Mit Künstlicher Intelligenz zur richtigen Diagnose
Im Projekt SATURN suchen Ärztinnen und Ärzte gemeinsam mit Forschenden aus der Informatik nach neuen Möglichkeiten, Kranken mit seltenen Leiden zu helfen. Oft bleiben solche Erkrankungen über lange Zeit nicht oder falsch diagnostiziert. Ein intelligentes Diagnoseportal soll Abhilfe schaffen.
Zum Glück sind die meisten Erkrankungen gut bekannt und haben ein mehr oder weniger klares Krankheitsbild. Der Hausarzt oder die Fachärztin können bei der großen Mehrheit ihrer Patienten schnell eine passende Diagnose stellen oder zumindest die notwendigen Untersuchungen in die Wege leiten, um die Krankheit zu identifizieren und dann mit der Therapie zu beginnen. Aber es gibt auch seltene Erkrankungen, die selbst von Spezialisten nur mit Mühe erkannt werden können.

»Diese sogenannten seltenen Erkrankungen sind zum Teil gar nicht so selten«, sagt Michael von Wagner, Ärztlicher Leiter der Stabsstelle Medizinische Informationssysteme und Digitalisierung an der Universitätsmedizin Frankfurt. In Deutschland haben vermutlich rund vier Millionen Menschen eine dieser mehr als 6000 seltenen Erkrankungen. Manche dieser Krankheiten sind keineswegs exotisch und treten durchaus häufiger auf. »Bei der Hepatitis vom Typ C etwa haben bis zu 20 Prozent der Patientinnen und Patienten keine auffälligen Leberwerte, aber einige davon rheumatische Beschwerden«, so von Wagner. »Und bei der Mukoviszidose, im Fachjargon zystische Fibrose genannt, kann es zu sehr unterschiedlichen Verläufen kommen, bei denen verschiedene Organe betroffen sind.«
Ein Hausarzt steht nun als Anlaufstelle für alle möglichen Beschwerden vor dem Problem, dass er diese große Anzahl unterschiedlicher Krankheitsbilder unmöglich alle auf dem Schirm haben kann. Was also tun – vor allem, wenn ein Patient wieder von der Fachärztin zurückkommt und immer noch keine klare Diagnose vorliegt?
»Für viele dieser Erkrankungen gibt es selbst in einem Land wie Deutschland nur wenige Spezialisten, die sich mit dem Krankheitsverlauf und der Diagnose gut auskennen und sie auch weiter erforschen«, erklärt von Wagner. »Deshalb haben wir das Projekt SATURN auf den Weg gebracht, damit Hausärztinnen und Hausärzte die richtigen Spezialisten finden, wenn sich eine Diagnose zu stellen als schwierig erweist.«
Smartes Arztportal
SATURN steht für »Smartes Arztportal für Betroffene mit unklarer Erkrankung«. Das Projekt läuft noch bis Ende 2024 (www.saturn-projekt.de). Weitere Projektpartner neben der Universitätsmedizin Frankfurt sind das Institut für Allgemeinmedizin der Goethe-Universität, das Institut für Medizinische Informatik und Biometrie der Technischen Universität Dresden, das Fraunhofer-Institut für Experimentelles Software Engineering IESE in Kaiserslautern und das Institut für Allgemeinmedizin der Universität zu Köln.
Nun gibt es bereits verschiedene softwaregestützte Diagnosewerkzeuge, die zum Teil auf Künstlicher Intelligenz basieren – also auf dem Einsatz von intelligenten Algorithmen, die mit großen Datenbanken trainiert sind und wichtige Muster in komplexen Krankheitsbildern erkennen können. Diese Diagnosewerkzeuge sind jedoch in der Praxis schwer einsetzbar.
Das liegt im Wesentlichen an zwei Problemen. Das erste besteht in der schwierigen Verfügbarkeit von Spezialisten. Denn manche Systeme schlagen zwar diese oder jene Diagnose vor, verweisen aber zur weiteren Abklärung auf den Rat von Fachleuten verschiedener Gebiete. Diese haben aber während ihrer täglichen Arbeit nur selten Zeit, auf externe Anfragen einzugehen – um dann eventuell doch an einen anderen Fachkollegen verweisen zu müssen. Und die Hausärztinnen und Hausärzte wünschen sich, dass ein derartiges System ihnen möglichst auf Anhieb einen guten Ansprechpartner vermittelt. Meistens haben sie selbst erst nach ihrem üblichen Tagespensum Zeit für eine Recherche nach Experten. Benötigt wird also ein System, das mit möglichst hoher Wahrscheinlichkeit einen Experten vorschlägt, der auch wirklich weiterhelfen kann.
Das zweite Problem besteht darin, dass die gängigen Methoden des Maschinellen Lernens nicht gut zu medizinischen Fragestellungen passen. Denn solche Algorithmen sind für die Verarbeitung großer Datenmengen ausgelegt und gut darin, in diesen Datenmengen wiederkehrende Muster zu erkennen. »In der Medizin ist es aber oft schon hilfreich, wenn man auch nur einen ganz ähnlichen Fall finden kann, der in der Vergangenheit richtig erkannt und behandelt worden ist«, sagt von Wagner.
Im Projekt SATURN wird deshalb eine speziell auf die Medizin zugeschnittene Methode der Künstlichen Intelligenz entwickelt. Sie basiert auf drei verschiedenen Standbeinen. Das erste ist ein regelbasiertes Entscheidungssystem, das unter anderem auf medizinischen Leitlinien und Expertenwissen beruht. Zweitens nutzt SATURN auch fallbasierte Analysen aus einer sogenannten Falldatenbank. Diese enthält zahlreiche, gut dokumentierte medizinische Patientendaten, Symptomatiken und Krankheitsverläufe in anonymisierter Form. Und drittens kommen speziell zugeschnittene Algorithmen des Maschinellen Lernens zum Einsatz, um die Datenbanken zu durchforsten und für die behandelnden Ärztinnen und Ärzte aufzubereiten.
»Am Ende des Projekts soll ein browserbasiertes Portal stehen, in dem man die Symptome und Befunde eines Patienten eingeben kann«, sagt von Wagner. »Dann erstellt das System einen Diagnosevorschlag, bei häufigen Krankheitsbildern werden zusätzlich weitere Maßnahmen vorgeschlagen.« Außerdem wird das System mit dem Versorgungsatlas für Menschen mit seltenen Erkrankungen (SE-ATLAS, www.se-atlas.de) verknüpft, in dem nicht nur Expertinnen und Experten, sondern auch Selbsthilfeorganisationen für seltene Erkrankungen verzeichnet sind.
Fit für den Praxisalltag
»Wir wollen das gesamte System so praxistauglich und patientengerecht wie möglich gestalten«, führt der Mediziner aus, »deshalb haben wir von Anfang an eng mit der Ärzteschaft zusammengearbeitet.« Denn nur, wenn ein solches System gut an die Bedürfnisse und Arbeitsabläufe in den Hausarztpraxen angepasst ist, wird es auch entsprechend genutzt werden.
Wenn ein niedergelassener Arzt also einen schwierigen Fall vor sich hat, den er nicht einordnen kann, dann soll ihn das smarte Arztportal künftig auf mehrere Weisen unterstützen. Zunächst vergleicht das System die Befunde des Patienten mit den Befunden in der Datenbank, die aus klinisch validierten Fällen stammen. Darauf basierend macht es einen Diagnosevorschlag. »Dieser muss noch nicht richtig sein und sollte gegebenenfalls beim Spezialisten abgeklärt werden«, so von Wagner. Anhand des SE-ATLAS gibt das System dem behandelnden Arzt aber auch gleich den passenden Kontakt an die Hand.
Denn auch für erfahrene Ärzte ist es nicht immer einfach und oft zeitaufwendig, für seltene Erkrankungen den passenden Ansprechpartner zu finden. Und auch ein Facharzt kann nicht jede seltene Erkrankung präsent haben, die sich in irgendeiner Form an seinem präferierten Organ manifestiert.
Deshalb verknüpft SATURN die aufbereiteten Ergebnisse aus der Falldatenbank mit entsprechenden Kontakten zu Experten und Selbsthilfeorganisationen. »Es ist genau diese Kombination von Diagnoseunterstützung mit praxisrelevanten Kontaktmöglichkeiten, die von der Ärzteschaft ebenso wie von Patientenvertretungen gewünscht ist, wegen der wir uns einen echten Fortschritt bei der Behandlung seltener Erkrankungen versprechen«, sagt von Wagner. Bislang hat kein Expertensystem diese Erfordernisse so zusammengebracht wie SATURN. Am Ende der Laufzeit soll ein fertig einsetzbares Pilotprojekt stehen, das dann begutachtet wird und schließlich als smartes Arztportal in den alltäglichen Einsatz kommen soll.
Dazu müsste das System im weiteren Verlauf evaluiert und zugelassen werden. Zudem stehen auch die Punkte Cybersicherheit und Datenschutz im Pflichtenheft. »Aber wir sehen hier keine Hindernisse, denn wir haben das System so angelegt, dass all diese Erfordernisse erfüllbar oder sogar jetzt schon erfüllt sind«, erklärt der Mediziner. »Was wir uns für die Zukunft auch vorstellen können, ist eine Integration unseres smarten Arztportals in die Arzt-Software, mit der die niedergelassenen Kolleginnen und Kollegen arbeiten.« Das hätte den Vorteil, dass die Hausärztinnen und Hausärzte nicht eigens den Browser aufrufen und dort die Befunde eintippen müssten. Sondern sie könnten gleich innerhalb ihrer Arzt-Software nach den Ergebnissen schauen. Das würde den Workflow vereinfachen und eine gewisse Zeitersparnis mit sich bringen.
Doch zunächst steht für alle Beteiligten erst einmal die Weiterentwicklung des Portals im Vordergrund. Ende Februar 2024 ist eine erste Testversion online gegangen. Das Projektteam hofft auf gute und kritische Rückmeldungen, um das Portal noch besser an die realen Bedürfnisse anzupassen. »Ich bin sehr optimistisch, dass wir mit diesem Projekt einen wirklichen Fortschritt bei der Diagnostizierung seltener Erkrankungen leisten können«, schließt von Wagner. »Wir haben sehr gute klinische Daten, ein geeignetes Verfahren der Künstlichen Intelligenz sowie eine an den Praxisalltag angepasste Software.« Nicht zuletzt im ländlichen Raum, wo der Zugang zu Spezialisten oft schwierig ist, könnte ein solches System von großer Hilfe sein.
Die Seite DocCheck listet 177 der insgesamt 17 000 bekannten seltenen Erkrankungen auf

Zur Person / Michael von Wagner, Jahrgang 1972, ist promovierter Mediziner und Ärztlicher Leiter der Stabsstelle Medizinische Informationssysteme und Digitalisierung, Stabsstelle des Ärztlichen Direktors und Vorstandsvorsitzenden, in der Rolle des Chief Medical Information Officers (CMIO). Er arbeitet eng mit dem Leiter des Dezernats für Informations- und Kommunikationstechnologie, Jens Schulze, sowie dem Direktor des Instituts für Medizininformatik, Prof. Holger Storf, zusammen und ist Geschäftsführender Direktor des gemein-samen University Center for Digital Healthcare. Er ist medizinisch-fachlich verantwortlich für IT-Systeme und die strategische Weiterentwicklung der Digitalisierung.
michael.wagner@ukffm.de

Der Autor / Dirk Eidemüller, Jahrgang 1975, studierte Physik und als Nebenfach Philosophie in Darmstadt, Heidelberg, Rom und Berlin, schloss mit einem Diplom in Astroteilchenphysik ab und promovierte in Wissenschaftsphilosophie. Er wohnt in Berlin und arbeitet als freier Autor und Wissenschaftspublizist.
dirk.eidemueller@gmx.de
Zur gesamten Ausgabe von Forschung Frankfurt 1/2024: Vom Molekül zum Menschen