Prof. em. für Neueste Geschichte
Als Historikerin haben Sie sich neben britischer Außenpolitik und der Geschichte des Dritten Reiches insbesondere auf den Parlamentarismus spezialisiert. Was hat Sie dazu bewogen, sich auf dieses Thema zu konzentrieren?
Der Parlamentarismus ist ein zentrales Thema der deutschen und europäischen Geschichte. Deutschland hat eine lange Debatte darüber geführt, wie weit es im Vergleich zu England und Frankreich in Bezug auf die Demokratisierung einen Sonderweg gegangen ist. Die verzögerte Parlamentarisierung im Kaiserreich, die Schwierigkeiten in der Weimarer Republik und schließlich die Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik – all das sind Themen, die sich durch die Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts ziehen. Es ist ein faszinierendes Feld, das viele historische Entwicklungen und Debatten umfasst.
Wie hat sich der Parlamentarismus in Deutschland im Laufe der Jahrzehnte seit Adenauer entwickelt?
Unter dem Einfluss der verschiedenen politischen Parteien und der gesellschaftlichen Entwicklungen hat sich der Parlamentarismus deutlich gewandelt. 1949, in den ersten Jahren der Bundesrepublik, waren viele Abgeordnete noch von der Weimarer Republik geprägt, was sich in Habitus und Sprache widerspiegelte. Als die Grünen in den Bundestag einzogen, brachten sie einen Stilbruch mit. Mit Latzhosen, Turnschuhen, modischen Frisuren, Sonnenblumen und Fraktionspraktiken wie der Rotation waren sie das Gegenmodell zu den bisherigen Abgeordneten und haben einiges verändert. Auch die AfD hat in den letzten Jahren den parlamentarischen Stil verändert, indem sie sich bewusst nicht an etablierte Normen hält. Auch das verändert den Parlamentarismus.
Sehen Sie diese Veränderungen als positive Entwicklungen oder gibt es Aspekte, die Sie kritisch betrachten?
Veränderungen sind ein natürlicher Teil der Gesellschaft. Jede Generation von Parlamentariern muss sich fragen, wie sie sich präsentieren und ihre Aufgaben wahrnehmen will. Das ist Teil des demokratischen Prozesses. Ich würde das weder kritisch noch positiv sehen, sondern als natürlichen Prozess. Es gibt sicherlich Aspekte, die kritisch betrachtet werden können und müssen, wie die zunehmende Polarisierung und die Tendenz zur Blasenbildung in den sozialen Medien. Aber insgesamt sind Veränderungen ein Zeichen für eine lebendige Demokratie.
Sie haben erwähnt, dass sich mit der früheren Bundeskanzlerin Angela Merkel das Parlament in die Medien verlagert hat. Können Sie das näher erläutern?
Während der Amtszeiten von Angela Merkel haben sich sowohl die Medienlandschaft als auch die Art der politischen Kommunikation stark verändert. Das hat aber nichts direkt mit der Person Angela Merkel zu tun. Früher wurden politische Debatten hauptsächlich über Zeitungen, Rundfunk und Fernsehen verfolgt. Mit dem Aufkommen des Internets, der Mobiltelefone und sozialer Medien hat sich die Geschwindigkeit und Reichweite der politischen Kommunikation erhöht. Das führt dazu, dass mehr Akteure an der Diskussion teilnehmen, aber auch, dass die Überlegungszeit und die Qualität der Antworten manchmal leiden.
Wie wirkt sich diese Entwicklung Ihrer Meinung nach auf die Demokratie aus?
Einerseits ermöglicht die Beteiligung von mehr Menschen an der politischen Diskussion eine breitere demokratische Teilhabe. Andererseits führt die Blasenbildung in sozialen Medien dazu, dass verschiedene Meinungen weniger miteinander in Austausch treten. Das ist das größte Problem, weil es die Kontrolle und die Qualität der politischen Debatte beeinträchtigen kann. Es ist eine Entwicklung, mit der wir noch umgehen lernen müssen.
Ein weiterer Trend, den wir in den letzten Jahren beobachten, ist die Personalisierung von Wahlen. Was halten Sie davon?
Die Personalisierung von Wahlen ist kein neues Phänomen. Schon in den frühen Jahren der Bundesrepublik konzentrierte sich viel auf die führenden Persönlichkeiten wie Konrad Adenauer und Kurt Schumacher. Die Personalisierung macht politische Programme anschaulicher und greifbarer für die Wähler. Parteiprogramme liest kaum jemand. Die Personalisierung gehört dazu und versinnbildlicht Programme. Allerdings muss man zwischen der normalen Personalisierung und dem Populismus unterscheiden, wie wir ihn zum Beispiel bei Donald Trump sehen. Letzteres kann problematisch sein, weil es oft mit vereinfachten und polarisierenden Aussagen einhergeht, die sich mit der Person selbst decken.
Glauben Sie, dass unsere Demokratie angesichts der aktuellen Herausforderungen stabil ist?
Ja, ich halte die Diskussion über die Anfälligkeit der Demokratie oft für überzogen. Die Demokratie war schon immer mit Herausforderungen konfrontiert, sei es in den 68er Jahren, bei der Notstandsgesetzgebung oder bei der Nachrüstungsdebatte in den 80er Jahren. Protestbewegungen aus der Bevölkerung heraus setzen die politischen Akteure sehr stark unter Druck. Die Parteien, das Parlament muss mit diesen Herausforderungen umgehen und auf diese gesellschaftlichen Veränderungen Antworten finden. Die Demokratie hat sich dabei aber immer wieder als resilient erwiesen. Natürlich müssen wir wachsam bleiben und die Entwicklungen genau beobachten, aber ich sehe keinen Grund zur Panik.
Sie haben auch zur Geschichte Frankfurts als internationalster Stadt Deutschlands geforscht und vergangenes Jahr das fast 1.000 Seiten starke Standardwerk »Tradition und Wandel: Frankfurt am Main« herausgegeben. Wie sind Sie dazu gekommen?
Ich bin Vorsitzende der Frankfurter Historischen Kommission und war lange Zeit mit dem Projekt einer Gesamtgeschichte Frankfurts befasst. Dieses Projekt war über die Jahre hinweg ins Stocken geraten, und ich habe mich dann entschlossen, es in kompakter Form weiterzuführen. Daraus sind schließlich zwei Bände geworden, für die ich als Herausgeberin zeichne. Insgesamt 28 Autorinnen und Autoren fassen in ihren Aufsätzen 1.200 Jahre Frankfurter Geschichte zusammen. Die beiden Bücher machen mit zahlreichen Fotografien, Landkarten und Gemälden Lust aufs Lesen. Es war ein großes Projekt, auf das ich sehr stolz bin.
Sie sind gebürtige Osnabrückerin, studierten in Münster und Oxford, wohnen in Bad Homburg. Woher kommt die starke Verbindung zu Frankfurt?
Durch die Goethe-Universität. Ich habe hier ab 1990 intensiv und engagiert gelehrt und Doktoranden betreut, die unter anderem zu Frankfurter Geschichte forschten. Das waren schöne Jahre mit wunderbaren Kolleginnen und Kollegen. In den ersten Jahren habe ich außerdem eng mit dem damaligen Leiter des Instituts für Stadtgeschichte zusammengearbeitet, was meine Verbindung zu Frankfurt und der Geschichte Frankfurts verstärkt hat.
Wie würden Sie Ihren Weg in der Wissenschaft beschreiben?
Ich gehöre zu der Generation, in der Frauen in der Wissenschaft noch eine Ausnahme waren. Mein akademischer Weg war nicht immer einfach, vor allem als Frau in einer Männerdomäne. Aber ich hatte das Glück, gute Mentoren zu haben, die mich unterstützten. Mein Doktorvater und mein Habilitationsbetreuer waren beide sehr förderlich für meine Karriere.
Warum haben Sie sich für die Forschung und speziell für Geschichte entschieden?
Schon in der Schule hatte ich eine sehr gute und engagierte Lehrerin für Geschichte. Nach dem Abitur wollte ich Lehrerin werden, aber mein Doktorvater hat mich während des Studiums in seine Forschungsprojekte eingebunden und gefragt, ob ich promovieren möchte. Das hat mich gepackt, und ich habe es nie bereut. Ich habe meine wissenschaftliche Laufbahn immer mit Leidenschaft verfolgt.
Was würden Sie jungen Menschen raten, die heute eine wissenschaftliche Karriere anstreben?
Ich denke, Studierende sollten sich nicht nur auf eine akademische Laufbahn konzentrieren, sondern auch andere Möglichkeiten in Betracht ziehen. Die Zahl der unbefristeten Stellen ist begrenzt, und es kann sinnvoll sein, auch außerhalb der Universität nach beruflichen Perspektiven zu suchen. Man sollte flexibel und offen für verschiedene Karrierewege sein.
Gibt es etwas, das Sie unseren Leserinnen und Lesern mit auf den Weg geben möchten?
Man sollte sich immer wieder bewusst machen, wie wertvoll und wichtig unsere Demokratie ist. Veränderungen und Herausforderungen gehören dazu, aber wir sollten uns nicht entmutigen lassen. Jeder Einzelne kann einen Beitrag leisten, sei es in der Wissenschaft, in der Politik oder im gesellschaftlichen Engagement.
Interview: Heike Jüngst
Zur Person
Parlamentarismus in der Bundesrepublik Deutschland, Tradition und Wandel in Frankfurt, Sitzungsprotokolle der Bundestagsfraktionen: Seit ihrer Pensionierung konzentriert sich Marie-Luise Recker auf das, was sie am liebsten tut – forschen und schreiben. Heute publiziert sie mehr als in ihrer Zeit als Professorin an der Goethe-Universität. Zuletzt erschien eine zweibändige Geschichte der Stadt Frankfurt, die sie als Mitglied und Vorsitzende der Frankfurter Historischen Kommission betreute und die bei Fachleuten und Lesern auf großes Interesse stößt.
Marie-Luise Recker, geboren am 6. Oktober 1945 in Osnabrück, studierte Geschichte und Romanistik in Münster und Oxford. Sie promovierte 1974 und habilitierte sich 1983. Seit 1990 ist sie Professorin für Neueste Geschichte an der Goethe-Universität. 30 Jahre lang lehrte sie am Fachbereich 8 – Philosophie und Geschichtswissenschaften und begeisterte zahlreiche Studierende. Ihre Vorlesungen waren bekannt für ihre Tiefe und Lebendigkeit. Ob es um die politische Geschichte Deutschlands oder Europas im 20. Jahrhundert ging, Marie-Luise Recker verstand es, Generationen von Studierenden in ihren Bann zu ziehen. Neben ihrer wissenschaftlichen Arbeit ist Marie-Luise Recker in verschiedenen Gremien aktiv. Sie war und ist Mitglied der Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien und des Wissenschaftlichen Beirats der Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Darüber hinaus engagiert sie sich in der Stiftung Bundeskanzler- Adenauer-Haus und in der Historischen Kommission für Nassau.
Besonders wichtig sind ihr ihre Arbeiten zur Geschichte des Parlamentarismus in Deutschland. Hier hat sie zahlreiche Bücher und Aufsätze veröffentlicht, die das Verständnis dieses Themas wesentlich erweitert haben. Begonnen hat die Beschäftigung hiermit mit der Herausgabe einer mehrbändigen Reihe zur Geschichte der politischen Rede in Deutschland, mittlerweile sind zahlreiche weitere Publikationen gefolgt. Seit ihrer Pensionierung ist Marie-Luise Recker eine leidenschaftliche Reisende. Ihre Erlebnisse in zahlreichen Ländern und Kulturen bereichern nicht nur ihre persönliche Perspektive, sie beeinflussen auch ihre wissenschaftliche Arbeit