Im Corona-Jahr 2020 ist uns ein Begriff immer wieder begegnet: Preprints. Inwieweit sich diese wissenschaftlichen Vorabveröffentlichungen in der Krise bewährt haben, erläutert Biochemie-Professor Ivan Dikic, der selbst zu Covid-19 forscht.
Etwa zwei bis vier Manuskripte erhält Dikic wöchentlich zur Begutachtung. Zu Beginn der Pandemie waren die Arbeiten noch kurz, mit einer Kernbotschaft, aber seit Juni sind sie umfangreicher, basieren auf mehr Daten und sind von mehr Autoren verfasst. Dikic begrüßt das. Für den Begutachtungsprozess bedeutet es aber, dass er öfter weitere Experten aus seiner Arbeitsgruppe hinzuziehen muss, die sich mit Spezialfragen auskennen. Auch das nimmt Zeit in Anspruch, so dass er pro Gutachten etwa ein bis drei Stunden rechnen muss.
Um Daten schon vor der Begutachtung für andere Arbeitsgruppen verfügbar zu machen, erscheinen immer mehr Arbeiten auf „Preprint-Servern“. Diese Praxis hat sich vor fast 30 Jahren in der Physik mit dem ArXiv-Server etabliert. In der biomedizinischen Forschung gibt es Preprint-Server erst seit der Ebola Epidemie, die von 2013 bis 2016 in Westafrika grassierte. 2015 erlaubte das internationale Komitee der Herausgeber Medizinischer Fachzeitschriften (ICMJE) Wissenschaftlern erstmals, in Krisenzeiten, die eine massive Bedrohung für die öffentliche Gesundheit darstellen, Daten vorab zu veröffentlichen.
Seit Beginn der Corona-Pandemie werden die beiden beliebtesten Preprint-Server für die biomedizinischen Forschung, medRxiv und bioRxiv, nun mit Publikationen überschwemmt. Im Mai 2020 waren auf beiden Servern zusammen bereits über 3000 Publikationen zu Covid-19, inzwischen hat sich die Zahl mehr als verdreifacht (9644, Stand 16. Oktober 2020). Das hat dazu geführt, dass die Betreiber der Preprint-Server ihre Vorauswahl verschärfen müssen. “We’ve seen some crazy claims and predictions about things that might treat COVID-19,” sagte Richard Sever, Mitbegründer beider Preprint-Server, im Mai der Fachzeitschrift „nature“. bioRxiv akzeptiert keine Publikationen mehr, deren Vorhersagen lediglich auf Computersimulationen beruhen, weil diese sich häufig als zu spekulativ erweisen. Auch die meisten Betreiber der aktuell 44 Preprint Server treffen vorab eine Auswahl.
Bei BioRxiv und medRxiv überprüfen zunächst interne Mitarbeiter die eingehenden Manuskripte auf Plagiate und Vollständigkeit. Dann prüfen Freiwillige aus der Forschung oder Spezialisten aus dem Gesundheitswesen, ob die Inhalte wissenschaftlichen Ansprüchen genügen und ob sie Schaden anrichten können, etwa, indem sie behaupten, Rauchen sei unschädlich. Bei bioRxiv ist dieser Prozess innerhalb von 48 Stunden abgeschlossen. Bei medRxiv dauert es etwa vier bis fünf Tage, weil die Inhalte dieses Servers für Entscheidungen in der Gesundheitsversorgung relevanter sind.
Die freiwilligen Gutachter achten außerdem auf Publikationen, die Öl in das Feuer der Verschwörungstheoretiker gießen könnten. So gab es auf bioRvix einen Preprint, der eine Ähnlichkeit zwischen dem HI-Virus und SARS-CoV-2 behauptete und zu falschen Schlüssen über die Herkunft der Pandemie hätte führen können. Experten bemängelten sofort die Schwächen der Studie, worauf sie entfernt wurde.
Ivan Dikic hält die Vorab-Publikation auf Preprint-Servern grundsätzlich für positiv, weil sie die Forschung beschleunigt. Seiner Meinung nach müssten aber verbindliche Regeln für die Aktualisierung von Manuskripten und die Zitierweise von Preprints geschaffen werden. Wissenschaftler können derzeit laufend neue, durch mehr Daten gesicherte Versionen ihrer Arbeiten auf den Servern veröffentlichen. In aktualisierten Versionen verwenden die Autoren meist auch Daten, die von anderen Arbeitsgruppen vorab veröffentlicht wurden. Bisher ist es aber weder verpflichtend, die überarbeiteten Passagen mit Datum hervorzuheben, noch die Urheber von anderen Preprints zu zitieren, die mit eingeflossen sind. „Es kommt vor, dass Forscher mit Hinweis auf die allererste Version ihres Manuskripts Prioritäten für sich beanspruchen, die ihnen nicht zustehen, weil die Datenlage damals noch zu dünn war und erst mithilfe der Ergebnisse anderer Gruppen erhärtet werden konnte“, weiß Dikic aus eigener Erfahrung.
Zunehmend nutzen auch Journalisten die Daten von Preprint-Servern für ihre Berichterstattung, und Politiker leiten daraus Entscheidungen für öffentliche Gesundheitsmaßnahmen ab. Dikic rät davon dringend ab: „Daten auf Preprint-Servern enthalten oft starke Aussagen und Schlussfolgerungen, die aus Sicht der Gutachter nicht durch die Daten gestützt werden“, sagt er. Das führt oft zu Verwirrung. Deshalb rät er biomedizinischen Laien, sich unbedingt mit Experten aus dem eigenen Land zu besprechen, bevor sie aus Preprint-Daten Schlüsse ziehen. „Sonst haben wir ein fürchterliches Durcheinander in der Berichterstattung und bei politischen Entscheidungen.“
Seit dem Ausbruch der Corona-Pandemie hat sich der Begutachtungsprozess bei Fachzeitschriften ohnehin beschleunigt. Laut einer Studie, die im Sommer an der Radboud Univerity in Nijmegen mit 14 Fachzeitschriften durchgeführt wurde, ist die durchschnittliche Begutachtungszeit von 117 auf 60 Tage zurückgegangen. Dikic sagt, das sei hauptsächlich darauf zurückzuführen, dass die Gutachter die Dringlichkeit sehen. Die Herausgeber hätten betont, dass der Zeitdruck nicht zu Lasten der Qualität gehen dürfte. Zusätzlich ist auf Initiative von Herausgebern und Wissenschaftlern eine neue Plattform gegründet worden, die „Outbreak Science Rapid PREreview“. Dort können Forscher Ergebnisse, die für die Kontrolle der Pandemie wichtig sind, zur beschleunigten Begutachtung einreichen.Aus der Sicht von Ivan Dikic hat die Pandemie Forscher dazu motiviert, Ergebnisse offener und schneller zu teilen. Infolgedessen seien in den letzten drei Monaten ausgezeichnete Arbeiten erschienen, die zeigen, dass Forscher die Fragestellungen zu SARS-COV-2 mithilfe moderner Technologien auf einer viel tieferen Ebene angehen als zu Beginn der Pandemie. „Wenn die Regierungen ebenso gut zusammengearbeitet hätten, wäre uns Vieles erspart geblieben“, sagt Dikic. „Rund um den Globus haben Forscherinnen und Forscher gezeigt, dass es während einer Gesundheitskrise keine Grenzen gibt.“
Anne Hardy
Dieser Artikel ist in der Ausgabe 4/2020 des Mitarbeitermagazins GoetheSpektrum erschienen.