Search

»Suspended Life«: Chancen und Risiken »eingefrorenen« Lebens

Röhrchen mit biologischen Proben werden in flüssigen Stickstoff gegeben.

Der Soziologe Thomas Lemke erforscht in seinem ERC-geförderten Projekt »Cryosocieties«, wie mit modernen Technologien des Einfrierens Lebensprozesse verändert und gestaltet werden.

Das Wort „Kryos“ stammt aus dem Altgriechischen und bedeutet so viel wie Kälte oder Eis. Sogenannte Kryotechnologien ermöglichen es heute, menschliches und nichtmenschliches organisches Material durch Verfahren des Kühlens und Gefrierens dauerhaft verfügbar zu machen. Was in früheren Dekaden noch nach Science Fiction geklungen hätte, ist heute bereits machbar: Gewebe und zelluläres Material tiefgefroren zu konservieren, ohne dass es zu einem sichtbaren Verlust an Vitalität kommt.

Wenn biologische Prozesse aufgehalten werden und an einem beliebigen Punkt in der Zukunft wieder reaktiviert werden können, verändert sich aber auch zugleich das bisherige Verständnis von Leben. Prof. Thomas Lemke, Soziologe an der Goethe-Universität, beschäftigt sich schon lange mit Fragen der Humangenetik und der Reproduktionsmedizin an der Schnittstelle zwischen Gesellschaft, Medizin und Technik. Eher zufällig kam ihm die Idee für ein Projekt zur Kryotechnologie: Bei einem Aufenthalt in Sydney stellte ihm ein Kollege aus den Environmental Humanities seine Arbeiten über bedrohte Tierarten vor.

„Mir wurde klar, dass der Aspekt der Konservierung tierischen Materials eine enge Verbindung zu meinen Überlegungen zu den Kryotechnologien hat. Ein weiterer Austausch mit dem deutschen Technikphilosophen Alexander Friedrich von der TU Darmstadt hat dann bei mir die Idee für ein Projekt reifen lassen, in dem es darum gehen soll, empirische Untersuchungen auf dem Feld kryotechnologischer Neuerungen mit der Frage, auf welch spezifische Weise Lebensprozesse kontrolliert werden, zu verbinden“, erzählt Lemke. Ein Antrag beim Europäischen Forschungsrat war erfolgreich, seit April 2019 wird „Cryosocieties“ mit einem ERC Advanced Investigator Grant gefördert.

Teilnehmende Beobachtung und interdisziplinärer Diskurs

Die grundlegende Perspektive von „Cryosocieties“ ist die einer interdisziplinären Wissenschafts- und Technikforschung. Lemke betont die Bedeutung qualitativer Sozialforschung mit ethnografischen Beobachtungen und Interviews: Jenseits von technikfeindlichen und -skeptischen Vorabfestlegungen müsse man zuerst einmal schauen, was in den Einsatzgebieten von Verfahren des Kühlens und Gefrierens überhaupt passiert.

„Mein Team sucht das Gespräch mit den Vertreterinnen und Vertretern der jeweiligen Disziplinen. Denn wir sind ja gewissermaßen Laien hinsichtlich der zum Einsatz kommenden Technologien.“ Lemke ist es wichtig zu betonen, dass die Soziologie sich nicht auf eine sekundäre Rolle des Beobachtens und Bewertens zurückzieht. Es gehe darum, über die eigenen disziplinären Grenzen zu blicken, um gemeinsam mit den anderen beteiligten Expertenkulturen über das Verständnis von Vitalität und Politik im 21. Jahrhundert nachzudenken.

Die Vorstellung, dass nur die Soziologie über das kritische Potenzial verfüge, diesen durchgreifenden technologischen und gesellschaftlichen Wandel zu reflektieren, sei irrig, denn auch in den Biowissenschaften werde, so Lemke, durchaus über die Technikfolgen diskutiert. Das Konzept des „Suspended Life“ („suspendierten Lebens“) soll als begriffliche Klammer für verschiedene Praktiken fungieren; gleichzeitig soll eine Verknüpfung zu gesellschaftlichen Prozessen hergestellt werden: Was hat die Kryotechnologie mit Individualisierungsprozessen zu tun, mit der Antizipation von Zukünften und deren Risiken?

Social Freezing

Lemke und sein Team wollen in drei verschiedenen Forschungsfeldern untersuchen, wie „suspendiertes Leben“ in aktuellen Praktiken der Kryokonservierung hervorgebracht wird. Die Teilprojekte befassen sich mit dem Einfrieren von Nabelschnurblut als Vorbereitung auf spätere regenerative Therapien, mit dem Aufbau von Kryobanken für den Erhalt bedrohter oder bereits ausgestorbener Tierarten sowie mit der Kryokonservierung von Eizellen für Reproduktionszwecke. Für den letztgenannten Kontext des „Social Freezing“, dem Einfrieren menschlicher Eizellen, konnte Lemke die Spanierin Dr. Sara Lafuente-Funes als Mitarbeiterin gewinnen.

Presentation of the ERC research project »Suspended Life: Exploring Cryopreservation Practices in Contemporary Societies« (CRYOSOCIETIES)
Das Projektteam – Prof. Dr. Thomas Lemke, Dr. Veit Braun und Dr. Sara Lafuente – werden zentrale Thesen und Überlegungen des Projektes „CRYOSOCIETIES“ vorstellen. Die Veranstaltung ist Teil der Reihe „100 Jahre Soziologie an der Goethe-Universität“ und findet auf Englisch statt.
18. Juli 2019, 16.15 Uhr, PEG, Raum 1.G107, Campus Westend.

„In Spanien gibt es einen im europäischen Vergleich sehr liberalen rechtlichen Rahmen für die künstliche Befruchtung und Reproduktion. Dadurch ist ein großer Markt entstanden, der natürlich von den kryotechnologischen Innovationen der letzten Jahre maßgeblich profitiert hat“, erklärt die Soziologin. Oozyten (Eizellen) sind deutlich schwieriger einzufrieren als Samenzellen, erst seit wenigen Jahren verfügt man über Techniken der Vitrifizierung, mittels derer eingefrorene und später aufgetaute Eizellen ähnliche klinische Ergebnisse wie „frische“ Eizellen aufweisen.

Lafuente-Funes wird in Spanien im Rahmen einer teilnehmenden Beobachtung in Reproduktionsliniken untersuchen, ob und inwiefern die kryobiologische Konservierung neue Handlungsspielräume für Individuen, Familien und Arbeitskontexte eröffnet. Einerseits verspreche die kryobiologische Konservierung, eine mit dem Ende des vierten Lebensjahrzehnts abnehmende Fruchtbarkeit mit familiären Lebensentwürfen und beruflichen Anforderungen in Einklang zu bringen, sagt Lafuentes- Funes. Andererseits bestehe aber die Gefahr, dass diese „Entnaturalisierung” der Reproduktionsmedizin zur Re-Affirmierung der bestehenden Ungleichheiten beiträgt: in der Verteilung von Reproduktions- und Sorgearbeit innerhalb von Paaren und zwischen den Geschlechtern ebenso wie Karrierechancen und in der Vereinbarkeit von Familie und Beruf.

Die Schwierigkeit, Gleichberechtigung und (heterosexuelle) Partnerschaft in der heutigen Arbeitswelt unter einen Hut zu bringen, drohe abermals auf den Schultern der Frauen abgeladen zu werden – nun allerdings „unterstützt“ von neuen Technologien, die versprechen, biologische Zeitrahmen zu flexibilisieren. Zum anderen aber bestehe die Gefahr, dass diese „Ent-Naturalisierung“ der Reproduktionsmedizin zur Re-Affirmierung bestehender gesellschaftlicher Arbeitsbedingungen und geschlechtlicher Asymmetrien beitrage: die Schwierigkeit, eine Vereinbarkeit von Familie und Beruf herzustellen, werde gewissermaßen als „natürlich“ betrachtet.

Gefrorene Zoos

Kryobanken sind nicht auf menschliche Körpermaterialien beschränkt. Auch Keimzellen, Gewebe oder DNA von Tier- und Pflanzenarten können unter Einsatz moderner Kältetechniken gesammelt und gelagert werden. Dies erscheint gerade hinsichtlich des Erhalts bedrohter oder bereits ausgestorbener Tierarten von großer Bedeutung. Um diesen Kontext von „Cryosocieties“ wird sich Veit Braun kümmern. An die Entwicklung sogenannter „Frozen Zoos“ würden große Erwartungen geknüpft, betont Braun.

Das beschleunigte Artensterben der letzten Jahrzehnte nötige die Menschheit zum Handeln, um die Biodiversität auf dem Planeten zu erhalten. „Wer hält das Eigentum an diesen gefrorenen Zoos? Wer darf damit anschließend etwas machen, werden neue Lebewesen geschaffen? Bedarf es spezifischer Patente? Fragen wie diese müssen geklärt werden, zudem die Akteure aus ganz unterschiedlichen Bereichen stammen“, erklärt der Soziologe; Forschungslabore, Zoos oder Museen hätten sicherlich recht unterschiedliche Interessen, auch verschiedene Vorstellungen davon, was Biologie überhaupt ist.

Biodiversität zu erhalten sei grundsätzlich ein hehres Ziel, sagt Braun. Doch müsse man sich auch die Frage stellen, ob in gleichem Maße auch der Erhalt der Ökosysteme, in dem Tiere und Pflanzen ihren natürlichen Lebensraum finden, auf der Agenda stehe. Im Zentrum der ethnografischen Studie wird das „Frozen-Ark-Projekt“ stehen, das von der Universität Nottingham koordiniert wird. Frozen Ark hat bereits mehr als 48 000 Proben von über 5000 gefährdeten Tierarten gesammelt. In Beobachtungen und Interviews mit den beteiligten Akteuren aus Zoos, Forschung und Naturschutz soll untersucht werden, welche Begriffe von Natur, Leben und Zeitlichkeit in diesem riesigen Projekt verhandelt und mobilisiert werden.

Thomas Lemke freut sich, mit dem ERC Grant über einen vergleichsweise langen Zeitraum, nämlich fünf Jahre, forschen zu können. „Es kann gut sein, dass wir am Ende des Projektes über manche kryobiologischen Aspekte ganz anders als heute denken werden.“ Das Forschungsfeld ist für den Soziologen auch deswegen so interessant, weil es eine „Sphäre des Unabgeschlossenen, des Aufgeschobenen und des Provisorischen“ darstelle, die tief verwoben mit kulturellen Sehnsüchten und Ängsten sei.

Autor: Dirk Frank

Das Projekt Cryosocieties wird mit einem ERC Advanced Investigator Grant des Europäischen Forschungsrats mit 2,5 Millionen Euro gefördert.
http://cryosocieties.eu | @cryosocieties [Twitter]

Dieser Artikel ist in der Ausgabe 4.19 des UniReport erschienen.

Der UniReport 34/2019 steht zum kostenlosen Download bereit unter: www.unireport.info/aktuelle-ausgabe. Außerdem liegt die neue Ausgabe des UniReport an sechs Standorten in „Dispensern“ aus: Campus Westend – Gebäude PA, im Foyer / Treppenaufgang; Hörsaalzentrum, Ladenzeile; Gebäude PEG, Foyer; Gebäude RuW, Foyer; House of Finance, Foyer. Campus Riedberg – Gebäude N, Foyer vor Mensaeingang.

Relevante Artikel

Die Grenzen von Sprache und Vernunft

Die slowenische Philosophin Alenka Ambrož ist auf Einladung des Forschungsschwerpunktes „Democratic Vistas: Reflections on the Atlantic World“ Fellow am Forschungskolleg

Es gibt nicht nur die „eine“ Zukunft

Julia Schubert und Steven Gonzalez forschen als Postdocs im interdisziplinären Graduiertenkolleg „Fixing Futures“ und fragen: Was machen Zukunftsvisionen mit dem

Der unversöhnte Theoriegeist

In „Der Philosoph: Habermas und wir“ von Philipp Felsch verschränken sich Zeit- und Geistesgeschichte in der Figur eines großen Frankfurter

Öffentliche Veranstaltungen

You cannot copy content of this page