Bei Kabarettisten und Comedians sind Dialekte beliebt, laden sie doch zu vielfältigen Spielereien und Neckereien über regionale Besonderheiten ein. An Büchern über die vielen Mundarten des Deutschen mangelt es auch nicht gerade, woran auch der Tourismus seinen Anteil haben könnte. Aber darin werden primär die Besonderheiten der Lexik und der Aussprache behandelt, also die sichtbaren bzw. hörbaren Eigenschaften der Sprache, nicht jedoch die unsichtbaren, weil abstrakten Eigenschaften des grammatischen Systems, betont Günther Grewendorf, emeritierter Professor der Goethe-Universität. Der Linguist hat sich früher eher in den theoretischen Gefilden seiner Disziplin aufgehalten, gerade hat er noch ein Buch über Noam Chomsky herausgeben. Aber ein Buch über die hochinteressanten strukturellen Eigenschaften des Bairischen, das auch für linguistische Laien verständlich ist, wollte er immer schon schreiben. Mit dem Bairischen verbindet ihn eine innige Beziehung, hat er doch Kindheit und Jugend in Bad Reichenhall verbracht und später dann nach dem Umzug in die Metropole seine Bairisch-Kompetenz mit der Münchener Variante erweitert. Grewendorf liebt sein Bairisch, aber ist durchaus auch anderen Dialekten wie dem Hessischen zugetan – „Kabarettisten wie Matthias Beltz und Bodo Bach sind großartig, aber zu diesem Dialekt habe ich selber nie geforscht.“ Wie steht es aber um das Image des Bairischen? „Eigentlich ganz gut, aber das liegt sicherlich nicht an dem Dialekt selbst, sondern auch an der cleveren Vermarktung Bayerns“, mutmaßt Grewendorf. Bayern gelte nicht zuletzt wegen seiner touristischen Klischeebilder als idyllisch, als Land des Brauchtums. Das Bild des manchmal etwas ruppigen, aber insgesamt sehr charmanten Bajuwaren sei aber auch ein mediales Produkt. „Die grammatikalischen Eigenschaften des Bairischen haben sicherlich kaum dazu beigetragen“, lacht Grewendorf. Der Respekt, aber auch die Zuneigung, die man dem Bairischen gegenüber zeige, sei bei vielen anderen Dialekten eher weniger vorhanden . Grewendorf hat es immer schon gestört, dass Dialekte oft wie „Abweichungen von Standardsprachen“ betrachtet und mit einem Bildungsdefizit assoziiert werden; Sprecher*innen einer Mundart unterstelle man oft, dass diese „noch nicht mal richtig Deutsch können“. Dabei seien Dialekte eigene Sprachsysteme mit hochinteressanten Eigenschaften – die zudem in der Standardsprache gar nicht vorhanden sind!
Von wegen: kinderleicht!
Der Linguist findet es auch nach vielen Jahrzehnten der wissenschaftlichen Beschäftigung mit sprachlichen Phänomenen nach wie vor sehr erstaunlich, wie Kinder ein so kompliziertes und komplexes System wie die Grammatik einer Sprache in wenigen Jahren und ganz unabhängig von der individuellen Intelligenz mühelos erwerben, obwohl sie von ihren Eltern oder anderen Bezugspersonen oft mit einem defizitären oder unvollständigen sprachlichen Input konfrontiert sind. Man muss daher annehmen, dass Menschen mit einer gewissen Sprachfähigkeit bereits auf die Welt kommen. Die abstrakten universellen Prinzipien der Sprachfähigkeit, die genetisch determiniert sind, müssen natürlich Optionen zulassen, sonst würden ja alle Menschen die gleiche Sprache sprechen.“ Grewendorf macht dies an einem Beispiel deutlich: Angenommen ein universelles Prinzip der Sprachfähigkeit besagt, dass jeder Satz ein Subjekt hat. Die alternativen Optionen, zwischen denen das Kind aufgrund des sprachlichen Inputs zu wählen hat, bestehen dann darin, dass dieses Subjekt durch ein Wort lexikalisch realisiert wird wie etwa im deutschen ich spreche oder ob es unausgesprochen bleibt wie etwa im Italienischen parlo. Sind die in den universellen Prinzipien enthaltenen Optionen fixiert, resultiert eine einzelsprachliche Grammatik. Dieser Prozess des Erstspracherwerbs ist allerdings nur in einer bestimmten Lebensphase möglich, die als „kritische Erwerbsphase“ bezeichnet wird und in der Regel mit dem Einsetzen der Pubertät endet. Grewendorf weist darauf hin, dass angeborene universelle Prinzipien und deren Optionen auch beim Erwerb des visuellen Systems, also der Fähigkeit, dreidimensional zu sehen, eine Rolle spielen und dass es auch hier eine kritische Erwerbsphase gibt, die allerdings sehr viel früher endet als beim Spracherwerb.
Wo kommt bloß das st beim obwoist her?
Im Untertitel seines Buches „Warum Bairisch genial ist“ verbirgt sich bereits eine sprachliche Besonderheit, die der Linguist mithilfe von Strukturbegriffen erläutert. „I mog di obwoist a Depp bist“ sollte im Prinzip jeder Deutsche, der nicht den bairischen Dialekt beherrscht, verstehen. „Ich mag Dich, obwohl Du ein Depp bist“ ist recht leicht zu entschlüsseln, die lexikalischen Veränderungen gegenüber dem Hochdeutschen sind schnell erkannt. Aber was hat es mit der Ausnahme „obwoist“ auf sich? „Das Bairische obwohl hat hier die Endung st. Man könnte laienhaft vermuten: Es handelt sich um ein verändertes Du. Das kann aber nicht stimmen, diese lautliche Verschiebung ist unbekannt. Es kann aber schon deswegen nicht stimmen, weil wir den Satz nach dem obwoist mit einem Du ergänzen können. Damit hätten wir dann, wenn die Vermutung stimmen würde, zwei Subjekte – das kann aber nicht sein.“ Grewendorf erläutert, dass die merkwürde Endung st sich vom Verb her erklären lässt. Die 2. Person Singular bist hat die gleiche Endung. Wenn man den ganzen Satz in den Plural setzt (obwohl Ihr Deppen seid), wird aus dem obwoist ein obwoits, von der Endung ts von seits abgeleitet. Dass man im Bairischen nicht nur Verben beugt bzw. flektiert, sondern auch Konjunktionen, ist schon etwas besonders. Kann der Linguist den Grund für diese doppelte Beugung nennen? „Eine notwendige, aber noch nicht hinreichende Erklärung könnte in dem Nachweis bestehen, dass die strukturelle Position, in der Konjunktionen lokalisiert sind, eigentlich eine „verbale Position“, ist.
Struktur und Oberfläche
Viele Beispiele in Grewendorfs unterhaltsamen Buch stammen aus Bühnenprogrammen von bayerischen Kabarettisten wie Bruno Jonas oder Gerhard Polt. Eine ganz besondere Rolle spielen aber sicherlich die Texte von Karl Valentin, die von einer erstaunlichen sprachspielerischen Kreativität geprägt sind. Würde Grewendorf Valentin gar als Kollegen, als Linguisten, bezeichnen? „Nein, das nicht. Denn auch wenn seine Texte von einer hohen Sensibilität für Sprache geprägt sind, beschränkt sich das insgesamt auf Lauteigenschaften und lexikalische Charakteristika. Um die tiefer liegenden Mechanismen von Sprache erklären zu können, bedarf es einer Abstraktion.“ Grewendorfs Buch ist somit auch eine Liebeserklärung an sein Fach. Denn wer eine Sprache nicht nur anwenden, sondern auch verstehen möchte, muss sich mit den Strukturen befassen –, die aber in der Anwendung unsichtbar bleiben. „In einem Satz wie Das schöne München liegt an der Isar, den wir beliebig erweitern können (das schöne und mitten in Bayern gelegene München liegt ….), sehen wir eine lineare Folge von Wörtern, aber in jedem dieser Sätze steht das Verb liegt an 2. Position – das ist eine Position in der abstrakten Struktur, die dem Satz zugrunde liegt“, sagt Grewendorf. Heute zieht eine Weltstadt wie München viele Menschen aus anderen Ländern und Regionen an. Ein zünftiges Servus haben viele der Zugezogenen auf den Lippen. Können sie sich aber bis in die Feinheiten des Bairischen vortasten, bis in die von Grewendorf vorgestellten grammatikalischen Tiefenstrukturen? „Nein, mit Sicherheit nicht. Man erlernt als Zugezogener vielleicht Elemente der Phonologie, der Lexik, aber keine Syntax. Das ist im Ergebnis wohl vergleichbar mit den Lederhosen, mit denen Hamburger aufs Oktoberfest gehen“, lacht der Linguist.
BEISPIELE AUS DER BAIRISCHEN GRAMMATIK
Dea Mo, den wo dass-st du bschissn host.
Im Standarddeutschen erlauben Relativsätze neben dem Relativpronomen keine weiteren satzeinleitenden Elemente. Im Bairischen sind zusätzlich zum Relativpronomen sogar zwei Konjunktionen möglich (wo und dass, wobei nur die letzte eine Flexionsendung aufweist).
I heb net gwusst, wie weit dass Geschichte zruckgeht.
Auch indirekte W-Fragesätze weisen eine zusätzliche Konjunktion auf (dass).
I geh mi guat in dene Schuah.
Die Medialkonstruktion ist in Sprachen wie Standardeutsch, Englisch, Italienisch nur in der unpersönlichen Form möglich (Das Buch liest sich gut, Politicians bribe easily). Im Bairischen (wie im Altgriechischen) ist diese Konstruktion auch in der persönlichen Form möglich.
Aber dös ko doch koa Mensch net schmecka.
Wie im Italienischen, aber anders als im Standarddeutschen, hebt sich mehrfache Negation im Bairischen nicht auf. Ein Satz mit vier Negationen wie Mia ham no nia ned nix anders ned drunga bedeutet, dass wir noch nie etwas anderes getrunken haben.
Den wenn I dawisch, daschlog I.
Dieser Satz enthält im Hauptsatz wie im Wenn-Satz ein transitives Verb (erschlagen bzw. erwischen), das ein direktes Objekt verlangt. In dem gesamten Satz ist aber nur ein direktes Objekt vorhanden (das vor dem wenn stehende Nebensatzobjekt w). Dass ein Objekt des Nebensatzes auch als Objekt des Hauptsatzes fungieren kann, ist ein grammatischer Skandal, den sich das Bairische leistet. Dieser Satz erscheint daher in einem grammatischen Kuriositätenkabinett, in dem ungewöhnliche grammatische Phänomene aus den Sprachen der Welt dargestellt sind.
Dieser Beitrag ist in der Ausgabe 3/2021 (PDF) des UniReport erschienen.