Geistes- und Religionsgeschichte beleuchten.
Jüdisches Leben in Köln
Zu den derzeit prominenten Themen der Frankfurter Judaistik gehört u. a. ein Projekt zur mittelalterlichen jüdischen Gemeinde in Köln unter Leitung von Prof. Elisabeth Hollender: In archäologischen Ausgrabungen (Leitung: Dr. S. Schütte) wurden dort seit 2009 in Hebräisch beschriebene Schieferfragmente gefunden, die einen ungewöhnlichen Einblick ins Alltagsleben der Kölner Juden im 14. Jahrhundert bieten, da sie offensichtlich nicht zur längerfristigen Aufbewahrung gedachte Texte und Kritzeleien enthalten. Es handelt sich mit über 400 Fragmenten um den bisher größten Fund von mittelalterlichem beschriebenem Schiefer, der eine Vielzahl von verschiedenen Textarten überliefert. Neben Schreibübungen und Konzepten für eine illuminierte Handschrift, mehr oder weniger kunstvolle Zeichnungen und einer alt-jiddischen Rittererzählung gehören auch zahlreiche Fragmente von Namenslisten, die auf finanzielle Transaktionen hinweisen, zum Kölner Schieferbestand. Anhand der Namenslisten konnten die Vernakularnamen von mehr als 300 Kölner Juden aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts identifiziert werden. Die verschiedenen, teils ungelenken, Handschriften zeigen, dass Schreiben im mittelalterlichen Alltag eine wichtige Rolle spielte und zumindest in der jüdischen Gemeinde breit gelehrt wurde. Durch ein Seminar, in dem Studierende sich mit diesem vorher unerforschten Material beschäftigen konnten, wurde das Projekt in die judaistische Lehre in Frankfurt eingebunden. Eine vollständige Edition und Beschreibung aller Schieferfragmente soll 2021 fertiggestellt werden, lange bevor die Funde ab 2025 im Kölner Museum MiQua ausgestellt werden.
Die überwiegend wirtschaftlichen Inhalte der Kölner Schiefertafeln widersprechen dem Selbstbild der mittelalterlichen Juden als Talmud-Gelehrte, wie es Schriften aus den rabbinischen Akademien von Mainz und Worms vermitteln. Gemeinsam mit Prof. Ephraim Shoham-Steiner (BGU, Beer Sheva) hat Elisabeth Hollender in den letzten Jahren die ältesten Überlieferungen über die Kölner Gemeinde untersucht, und eine jüdische Gemeinde des 11. Jahrhunderts rekonstruiert, die offensichtlich durch die wirtschaftliche Elite organisiert und geleitet wurde und Entscheidungen nicht aufgrund der autoritativen jüdischen Texte, sondern aufgrund von lokalen Traditionen und Bedürfnissen fällte. Es ist davon auszugehen, dass Juden sich in den deutschen Städten des 9. und 10. Jahrhunderts zunächst ohne Rechtsgelehrte organisierten und diese Strukturen in Köln länger überlebten als in den rheinischen Städten, auch weil die Konkurrenz von Mainz und Köln auch die jüdischen Gemeinden erfasste. Weil diese Governance-Strukturen weitgehend ohne eigene schriftliche Überlieferung auskamen, wurden sie später in der Erinnerung durch die schriftbasierten Organisationsformen überschrieben.
Starkes lokales Selbstbewusstsein in Frankfurt
Ab dem späten 16. Jahrhundert entwickelte sich die Frankfurter Judenschaft zu einer der größten und bedeutendsten Gemeinden im deutschsprachigen Raum – insbesondere da sie im Gegensatz zu den meisten Reichsstadtgemeinden in der Zeit des Übergangs vom Mittelalter zur Neuzeit keine Vertreibung erfahren musste. Die Geschichte der Gemeinde war dabei stets eng mit der Frankfurter Stadtgeschichte verknüpft. Dies zeigte sich im 17. und 18. Jahrhundert neben zahlreichen Kontakten im Alltag auch durch die Übernahme administrativer Strukturen, die Herausbildung einer Frankfurter jüdischen Tradition sowie eines starken lokalen Selbstbewusstseins, welches seinen Ausdruck fand in der Selbstrepräsentation der Gemeinde gegenüber Magistrat, Kaiser und Aschkenaz. Das Promotionsprojekt von Rahel Blum untersucht daher die Entwicklung jüdischer Selbstorganisation und jüdischen Autonomieverständnisses im Spannungsfeld zwischen kaiserlicher und städtischer Autorität am Beispiel der Frankfurter Gemeinde zwischen 1628 und 1806. Es verortet interne Strukturen und ihre Veränderungen in der Frankfurter Gemeinde unmittelbar in ihrer Beziehung zur Frankfurter Stadtgeschichte und der Entwicklung der reichsstädtischen Administration.
Dieser Blickwinkel auf die jüdische Kulturgeschichte ist typisch für die Frankfurter Judaistik. Dies zeigt sich ganz besonders in einem Projekt unter Leitung von Prof. Rebekka Voß, das im Rahmen des DFG-Schwerpunktprogramms „Übersetzungskulturen der Frühen Neuzeit“ in Kooperation mit dem von Dr. Iris Idelson-Shein (BGU, Beer Sheva) geleiteten ERC-Projekt „Jewish Translation and Cultural Transfer in Early Modern Europe“ durchgeführt wird: In der Frühneuzeit entstanden zahlreiche Übersetzungen europäischer Texte in jüdische Sprachen, die ein fast gänzlich unbearbeitetes Feld der Begegnung von Juden und Christen darstellen. Das Projekt untersucht diese Thematik und betrachtet dabei speziell die Rolle von Konvertiten und Missionaren als Übersetzer. Quellengrundlage sind Übersetzungen ins Jiddische, und im geringeren Maße auch ins Hebräische, die für die pietistische Judenmission im 18. Jahrhundert angefertigt wurden. Fokus der Analyse sind die Mechanismen des christlich-jüdischen Kulturtransfers im frühneuzeitlichen Europa durch diese Übersetzertätigkeit.
App zu Bertha Pappenheim
Zu den Frankfurter judaistischen Projekten, die sich besonders an ein breiteres Publikum wenden, zählt auch die von Rebekka Voß gemeinsam mit der Bremer Künstlerin Elianna Renner entwickelte App „Berta Pappenheim Map“. Das Projekt an der Schnittstelle von Wissenschaft, Kunst und Gesellschaft wurde in Kooperation mit dem Jüdischen Museum Frankfurt durchgeführt. Das Ziel des Projekts ist es, wissenschaftliche Forschung zu der jüdischen Frauenrechtlerin und Sozialaktivistin Bertha Pappenheim (1859 –1936) unter Verwendung künstlerischer Mittel in der Gesellschaft sichtbar zu machen. Bertha Pappenheim steht exemplarisch für die gesellschaftliche und kulturelle Verantwortung, die die Frankfurter jüdischen Bürger*innen traditionell für ihre Stadt übernommen haben. Mit ihrem Engagement in der Frauen- und Sozialarbeit und insbesondere im Kampf gegen Prostitution und Mädchenhandel hat Pappenheim die mäzenatische Tradition und Kultur der Stadt in entscheidender Weise mitgeprägt. Um das Ziel zu erreichen, die wenig bekannte Thematik für ein breiteres Publikum jenseits der Universität zugänglich zu machen, wurde eine Web-App entworfen. Auf dieser mobilen Webseite, die ab Sommer öffentlich und kostenlos zugänglich ist, werden drei Stadtrundgänge durch Bertha Pappenheims Frankfurt angeboten, die unter verschiedenen Themen ihres Wirkens stehen. Die zweisprachige App (deutsch/englisch) bietet einen Audioguide mit Stadtplan. Eine integrierte Navigation führt die Nutzer*innen zu den einzelnen Wegpunkten der Rundgänge. An den Stationen lassen sich multimediale Inhalte (Texte, Bilder, Filme) zum jeweiligen Ort, Personen, Ereignissen und historischen Hintergründen auf dem mobilen Endgerät abrufen.
Diese Beispiele von Forschungsprojekten des Seminars für Judaistik zeigen nicht nur die Breite judaistischer Forschung in Frankfurt, sondern auch die Vernetzung mit anderen nationalen und internationalen Akteuren sowohl an Universitäten als auch in Museen. Frankfurt gehört zu den bekanntesten Standorten judaistischer Forschung in Europa, wozu neben dem Seminar für Judaistik und der Martin-Buber-Professur für jüdische Religionsphilosophie vor allem auch der Sammelschwerpunkt Judaica der Universitätsbibliothek beiträgt. Dass 2020 die Tagung zum 50. Jubiläum des Seminars aufgrund der Corona-Pandemie ausfallen musste, hat international Bedauern hervorgerufen. Umso mehr freuen sich alle Beteiligten auf den Kongress der European Association of Jewish Studies, der 2023 in Frankfurt stattfinden wird.
Elisabeth Hollender ist Professorin für Judaistik am Seminar für Judaistik der Goethe-Universität und Präsidentin der European Association of Jewish Studies.
Dieser Beitrag ist in der Ausgabe 2/2021 (PDF) des UniReport erschienen.