Dame ohne Allüren

Das Vermächtnis der Urenkelin des Medizin-Nobelpreisträgers Paul Ehrlich

Um das Andenken an Paul Ehrlich zu bewahren und fortzuführen, vermachte Elizabeth Brody der Frankfurter Paul Ehrlich-Stiftung die stolze Summe von 300.000 Dollar. Die New Yorker Juristin ist am 9. Juni 2023 im Alter von 91 Jahren in ihrer Wohnung am Central Park verstorben. Obwohl sie Paul Ehrlich nie kennengelernt hatte, fühlte sich Elizabeth Brody ihm familiär tief verbunden. Der brillante Biowissenschaftler, Arzt und Nobelpreisträger war ihr Urgroßvater.

Sie liebte die Familienforschung und legte besonderen Wert darauf, alle noch lebenden Familienmitglieder persönlich kennenzulernen – für Elizabeth »Beth« Brody bedeuteten ihre Reisen in die Vergangenheit mehr, als nur Namen und Daten zu sammeln. Die Geschichte ihrer großen Familie lebendig werden zu lassen, ermöglichte es Beth, Identität und Zugehörigkeit zu finden. »Unsere Mutter hatte eine tiefe Verbindung zu dem ‚Fluss‘ ihrer Familie durch die Geschichte«, sagen ihre beiden Töchter Diane und Evelyn Brody. Die eigenen Wurzeln zu kennen und die Verbindung zu den Menschen dort zu entdecken, sei ein wichtiger Anker im Leben von Beth Brody gewesen. Dass es in dieser Familie große, prominente Vorfahren wie u.a. Paul Ehrlich gegeben hat, machte sie besonders stolz. Und war Antrieb für ihr eigenes intellektuelles Leben.

Vielreisende Spurensucherin

Nachfahren Paul Ehrlichs: von links nach rechts, hinten: Marianne Landau (eine der beiden Töchter von Paul und Hedwig Ehrlich, Elizabeth Brodys Großmutter); Hedwig Ehrlich (geb. Pinkus), Witwe von Paul Ehrlich; Charlotte Schoenberg (Tochter von Marianne Landau und Mutter von Elizabeth). Vorne sitzend: Beatrice Schoenberg (Tochter von Charlotte, Schwester von Elizabeth, Ehename Beatrice Rago) und Elizabeth Schoenberg (Tochter von Charlotte, Schwester von Beatrice, Ehename Elizabeth Brody). Aufnahme von 1948. Foto: privat

Beth wurde am 17. September 1931 als Tochter von Charlotte Landau und Isaac Jacob Schoenberg in Chicago geboren, als ihr Vater ein Rockefeller-Stipendiat für Mathematik an der Universität von Chicago war. Ihre Mutter war die Tochter des renommierten Mathematikers Edmund Landau und die Enkelin des Nobelpreisträgers und Immunologen Paul Ehrlich. Beth Brody war sich sehr wohl bewusst, dass nichts prägender ist als die Familie, die das Schicksal, die Biologie und der Zufall dem eigenen Leben geben. Wie viele jüdische Familien mit Migrationsgeschichte – Paul Ehrlichs Witwe Hedwig floh Ende der 1930er Jahre vor den Nationalsozialisten über die Schweiz in die USA – ist ihre Verwandtschaft über die ganze Welt verstreut. So unternahm Beth Brody, oft in Begleitung ihres Mannes Warren Brody oder auch ihrer Schwester Beatrice, im Laufe ihres Lebens zahlreiche Reisen in all die Länder, die einst die Heimat ihrer europäisch-jüdischen Vorfahren gewesen waren oder in die sie hatten emigrieren müssen: Deutschland, Rumänien, Israel, Schlesien (Polen), die Niederlande, die Schweiz und andere Länder. »Beth ging in den Ferien nie an den Strand. Wir haben sie nie braun gebrannt in Erinnerung«, erzählen die Töchter. »Stattdessen reiste sie entweder mit dem Fahrrad um die Welt oder schloss sich mit ihrem Mann einer von der Universität gesponserten Tour durch eine Stadt oder Region an.« Mit Berlin, wo das Elternhaus ihrer Großeltern und Urgroßeltern stand, fühlte sich Beth Brody besonders verbunden. Aber sie liebte auch die Museen und die Opernaufführungen in den drei Opernhäusern der Stadt. Mit der Wiedervereinigung Deutschlands nach 1989 erhielt die Familie Landau ein Grundstück im Niemandsland östlich der Berliner Mauer am Brandenburger Tor zurück; Beth nutzte einen Teil des Verkaufserlöses, um eine Wohnung am Central Park South zu kaufen, das nach Warrens Tod ihr Zuhause wurde.

Umtriebige Netzwerkerin

Elizabeth Brody, Foto: privat

»Elizabeth Brody war eine unglaublich schnell denkende, sehr flexible und weitsichtige Frau«, erinnert sich Prof. Dr. Jochen Maas, Kuratoriumsvorsitzender der Paul Ehrlich-Stiftung. Eine kleine, zierliche Frau, die alle, die sie kannten, bis ins hohe Alter mit ihrer enormen Beweglichkeit und Klugheit beeindruckte. »Sie gehörte nicht zu den Seniorinnen, die ihre Enkel um Hilfe bitten, wenn es um Smartphones und Computer geht. Im Gegenteil, sie war sehr internetaffin, was ihr bei der Recherche über ihren berühmten Verwandten sehr geholfen hat«, erzählt Dr. Axel Hüntelmann, einer der profiliertesten Paul Ehrlich-Biografen Deutschlands. Hüntelmann lernte Elizabeth Brody vor rund zehn Jahren persönlich kennen. Beth schrieb ihm damals eine E-Mail, um mehr über ihren Urgroßvater zu erfahren. »Sie kennen Paul Ehrlich besser als ich.« Brody und Hüntelmann verband schnell eine enge Freundschaft. »Beth war eine unglaubliche Netzwerkerin, sozial und kulturell engagiert«, erinnert sich der Wissenschaftshistoriker – eine großzügige Philanthropin.

Eigenständige Biografie

Axel Hüntelmann erlebte Beth als eine bis ins hohe Alter blitzgescheite, vielseitig interessierte, ebenso charmante wie durchsetzungsstarke Frau. Sie war sich der Bedeutung ihres Urgroßvaters für Medizin und Forschung stets bewusst – doch Beth Brody führte ihr eigenes, intellektuell reiches und sozial engagiertes Leben jenseits des Schattens der großen Familie Ehrlich. Nach ihrem Studium der Geschichte und Literatur am Radcliffe College heiratete sie den Juristen Warren Brody und zog in New Jersey ihre beiden Töchter Diana und Evelyn groß. Beth Brody unterstützte zahlreiche Wohltätigkeitsorganisationen, darunter die Metropolitan Opera in New York, die Roselle Public Library in New Jersey und den Jewish Communal Fund. Daneben unterrichtete sie als Vertretungslehrerin Geschichte und Englisch. Besonders am Herzen lag Beth, die ein großer Opernfan war, die Förderung begabter Musikstudenten. Gerne finanzierte sie deren Studium und Instrumente, sponserte Konzertauftritte. Ihre große Leidenschaft galt zeitlebens dem Radfahren. So engagierte sie sich schon als junge Frau für den Ausbau des East Coast Greenway, eines Radwegenetzes an der Ostküste der USA. Als ihre beiden Töchter erwachsen waren, studierte Beth Brody Jura. Inspiriert von der Frauenbewegung gründete sie 1972 die Rutgers Law School. Dort war sie neun Jahre lang stellvertretende Dekanin und Studiendekanin, bevor sie sich als Anwältin niederließ und sich schließlich auf das Recht älterer Menschen spezialisierte – oft fuhr sie mit dem Fahrrad zu ihren Mandanten. Kurzum: Beth Brody hatte ihren festen Platz in der Gesellschaft von Roselle, New Jersey und später New York City.

Andenken an Urgroßvater wahren

»Beth Brody war bereits in ihren Sechzigern, als sie neben ihrem ohnehin breiten sozialen Engagement begann, das Leben und Wirken ihres Urgroßvaters Paul Ehrlich genauer zu recherchieren und zu erforschen«, stellt Axel Hüntelmann fest. So entwickelte sich auch ihr Interesse an der Arbeit der Frankfurter Paul Ehrlich-Stiftung. Beth Brody schätzte es sehr, dass die Stiftung mit dem Paul Ehrlich-Preis jedes Jahr Wissenschaftler auszeichnet, die mit ihrer Arbeit in den Lebenswissenschaften einen herausragenden Beitrag für die Gesellschaft leisten. »Dass dieser Preis dem einen oder anderen den Weg zum Nobelpreis geebnet hat, hat Beth besonders gefallen«, erinnert sich Hüntelmann. Sie zeigte sich damit durchaus standesbewusst. Andererseits entsprach es ihrem Wesen und Wirken, Wissenschaftler angemessen gewürdigt zu sehen. Mit ihrem großzügigen finanziellen Vermächtnis stärkt Elizabeth Brody die Arbeit der Stiftung. Der Paul Ehrlich-Preis ist jährlich mit 120.000 Euro dotiert. (hjü)

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