Der supraleitende Beschleuniger in Darmstadt
In einer thermionischen Elektronenquelle werden aus einer heißen Metallplatte unter Hochspannung die Elektronen gelöst.
Am Teilchenbeschleuniger in Darmstadt werden die extremen Bedingungen unseres Universums im Labor erforscht. Dabei gelang es den Physikerinnen und Physikern, eine Technologie zu entwickeln, die Energie zur Teilchenbeschleunigung wiederverwendet und einspart. Der Teilchenbeschleuniger ist eingebunden in das Clusterprojekt ELEMENTS, das gemeinsam von der Goethe-Universität Frankfurt und der TU Darmstadt geleitet wird.
Geht man über den Campus Stadtmitte der Technischen Universität Darmstadt, so beeindruckt das Institut für Kernphysik auf den ersten Blick wenig. Ein grauer Siebzigerjahre-Bau, Waschbeton, viele Fenster. Drinnen Linoleumböden und Reihen von identischen Türen. Hinter einer dieser Türen verbirgt sich jedoch ein beeindruckender Raum mit vielen Monitoren und Steuerpulten, deren zahllose Lämpchen und Schalter an einen Science-Fiction-Film aus dem vergangenen Jahrhundert erinnern. Es ist der Kontrollraum und zugleich der Eingang einer riesigen Anlage im Keller des Instituts. Dorthin geht es eine Treppe hinunter, nach der man sich durch eine 15 Tonnen schwere Betontür wagen muss – und mit einem imposanten Anblick belohnt wird: eine große Halle voller technischer Gerätschaften, Edelstahlrohre und Kabel. Hier steht der »Superconducting Darmstadt Linear Accelerator«, kurz S-DALINAC, einst Europas erster supraleitender rezirkulierender Linearbeschleuniger.
1991 wurde er in Betrieb genommen, seither arbeiten vor allem junge Forschende kontinuierlich daran, ihn weiterzuentwickeln. So ist erst kürzlich ein phänomenaler Durchbruch in der Beschleunigerphysik gelungen: die Wiederverwendung zuvor eingesetzter Energie durch eine Mehrfachnutzung des Hauptbeschleunigers. Institutsleiter Norbert Pietralla erläutert: »Mit diesem mehrstufigen Energierückgewinnungsmodus wird es möglich, riesige Mengen an Energie zu sparen. Normalerweise nehmen weit unter 1 Prozent der beschleunigten Elektronen an wissenschaftlich interessanten Reaktionen teil, den Rest schmeißen wir praktisch weg, zusammen mit der Energie, die sie tragen. Durch die neue Technologie hingegen kann diese Energie durch Abbremsen der Teilchen wieder genutzt werden, ähnlich wie in einem Auto mit Hybridantrieb.« Das hatte sich der gebürtige Rheinländer nicht träumen lassen, als er 2006 seine Stelle an der TU Darmstadt antrat.
AUF DEN PUNKT GEBRACHT
- Im supraleitenden Beschleuniger S-DALINAC werden Elektronen bis fast auf Lichtgeschwindigkeit beschleunigt.
- Die Elektronen können Atomkerne spalten, deren Fragmente Rückschlüsse auf die Entstehungsweise schwerer Elemente im Universum zulassen.
- Nur ein kleiner Teil der Elektronen wird für Experimente genutzt. Die übrigen Elektronen werden so in den Beschleuniger zurückgeführt, dass ihre Energie weiter genutzt werden kann.
Ein Quantum Glück
Bereits während seiner Doktorarbeit tüftelte Pietralla am Darmstädter Beschleuniger. Damals studierte er in Köln und widmete sich der Streuung von Photonen an Atomkernen, also der Ablenkung der Bahn eines dieser Lichtteilchen durch einen Kern. Dies ist möglich, weil sich Licht nicht nur wie eine Welle verhält, sondern auch wie ein Teilchenstrom. »Das war so ein richtiges Nischenthema – dazu hat zu der Zeit kaum jemand was gemacht«, erinnert sich Pietralla. Diese Nische sollte für ihn der Schlüssel zum Erfolg werden. Als er einige Jahre später auf einer Konferenz in den USA mitbekam, dass an der Duke University ein millionenschwerer Laser stand, der aufgrund fehlender Finanzierung nicht seine ursprüngliche Bestimmung in der militärischen Forschung erfüllen konnte, packte er die Gelegenheit beim Schopfe. »Ich war ja nur so ein kleiner Postdoc, und auf einmal haben die da dieses Riesending und wissen nicht, was sie damit machen sollen. Das muss man sich mal vorstellen!« Mit seiner Expertise rund um Photonen durfte Pietralla seine Experimentidee realisieren. Dabei gelang ihm die erste sogenannte Kernresonanzfluoreszenz-Reaktion mit einem Gammastrahl einer bestimmten Wellenlänge (monochromatischer Gammastrahl). Bei der Kernresonanzfluoreszenz nimmt ein Atomkern ein (Gammastrahlen-)Photon auf und gibt daraufhin ein anderes Photon wieder ab. Das Verfahren wird seither vielfach genutzt, um Eigenschaften von Atomkernen zu bestimmen, und konnte Antworten auf lange ungeklärte Fragen geben. Die Community war in heller Aufregung, und Pietrallas wissenschaftlichem Aufstieg stand nichts mehr im Wege. »Das war der schönste Moment in meiner Karriere«, stellt er fest.
Das Konzept des Energierückgewinnenden Linearbeschleunigers (engl. Energy Recovery Linac) gelang am S-DALINAC bereits 2017 zum ersten Mal in Deutschland. Dabei wird der Elektronenstrahl zurück in den Hauptbeschleuniger geführt, wo er durch ein präzises Abpassen des richtigen Zeitpunkts nach der wissenschaftlichen Nutzung wieder abgebremst wird. Dieser Vorgang kann seit 2021 bis zu dreimal wiederholt werden, indem die Elektronen an einem definierten Zeitpunkt und Ort ihre Energie wieder an das elektromagnetische Feld des Beschleunigers abgeben. So wird die Energieeffizienz des ganzen Systems erhöht.
Schweren Elementen auf der Spur
Heute konzentriert sich Pietrallas Arbeit beim Clusterprojekt ELEMENTS, einem Forschungsverbund von Goethe-Universität, TU Darmstadt, GSI Helmholtzzentrum und Universität Gießen, auf die Entstehung schwerer Elemente wie Gold und Platin. Im Universum entstehen diese nur unter extremen Bedingungen, etwa der Kollision von Neutronensternen. Bei solchen Kollisionen können Neutronen in großen Mengen frei umherschwirren. Unter diesen Bedingungen können sehr schwere Atomkerne entstehen, indem sie Neutronen einfangen (sogenannter r-Prozess). Es werden große Mengen an neutronenreicher Materie freigesetzt. Diese Materie ist instabil und unterliegt schnellen Kernspaltungs- und Beta-Zerfallsprozessen, bei denen die kurzlebigen radioaktiven Atomkerne anschließend rasch zu stabilen Atomkernen wie Gold oder Blei oder zu langlebigen Formen etwa von Uran zerfallen. Die Entdeckung von Gravitationswellen und Lichtsignalen zweier kollidierender Neutronensterne im Jahr 2017 untermauert diese Vorstellung. Theorien von ELEMENTS-Wissenschaftlern betreffen präzisere Analysen der astronomischen Beobachtungen und legen eine große Bedeutung der wenig verstandenen Spaltprozesse superschwerer Kerne nahe. Die Aufgabe des Teams am S-DALINAC ist es nun, diese Erwartungen mit Experimenten zu untermauern.
Als »Axt« für die Spaltung von Kernen nutzen die Forscherinnen und Forscher Elektronen, denn diese sind als Elementarteilchen »stabil« und nicht weiter teilbar. Die Elektronen werden mit nahezu Lichtgeschwindigkeit (knapp 300 000 Meter pro Sekunde) etwa auf Plutonium-Atomkerne geschossen. Die dabei entstehenden Fragmente liefern aufschlussreiche Informationen über die Verteilung von Masse im r-Prozess. »Mit diesen Hochpräzisionsmessungen kommen wir unserem Verständnis der Entstehung von schweren Elementen ein Stückchen näher«, sagt Pietralla. »Wie die exotischen Kerne im Inneren von Neutronensternen aussehen, dabei helfen uns die Theoretikerinnen und Theoretiker bei ELEMENTS mit ihren Modellen auf die Sprünge.«
Die Reise der Elektronen
Bis die beschleunigten Elektronen bei den schweren Kernen ankommen, müssen sie einen weiten Weg zurücklegen. Der beginnt in einer kleinen Kammer, wo die winzigen Teilchen unter Hochspannung von einer sogenannten Quelle erzeugt werden: Aus einem Heizfaden werden kontinuierlich Elektronen gelöst, die hier auf etwa 74 Prozent der Lichtgeschwindigkeit vorbeschleunigt werden. Um sie effektiv nutzen zu können, wird der Strahl in einzelne Abschnitte getrennt und schließlich komprimiert. Diese Elektronenpäckchen treten in den supraleitenden Injektorbeschleuniger ein. Die dort verbauten Hohlraumresonatoren, sogenannte Kavitäten, werden in einem Bad aus flüssigem Helium bei nur 2 °K betrieben. Das entspricht mit –271 °C ungefähr der Eiseskälte im interstellaren Raum. Hier erreicht der Strahl 99 Prozent der Lichtgeschwindigkeit. In einer Art Weiche kann der Elektronenstrahl hier bereits zu einem ersten Experiment gelenkt werden. Alternativ werden die Elektronen in den 15 Meter langen Hauptbeschleuniger gelenkt, wo sie weitere acht Kavitäten passieren. Dort nehmen sie durch elektromagnetische Mikrowellenfelder weiter Fahrt auf.
Danach gibt es wieder eine Weiche: Entweder werden die Elektronen über einen Magneten direkt in die benachbarte Experimentierhalle geleitet, oder sie werden Teil des weltweit einzigartigen Energierückgewinnungsmodus (siehe Kasten). Schließlich geht es mit 99,999 Prozent der Lichtgeschwindigkeit über weitere Stationen, die die Qualität des Strahls optimieren, zu den Experimenten. Diese findet man in einem Labyrinth aus Metall und Beton, Stapel von Blei dienen zur Abschirmung, einige Aufbauten ragen mehrere Meter in die Höhe. Hier stehen auch die sogenannten Spektrometer, mit denen die Fragmente der Kernspaltungsexperimente gemessen werden. In naher Zukunft sollen hochsensible Detektoren dazukommen, mit denen die Forschenden bei ELEMENTS die Struktur schwerer Atomkerne noch genauer entschlüsseln können.
Blick in die Beschleunigerhalle. Mithilfe der Präparationssektion (vorne rechts) werden die Elektronenpakete vorbereitet und im Injektorbeschleuniger (hinten rechts) vorbeschleunigt, um im Hauptbeschleuniger (links) auf nahezu Lichtgeschwindigkeit gebracht zu werden.
Zukunftsweisende Technik
Die erfolgreiche Umsetzung des Energierückgewinnungsmodus wurde Anfang 2023 im Fachjournal Nature Physics veröffentlicht. Damit ebnet die Forschung am S-DALINAC den Weg für zukunftsweisende Vorhaben. So könnte mit dieser Technologie beispielsweise am CERN der seit Langem diskutierte »Large Hadron-Electron Collider« endlich realisiert werden. Bislang wäre hierfür ein Stromverbrauch im zweistelligen Gigawatt-Bereich vonnöten gewesen, was der Leistung mehrerer Kernkraftwerke entspricht. Durch die Darmstädter Technologie wird davon nur noch ein Bruchteil benötigt, womit das Vorhaben realistisch wird. Auch die ELEMENTS-Experimente an der GSI werden von den Fortschritten profitieren: Mit dem Bau von DICE (»Darmstadt Individually Circulating Compact ERL«) soll die nächste Generation des relativ kleinkalibrigen Linearbeschleunigers verwirklicht werden. Wenn es soweit ist, geht der mehr als 30 Jahre alte S-DALINAC in Rente. Bis dahin heißt es weiter: »Klein, aber oho!«
Zur Person
Norbert Pietralla, Jahrgang 1967, ist Kernspektroskopiker und Beschleunigerwissenschaftler. Er studierte Physik an der Universität zu Köln, war Postdoc an der Yale University und Professor für Kernphysik an der State University of New York sowie an der Universität zu Köln. Seit 2006 ist er ordentlicher Professor an der Technischen Universität Darmstadt und seit 2008 Direktor des dortigen Instituts für Kernphysik. Für seine Arbeiten zur Kernresonanzfluoreszenz erhielt er Ehrendoktorwürden der Polytechnischen Universität in Bukarest sowie der Sofioter Universität Hl. Kliment Ohridski. Seit 2021 ist er Co-Sprecher des Clusterprojekts ELEMENTS, eines Forschungsverbunds von Goethe-Universität, TU Darmstadt, JLU Gießen und GSI Helmholtzzentrum für Schwerionenforschung.
Die Autorin:
Phyllis Mania, Jahrgang 1988, studierte Psychologie und Kognitive Neurowissenschaften in Hamburg und Maastricht. Nach ihrer Promotion arbeitete sie unter anderem als freie Autorin. Sie ist als Referentin für Wissenschaftskommunikation im Clusterprojekt ELEMENTS an der Goethe-Universität Frankfurt tätig.