Die Zukunft des Mathematikunterrichts

Vom 29. August bis 2. September 2022 findet am Campus Westend die größte deutschsprachige Tagung für Mathematikdidaktik statt.

Zahlenmauer für die Grundschule (selbst erstellte Abbildung).

Eine Woche lang präsentieren Wissenschaftler*innen Ergebnisse aus der mathematikdidaktischen Forschung und Lehr-Lern-Konzepte für mathematisches Lernen von Schüler*innen sowie für das mathematische und mathematikdidaktische Lernen in den verschiedenen Phasen der Lehrer*innenbildung. Der UniReport sprach mit den Organisatorinnen der Tagung – Prof.in Dr. Susanne Schnell, Prof.in Dr. Rose Vogel und Prof.in Dr. Jessica Hoth – über das Programm der Tagung und über die künftige Ausrichtung des Faches Mathematik.

UniReport: Wo sehen Sie den größten Unterschied zwischen einem Mathematikunterricht von vor 30 Jahren und heute?

Rose Vogel (RV): Früher stand häufig vor allem die Vermittlung von mathematischem Wissen und mathematischen Verfahrensweisen im Vordergrund. Zum Beispiel: Wie wird schriftlich multipliziert? Wie lassen sich Meter in Zentimeter und Millimeter umrechnen? Heute und mit der Einführung der auf nationaler Ebene gültigen Bildungsstandards Anfang der 2000er wird viel mehr Wert auf das dahinterliegende Verständnis, das flexible Rechnen sowie die vielseitigen und adaptiven mathematischen Denk- und Arbeitsweisen gelegt. Dies zeigt sich in der Gestaltung des Mathematikunterrichts. Selbstständiges mathematisches Arbeiten wird durch offene Aufgaben angeregt, die die Lernenden jeweils auf ihrem Niveau bearbeiten können. In einem gemeinsamen Austausch im Unterricht, zum Beispiel in Form einer Rechenkonferenz, werden die verschiedenen Bearbeitungen, die entstanden sind, von den Lernenden präsentiert und diskutiert.

Was genau findet man in den Bildungsstandards und inwiefern geben diese Anregung für die Gestaltung des Mathematikunterrichts in der (Grund-)Schule?

Jessica Hoth (RV): Die Bildungsstandards legen deutschlandweit mathematische Kompetenzen fest, die jeweils bis zu einem bestimmten Punkt in der schulischen Ausbildung erworben werden sollten und dann auch in Vergleichsarbeiten erhoben und evaluiert werden können. In der Mathematik unterteilt man einerseits in die inhaltsbezogenen mathematischen Kompetenzbereiche wie Raum und Form, Zahlen und Operationen, Daten und Zufall, Größen und Messen oder Muster und Strukturen und andererseits in die – mindestens genauso wichtigen – allgemeinen mathematischen Kompetenzen Modellieren, Argumentieren, Kommunizieren, Problemlösen, Darstellen oder das Umgehen mit symbolischen, formalen und technischen Elementen. Die in den Bildungsstandards beschriebenen Kompetenzbereiche werden in den Rahmenplänen der jeweiligen Bundesländer konkretisiert und stellen jeweils die curriculare Grundlage für den Mathematikunterricht.

Warum ist die Vermittlung von prozessbezogenen Kompetenzen so wichtig?

Susanne Schnell (SuS): Aus der Lernforschung wissen wir seit Jahrzehnten, dass beim Lehren und Lernen Wissen nicht einfach wie mit einem Trichter vermittelt werden kann und dass es um mehr als Reiz und Reaktion geht. Stattdessen wird im Sinne des Konstruktivismus neues Wissen auf Grundlage bestehender Vorstellungen und Kenntnisse aufgebaut, weiter ausdifferenziert und situativ angepasst. Als Lehrkräfte müssen wir diesen Prozess begleiten und diesen mit guten Lerngelegenheiten initiieren, die eigentlichen Akteure sind aber die Lernenden selbst. Besondere Bedeutung kommt dabei dem sozialen und damit kommunikativen Austausch mit anderen – Lehrenden und Lernenden – zu. In dieser Interaktion werden individuelle Vorstellungen multimodal über beispielsweise Lautsprache, Gestik und Inskription zum Ausdruck gebracht und mit anderen ausgetauscht sowie mit konventionellen Vereinbarungen zur Mathematik verglichen und weiterentwickelt. Es geht also nicht darum, eine „fertige“ Mathematik beizubringen, sondern sie von den Schüler*innen nacherfinden zu lassen. Die Idee der Ko-Konstruktion mathematischer Ideen im „Tätigsein“ ist Chance und Herausforderung zugleich: Einerseits versuchen wir von den individuellen Kenntnissen und Bedürfnissen jedes*jeder Einzelnen auszugehen, anderseits ist es bei der großen Heterogenität der Schüler*innen auch schwierig, jedem*jeder gerecht zu werden.

Das klingt nach einer großen Aufgabe. Wie bereiten Sie die Studierenden/die angehenden Lehrkräfte hierauf vor?

RV: Die Lehrkräfteausbildung ist in drei Phasen eingeteilt: Die erste Phase, das wissenschaftliche Studium, findet an der Universität statt; die zweite Phase, das Referendariat, findet an den Schulen selbst in Kooperation mit Ausbildungsseminaren statt. Unter der dritten Phase werden die Angebote in der Lehrerfortbildung verstanden. Früher hat diese Dreiteilung dazu geführt, dass man den einzelnen Phasen Theorie und Praxis zugeordnet und diese eher strikt voneinander getrennt hat. Hier hat sich in den letzten Jahrzehnten viel getan: Auch das universitäre Studium ist an der Praxis orientiert und bezieht zum Beispiel Lernendenprodukte, Videoausschnitte aus dem Unterricht oder Aufgaben mit ein. Gleichzeitig geht es uns an der Universität um die Vermittlung der theoretischen Grundlagen und empirischen Forschungsergebnisse, also um eine Durchdringung von fundamentalen Ideen der Mathematik und grundlegenden Prinzipien des mathematischen Lehrens und Lernens.

JH: Für den Umgang mit Heterogenität im Mathematikunterricht eignen sich beispielsweise natürlich-differenzierende Aufgaben. Die Differenzierung geht vom substanziellen mathematischen Kern der Aufgabe aus. Der ganzen Lerngruppe wird ein Lernangebot gemacht, das hinreichend komplex ist und Herangehensweisen auf unterschiedlichen Niveaustufen zulässt. So soll sowohl ein mathematisches Arbeiten auf elementarer Ebene als auch das anspruchsvolle Durchdringen von komplexeren mathematischen Mustern und Strukturen der Aufgabe ermöglicht werden. Sie kennen vielleicht das Aufgabenformat der Zahlenmauern (siehe Abb. 1), wo immer die Werte von zwei nebeneinanderliegenden Steinen addiert und in den darüber liegenden Stein geschrieben werden.

Hieran kann man erstmal einfach das Addieren üben, man kann aber auch Fragen stellen wie :„Mit welchen Werten der vier Steine in der untersten Reihe erreichst du beim obersten Stein die Zahl 10?“ Grundschüler*innen können die Frage durch Ausprobieren beantworten, sie können sich aber auch durch Rückwärtsarbeiten und systematisches Verändern den Strukturen in der Zahlenmauer nähern. Darüber hinaus können sie weiterführende Fragen stellen wie: „Wie viele Zahlenmauern gibt es mit der 10 im obersten Stein? Wie kann ich alle finden und sicher sein, dass ich keine übersehen habe?“ Auf diese Weise durchdringen sie mehr und mehr die Struktur der Zahlenmauer, erkennen Beziehungen zwischen den Zahlen in den verschiedenen Reihen der Zahlenmauer und finden Argumente, die ihre Vermutungen belegen. Und auch dann ist noch Potenzial für ein Weiterarbeiten vorhanden, das auch über die Inhalte der Primarstufe hinausgehen kann: Was wäre, wenn auch Bruchzahlen oder negative Zahlen zugelassen wären? Oder man die Struktur des Pascalschen Dreiecks in der Zahlmauer entdeckt? Solche Aufgabenformate und Fragen nutzen wir in den Veranstaltungen, um mit den Studierenden die Grundprinzipien der Mathematik und ihrer Didaktik zu erarbeiten.

Die Mathematikdidaktik ist ja auch ein Forschungsgebiet. An welchen Themen wird aktuell besonders geforscht?

SuS: Die Mathematikdidaktik ist seit den 80er-Jahren als eine eigene Wissenschaftsdisziplin anerkannt. Natürlich haben wir starke Bezüge zu anderen Disziplinen, nicht nur der Mathematik, sondern auch der Erziehungswissenschaft oder der Psychologie. Das macht die Forschungslandschaft besonders vielfältig.

Aktuell sind natürlich Themen im Fokus, die auch im gesamten Bildungsdiskurs stark diskutiert werden. So wird viel zur Digitalisierung und dem Einsatz digitaler Medien im Mathematikunterricht aller Schulstufen geforscht. Aber auch Forschungsfragen zum mathematischen Lernen, die uns schon längere Zeit bewegen, wie das mathematische Lernen in inklusiven Settings oder die Rolle von Sprache beim Mathematiklernen werden bearbeitet. In Frankfurt kümmern wir uns besonders um die Frage nach einer guten Mathematiklehrkräfteausbildung, mit dem Ziel, erste Schritte im Professionalisierungsprozess anzubahnen, aber auch um die frühen mathematischen Lernprozesse, die bereits im Kindergarten stattfinden.

Gerade in Deutschland gibt es eine sehr aktive Forschungscommunity in der Mathematikdidaktik. Jedes Jahr treffen sich circa 700 Forscher*innen aus dem ganzen deutschsprachigen Raum bei der Jahrestagung der Gesellschaft für Didaktik der Mathematik (GDM). Im Sommer 2022 wird diese in Frankfurt stattfinden.

Größte deutschsprachige Tagung für Mathematikdidaktik

vom 29. August bis 2. September 2022 am Campus Westend

Austausch zwischen ca. 700 Wissenschaftler*innen, Lehrer*innen und Erzieher*innen

• Aktuelle Forschungsansätze in der Mathematikdidaktik
• Innovative Ansätze für den Mathematikunterricht
• Digitalisierung vom Fach her gedacht
• Erzieher*innen- und Lehrer*innentag am 30. August 2022

Weitere Infos unter https://gdm-tagung.de

Diese Jahrestagung der GDM, die von Ihnen und ihrer Arbeitsgruppe Primarstufe am Institut für Didaktik der Mathematik und der Informatik ausgerichtet wird, steht unter dem Motto »Mathematikdidaktiker* innen im Dialog«. Was bedeutet Ihnen das Motto und was erwartet einen auf der Tagung?

JH: Die Jahrestagung der GDM 2022 ist seit zwei Jahren die erste, die wieder in Präsenz stattfinden kann. Zwar gab es dazwischen Online-Tagungen, aber der dabei entstehende Dialog ist ein anderer. Man kann sich viel intensiver austauschen, wenn man sich im gleichen Raum gegenübersitzt. Und gerade dieser tiefgehende wissenschaftliche Diskurs ist besonders wichtig. An der Tagung werden nicht nur Wissenschaftler*innen aus dem ganzen deutschsprachigen Raum teilnehmen, sondern auch Lehrer*innen und zum allerersten Mal auch Erzieher*innen. So wollen wir den Dialog auch zwischen Forschung und Praxis und zwischen allen Phasen mathematischen Lernens und allen darin involvierten Bildungsinstitutionen anregen. Auch Studierende der Goethe-Universität Frankfurt sind herzlich eingeladen und können kostenlos teilnehmen.

Das Motto steht außerdem in Zusammenhang mit dem Leitbild der Goethe-Universität Frankfurt, bei dem der letzte Satz lautet: „Grundlage unseres Denkens und Handelns ist die Wertschätzung von Offenheit und Vielfalt. Daher sucht die Bürgeruniversität den Dialog mit allen gesellschaftlichen Gruppen.“ Dem schließen wir uns an.

Wenn Sie an die große GDM-Tagung Ende August dieses Jahres denken, worauf freuen Sie sich am meisten? Was erwartet einen auf der Tagung?

SuS: Die Tagung bietet ein reichhaltiges Programm aus wissenschaftlichen Vorträgen, Hauptvorträgen, Workshops für Lehrer*innen und Erzieher*innen, aber auch gemütliches Beisammensein beim Eröffnungsabend oder die gute Stimmung beim Gesellschaftsabend, bei dem eine Live-Band die Gäste erfahrungsgemäß für viele Stunden auf die Tanzfläche lockt.

Wir freuen uns sehr, dass wir die Chance haben, allen Teilnehmer*innen unsere Goethe-Universität mit ihren vielen Facetten zu zeigen und sie in die Stadt im Herzen von Europa einzuladen. Und am meisten freuen wir uns auf die vielen Dialoge, die wir führen werden – endlich wieder von Angesicht zu Angesicht, ohne den Bildschirm dazwischen.

Fragen: Victoria Möller, Carolin Fellenz, Julia Seipel: Institut für Didaktik der Mathematik und der Informatik.

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