„Die Zukunft der Demokratie“ war das Jahresthema der Wisser Fellowships 2024/25. Die beiden Politikwissenschaftler*innen und Postdocs Selma Kropp und Luca Hemmerich haben unter dem Dach der Normativen Ordnungen mit großer Begeisterung geforscht.

„Children’s Rights in the Context of Migration. Navigation the Regime Complex between Strasbourg, Brussels, and Geneva“ lautet das Forschungsprojekt der jungen Politikwissenschaftlerin Dr. Selma Kropp. Im Rahmen ihres Wisser Fellowships greift sie damit gewissermaßen zwei thematische Stränge ihrer bisherigen Forschung auf: zum einen den Blick auf die Arbeit von Bürokrat*innen in internationalen Organisationen, zum anderen die Beschäftigung mit Kinderrechten. „Zum Thema Kinderrechte kam ich im Studium über ein Praktikum bei der Deutschen Ständigen Vertretung bei den Vereinten Nationen. Da hatte ich Gelegenheit, im UN-Sicherheitsrat die Debatten zu Kinderrechtsthemen zu begleiten und darüber zu berichten. Seitdem ist meine Forschung auch darauf fokussiert. Bereits in meiner Masterarbeit hatte ich mir angeschaut, welche Kinderrechtsverletzungen in den Vereinten Nationen hervorgehoben werden und welche weniger Beachtung erfahren. In meiner Dissertation habe ich den Fokus auf die regionale Ebene gelegt: Dabei stand die Frage im Fokus: Wie verlief der Prozess von der Verabschiedung der UN-Kinderkonvention bis hin zur formellen Institutionalisierung auf regionaler Ebene? Nach dem Ende meiner Promotion kam mir die Idee, einen Aspekt, nämlich den Freiheitsentzug von Kindern im Rahmen von Migration, noch genauer zu untersuchen. Dieses Thema ist in europäischen Regionalorganisationen sehr präsent, jedoch gleichzeitig umstritten. Die wichtige Frage dabei ist nun: Welche Möglichkeiten haben Bürokrat*innen, auch strittige Themen wie dieses auf der Agenda zu halten, auch gegen die Interessen einzelner Mitgliedsstaaten?“
Kropp hat in ihrem Forschungsprojekt zwei Mechanismen herausgearbeitet: Zum einen nutzen Bürokrat*innen Überschneidungen von Zuständigkeiten und Mitgliedschaften zwischen Organisationen, also beispielsweise zwischen Europarat und Europäischer Kommission. „Man spielt sich sozusagen den Ball zu, in der Gestaltung von Projekten und Mitteilungen oder auf Konferenzen“, erklärt sie. Zum anderen können kritische Themen in andere Foren ausgelagert werden. Ungefähr alle zehn Jahre erscheint zum Beispiel eine UN-Studie zur Umsetzung von Kinderrechten. An diesen UN-Studien wirken auch Bürokrat*innen aus europäischen Regionalorganisationen mit. „In der letzten Studie aus dem Jahre 2019 wird deutlich: Im Kontext von Migration kann Freiheitsentzug nicht mit der Kinderrechtskonvention in Einklang gebracht werden. Laut Konvention ist Freiheitsentzug nur als letztes Mittel und für die kürzeste angemessene Zeit möglich. Davon kann in Migrationskontexten aber kaum die Rede sein.“ Wie geht Selma Kropp methodisch vor? Im laufenden Projekt liefern vor allem Interviews mit Bürokrat*innen von Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen wichtiges Material. „Meine Fragen sind dabei zunächst offen, weil ich einen Zugang zu Bürokrat*innen finden und ihre Arbeit verstehen möchte.“ Die Interviews werden dann analysiert und auf Wiederholungen von Themen geprüft. „Es geht bei der Forschungsrichtung, in der ich mich bewege, um die Frage, inwiefern Überschneidungen von Organisationen Auswirkungen auf politische Prozesse haben können.“ Der kritische Blick darauf, erklärt sie, stamme aus der kritischen Normenforschung. „Bei Kinderrechten lässt sich gut beobachten, dass Akteure diese erst einmal gut finden, aber wenn es um Details geht, wird es kompliziert. Kontestation um die Details der Umsetzung ist daher nicht verwunderlich.“ An dieser Stelle kommt die Politikwissenschaftlerin auch auf aktuelle Entwicklungen zu sprechen: Der Frust darüber, dass gegenwärtig Menschenrechte von einigen Mitgliedsstaaten grundlegend hinterfragt werden, sei in vielen Interviews spürbar gewesen. „Wenn ganz grundsätzlich infrage gestellt wird, dass Menschen Grundrechte haben, dann bewegt sich der Diskurs in eine besorgniserregende Richtung.“
Auch ihr Kollege Luca Hemmerich ist Politikwissenschaftler mit einem hochaktuellen Forschungsgegenstand: Er forscht zur ökologischen Krise der Gegenwart, genauer: zur ökologischen Ausweitung der Demokratie. Ökologische Fragen, erklärt er, hätten ihn schon früh beschäftigt. „Als Jugendlicher war ich einige Jahre in der Klimabewegung aktiv. In der Forschung habe ich mich mit politischer Theorie beschäftigt, in der Dissertation bin ich dem Begriff des Interesses nachgegangen. In meinem Postdoc-Projekt im Rahmen des Wisser Fellowships wollte ich mich einem anderen Thema widmen und bin gewissermaßen dann zur ökologischen Frage zurückgekehrt.“ Hemmerich untersucht, wie politische Institutionen aussehen können, die „stimmlose“ Gruppen, die bei der demokratischen Entscheidungsfindung noch ausgeschlossen sind, integrieren. „Zukünftige Generationen, also Kinder, aber vor allem die noch nicht Geborenen, und nicht-menschliche Tiere, werden von der ökologischen Krise am stärksten betroffen sein. Doch ihre Stimmen werden nicht gehört, die Demokratie ist an dieser Stelle unvollständig. Wir brauchen aber demokratische Institutionen, um die ökologische Krise zu bewältigen. Die These, nach der nur eine Art von Ökodiktatur für einen schnellen Politikwandel sorgen könne, halte ich für vollkommen unzutreffend.“ Die Frage, mit der sich Hemmerich intensiv beschäftigt, ist die der Repräsentation. Wie können nicht-menschliche Tiere, die nicht im Parlament mitdiskutieren können, überhaupt beteiligt werden? Mit dem etwas sperrigen Begriff „nicht-menschlicher Tiere“ werde unterstrichen, so Hemmerich, dass Menschen auch Tiere sind, und begrifflich eine gewisse Kontinuität betont.
Hemmerich führt weiter aus: „Es gibt Theorien, die eine andere Form von Repräsentation jenseits des klassischen Verständnisses zu entwickeln versuchen. Demnach ist demokratische Repräsentation nicht einfach nur eine Spiegelung derer, die vertreten werden sollen. Es geht vielmehr um eine Tätigkeit, stellvertretend für jemanden zu handeln. Mit Begriffen wie ‚proxy representation‘ soll der Gedanke zum Ausdruck gebracht werden, dass es im Fall von ‚stimmlosen‘ Gruppen Repräsentanten bedarf, die bestimmte Anliegen in Diskussions- und Entscheidungsprozesse einbringen, ohne dass sie von denen, die sie vertreten, zur Rechenschaft gezogen werden können.“ Mangelt es unserer Demokratie an der Zukunftsbezogenheit, ist man zu sehr auf die Gegenwart fixiert? „Ja, die Perspektiven sind stark gegenwarts- und menschenbezogen. Tiere und Ökosysteme sind nicht mit inbegriffen. Sie kommen höchstens instrumentell vor, mit Blick auf ihren Nutzen für den Menschen. Ein Defizit vieler ökologischer Debatten besteht darin, dass zwar viel über konkrete Maßnahmen gesprochen wird, wie über das Aus des Verbrennungsmotors, die CO2-Steuer oder die Einspeisungsvergütung, aber es wird nicht darüber diskutiert, warum wir immer wieder mit ökologischen Problemen konfrontiert werden. Das liegt in der Grundstruktur unserer demokratischen Institutionen begründet. Wie diese verändert werden kann, über die einzelnen Maßnahmen hinweg, muss untersucht werden.“ Als politischer Theoretiker arbeitet Hemmerich zuerst einmal mit systematisch-philosophischer Argumentation, aber immer auch im Rückgriff auf empirische Studien. Es gehe darum, die Grundbegriffe der politischen Landschaft zu hinterfragen: Was bedeutet Demokratie, was Repräsentation? „Meine These, noch einmal auf den Punkt gebracht, lautet: Die ökologische Krise ist nicht nur Folge des Scheiterns bestimmter Maßnahmen, sondern ist in der Grundstruktur unserer demokratischen Institutionen angelegt.“
Beide Early Career Researchers schwärmen am Ende ihrer Wisser Fellowships von den optimalen Arbeitsbedingen bei den Normativen Ordnungen. „Es arbeiten so viele Forschende im Bereich Internationale Beziehungen, das war für meine Arbeit ein sehr fruchtbarer Austausch“, betont Selma Kropp. Und Luca Hemmerich ergänzt: „Auch im Bereich der Politischen Theorie dürfte die Forschungsstärke deutschlandweit wohl einzigartig sein. Ich freue mich sehr darüber, Teil dieser Forschungsgemeinschaft sein zu dürfen.“
Professor Rainer Forst, der das Programm gemeinsam mit Prof. Nicole Deitelhoff ins Leben gerufen hat und leitet, zeigt sich begeistert über die Arbeit der beiden Postdocs. „Wir fanden es dem Andenken Claus Wissers sehr angemessen, ein solches Programm mit jungen, herausragenden Köpfen wie Selma Kropp und Luca Hemmerich zu realisieren. Denn hier liegt der Schlüssel für wissenschaftlichen Fortschritt. Die große internationale Resonanz auf unsere Ausschreibungen belegt das.“
Die Claus Wisser Fellowships an den Normativen Ordnungen, gefördert durch eine großzügige Spende des verstorbenen Claus Wisser und in Kooperation mit der Stiftung Pro Universitate durchgeführt, bringen jährlich zwei herausragende Postdoktorand*innen nach Frankfurt, um über zentrale Fragen der Transformation normativer Ordnungen zu forschen. Jedes Jahr wird ein eigenes Thema gewählt. Verantwortlich für das Programm sind Prof. Rainer Forst und Prof. Nicole Deitelhoff.









