Wissenschaftspreis für Physikdidaktiker Thomas Wilhelm

Dank der Forschung von Thomas Wilhelm haben Tausende Schüler*innen die Physik zwar nicht lieben, aber doch besser verstehen gelernt. Für seine Forschungen erhält er den mit 5000 Euro dotierten Wissenschaftspreis der Frankfurter Physik 2021.

Thomas Wilhelm war ein guter Physiklehrer. So gut, dass die Universität Würzburg ihn im Jahr 2000 von seiner Stelle am Gymnasium für die Forschung in der Physikdidaktik gewinnen wollte. Aber Wilhelm sagte ohne zu zögern „Nein“. Er liebte seinen Beruf und fühlte sich an seiner Schule wohl. Man lockte ihn nach der Salamitaktik: Er solle zuerst nur für ein halbes Jahr als Vertretung kommen. Währenddessen hielt man ihm seine Stelle an der Schule frei. Aus dem halben Jahr wurde erst ein ganzes und dann viele weitere. Wilhelm promovierte und habilitierte und fand Gefallen an seiner neuen Tätigkeit, die sich seither um die Frage dreht: „Wie erreicht man, dass Schüler*innen im Physikunterricht mehr verstehen?“

Zu dieser Frage hat der Physikdidaktiker so erfolgreich geforscht und publiziert, dass ein Lehrplan und Schulbücher für Physik in Bayern ein Unterrichtskonzept übernommen haben. Damit Physiklehrer*innen auch in anderen Bundesländern die über 60 Unterrichtskonzepte ausprobieren können, hat er im vergangenen Jahr mit zwei Kollegen ein Buch herausgegeben. Es enthält u. a. sein Konzept zur Einführung in die Mechanik in der Sekundarstufe I, sein Konzept für die Mechanik in der Sekundarstufe II, eines zum Modellieren mit Gleichungen, das „Frankfurter Elektronengasmodell“ und ein Konzept zur Auftriebskraft für den Sachunterricht in der Grundschule.

Die Schülerinnen und Schüler aus dem Großraum Frankfurt profitieren vor allem von seiner Forschung am Schülerlabor der Goethe-Universität, das von der Stiftung Giersch finanziert wird. Das „Goethe-Schülerlabor Physik“ hat er nach seinem Ruf an die Goethe-Universität im Jahr 2012 gegründet. Bis 2018 wurde es von der Adolf-Messer-Stiftung finanziert. Seitdem hat die Stiftung Giersch übernommen. Vor der Pandemie empfingen Wilhelm und seine Mitarbeiter* innen dort etwa 3500 Schüler*innen pro Jahr. Aber auch die Biologie-Studierenden der Goethe-Universität, die Physik im Nebenfach studieren, kommen im Praktikum in den Genuss didaktischen Ideenreichtums. Eines seiner Steckenpferde ist der Einsatz von Computern, Tablets und Smartphones im Unterricht. Damit experimentierte er bereits während der Promotion.

Seine eigenen Erfahrungen mit Physikunterricht als Schüler waren unterschiedlich: „Ich weiß, dass mich damals schon genervt hat, wie schlecht der Unterricht mancher Lehrer war. Und ich mir gedacht habe: Das würde ich als Lehrer anders machen.“ Thomas Wilhelm hatte aber auch einen guten Physiklehrer, der ihn letztlich dazu inspirierte, selbst Lehrer zu werden. So studierte er an der Universität Würzburg Mathematik und Physik auf Lehramt an Gymnasien, machte in Würzburg sein Referendariat und nahm seine erste Stelle an.

Bis zu seinem Ruf nach Augsburg spielte Wilhelm immer wieder mit dem Gedanken, an die Schule zurückzukehren. Andererseits erlebte er, dass über die didaktische Forschung mehr Schüler*innen mit einem guten Unterricht erreicht werden konnten. In seiner Promotion zum Mechanik-Unterricht in der Oberstufe entwickelte er ein neues Konzept für die Kinematik und Dynamik (Bewegungslehre), das er mit Lehrer*innen erfolgreich testete. So konnte nachgewiesen werden, dass die Schüler*innen mit dem neuen Unterrichtskonzept Inhalte besser verstanden haben als im herkömmlichen Unterricht.

Alltagsvorstellungen und physikalische Größen

Zu den Stolpersteinen im Physikunterricht gehören die Vorstellungen, die sich im Alltag ergeben. „Zum Beispiel sagen Schüler: Schwere Gegenstände fallen schneller als leichte“, nennt Wilhelm ein typisches Beispiel. „Jeder Physiker sagt: Falsch. Alle Gegenstände fallen gleich schnell. Wer hat jetzt Recht?“ Zu behaupten, die Alltagsvorstellungen seien falsch, hält Wilhelm für überheblich. Denn im Alltag stimmten die Beobachtung der Schüler ja tatsächlich. Der Unterschied ist, dass die Physikerin vom freien Fall von Gegenständen im Vakuum spricht und die Schülerin vom Fall von Gegenständen in Luft. So haben beide recht.

Für Lehrkräfte ist es wichtig, grundlegende Konzepte ihrer Schüler*innen von Größen wie Spannung, Strom oder Kraft zu kennen. Zum Beispiel ist in der Physik die Kraft eine Einwirkung von außen auf einen Gegenstand. Im Verständnis des Schülers ist dagegen die Kraft eine Eigenschaft. Er sagt „Ich habe Kraft“ und spannt den Bizeps an. Und Schüler*innen denken, dass Kraft sich verbraucht; etwa bei einer Kugel, die angestoßen wird, langsamer wird und zur Ruhe kommt. Dieses Konzept von Kraft entspricht in der Physik eher der kinetischen Energie oder dem Impuls.

»Ich kann das nicht« ist ein Mindset

Wilhelm hält es für didaktisch unklug, auf diese Diskrepanzen am Anfang einer neuen Unterrichtseinheit hinzuweisen. Zwar könnte man meinen, „kognitive Konflikte“ zu erzeugen, würde das Interesse für den Unterricht erhöhen. Aber manche Schüler*innen hören heraus: „Du kannst das nicht verstehen“ und geben resigniert auf. In neuerer Forschung, vor allem in den Vereinigten Staaten, untersucht man inzwischen die „Mindsets“ von Schüler*innen. Diejenigen, die überzeugt sind, dass alles durch Begabung festgelegt ist, haben ein „fixed mindset“. Im Gegensatz dazu haben Schüler*innen, die Fähigkeiten für erlernbar halten, ein „growth mindset“. Sie nehmen Herausforderungen als Ansporn für neue Lernerfahrungen.

Interessant ist, dass Forschungen seiner Arbeitsgruppe zufolge zu Beginn des Physikunterrichts im 7. Schuljahr die meisten Schüler*innen mit einem „growth mindset“ beginnen. „Diese Vorstellung ändert sich schon nach einem Jahr drastisch: Viele Schüler glauben nicht mehr, durch Anstrengung in Physik etwas lernen zu können“, bedauert Wilhelm. „Und das muss ja etwas mit dem Physikunterricht zu tun haben.“ Ein sensibler Punkt sei beispielsweise, wie Lehrer*innen auf falsche Antworten reagieren. „Ich habe immer versucht meinen Schülern zu vermitteln, dass sie das noch nicht können, aber lernen werden, wenn sie sich anstrengen.“

Verstehen und Interesse – zwei verschiedene Paar Schuhe

In einer laufenden Kooperations-Studie zusammen mit den Universitäten Darmstadt, Tübingen, Dresden, Wien und Graz wird untersucht, ob das Verständnis und das Interesse in der Elektrizitätslehre gesteigert werden kann. Lehrkräfte sollen in aufeinanderfolgenden Schuljahren mit unterschiedlichen Konzepten das Thema Elektrizität unterrichten. Aus einer früheren Studie ist bereits bekannt, dass Schüler*innen Stromkreise mit dem Konzept des „Frankfurter Elektronengasmodells“ besser verstehen als im traditionellen Unterricht. Das Konzept baut auf alltäglichen Erfahrungen mit dem Luftdruck auf. Das Interesse war aber in beiden Fällen gleich. Deshalb werden die Unterrichtskonzepte in weiteren Durchgängen mit Kontexten verbunden, die das Interesse fördern sollen. Das Ergebnis steht noch aus, weil die Studie durch die Pandemie mehrfach unterbrochen wurde.

„Das Interesse im Physikunterricht anzuheben ist schwer“, weiß Wilhelm. Dennoch wird er nicht müde, seine Bemühungen auf das „Mittelfeld“ der durchschnittlichen Schüler*innen zu richten, bei denen die Art des Unterrichts entscheidet, ob sie Physik verstehen und offenbleiben für neue Lernerfahrungen. Er findet es wichtig, dass jede und jeder in einer hoch technisierten Welt ein gewisses Grundverständnis mitbringt. Auch, um Fake News nicht auf den Leim zu gehen.

Lernen mit der App

Derzeit experimentiert Thomas Wilhelm zusammen mit Kolleg*innen der Universität Würzburg mit dem Konzept des „Flipped Classroom“. Sie kehren das Prinzip um, im Unterricht etwas Neues zu lernen, das anschließend in der Hausaufgabe geübt wird. Stattdessen erhalten die Schüler*innen vor jeder Schulstunde einen Lehrfilm von sechs bis sieben Minuten zum Frankfurter Elektronengasmodell. Dort werden die Inhalte konzentriert und gut aufbereitet mit vielen Animationen präsentiert. Im Unterricht gehen die Lehrer*innen dann auf Fragen ein, üben und vertiefen das Wissen, etwa mithilfe von Experimenten.

Seit 2013 betreut er in der Zeitschrift „Physik in unserer Zeit“ eine Kolumne, in der neue Apps für physikalische Anwendungen vorgestellt werden. So kann man zum Beispiel die internen Sensoren des Handys für Messungen nutzen, oder man nimmt mit der Kamera ein Video einer Bewegung auf und bestimmt mit einer Videoanalyse Geschwindigkeit und Beschleunigung.

Langfristig möchte Thomas Wilhelm mit seiner Forschung erreichen, dass der Physikunterricht ein besseres Verständnis der Grundkonzepte der Physik vermittelt. Und für die Schülerinnen und Schüler wünscht er sich, dass sie sich mehr zutrauen anstatt bei vielen Themen während ihrer Schulzeit die Flinte ins Korn zu werfen. Auch er erinnert sich an frustrierende Momente in seiner Studienzeit, in denen er versucht war aufzugeben. „Ob man durchhält oder nicht, hängt nicht unbedingt mit der Begabung zusammen.“ Deshalb hat seine Arbeitsgruppe für Physik-Erstsemester einen Workshop entwickelt, der ihr „growth mindset“ stärkt und ihnen vermittelt, dass das Gehirn trainierbar ist und Intelligenz und Begabung nicht fix sind. Denn unterstützende Maßnahmen nehmen nur Studierende wahr, die sich zutrauen, die Anforderungen bewältigen zu können. Das Feedback ist sehr positiv.

Anne Hardy

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