Raphael Straus hielt auch während des NS-Terrors noch am Verbindenden zwischen Juden und Christen fest

Foto: Courtesy of the Leo Baeck Institute
Anfang der 1940er Jahre verfasste ein vor den Nazis nach Palästina geflohener jüdischer Gelehrter »Eine friedvolle Betrachtung über Judentum und Christentum«. Wer war Raphael Straus? Und woher nahm er die Kraft zur Verständigung in Zeiten der Shoah?
Über Leben und Tod des Raphael Straus ist wenig bekannt. Der deutsche Gelehrte jüdischen Glaubens und Experte für jüdische Geschichte des Mittelalters war 1933 mit seiner Ehefrau und seinen vier Kindern vor der Verfolgung durch die Nationalsozialisten in das damalige britische Mandatsgebiet Palästina, das heutige Israel, geflohen. Doch Straus, der seit seiner Jugend die Errichtung eines jüdischen Nationalstaats in Palästina befürwortete, konnte in Jerusalem nie richtig Fuß fassen. Vergeblich bemühte sich Straus um eine Anstellung an der bereits 1925 eröffneten Hebräischen Universität von Jerusalem. Durch Stipendien und Tätigkeiten in der Erwachsenenbildung hielt sich Straus über Wasser. 1945 emigrierte er nach New York, wo der deutsch-jüdische Gelehrte von seinen Zeitgenossen weitgehend vergessen mit nur 60 Jahren an einem Herzinfarkt starb.
Verstorben, vergessen – und wiederentdeckt
»Es kann durchaus sein, dass sein Schicksal von Emigration, Exil und prekärer Existenz zu dem frühen Tod beigetragen hat«, sagt Christian Wiese, Inhaber der Martin-Buber-Professur für Jüdische Religionsphilosophie, der als Judaist Leben und Werk von Raphael Straus erforscht. Und vor allem ein Werk beeindruckt: Trotz Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland, trotz des Schweigens der meisten christlichen Theologen und Gläubigen hielt Straus in seiner um 1940 verfassten und noch unveröffentlichten Schrift »Apokatastis. Eine friedvolle Betrachtung über Judentum und Christentum« an seiner Deutung beider Religionen als Nachbarn fest, die er durch Ähnlichkeiten in der religiösen Lehre sowie eine jahrtausendelange soziale Beziehungs- und wirtschaftliche Verflechtungsgeschichte verbunden sah. Den Begriff der »Nachbarschaft« hatte Straus wahrscheinlich von dem englisch-anglikanischen Theologen und Aktivisten für christlich-jüdische Verständigung James Parkes (1896–1981) übernommen.
Straus’ Werk eignet sich damit gut als Fallstudie im Kontext des interdisziplinären Forschungsprojekts »Dynamiken des Religiösen: Ambivalente Nachbarschaften zwischen Judentum, Christentum und Islam«, dessen akademischer Sprecher Christian Wiese ist. Mit dem Projekt hat Wiese gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen aus Disziplinen wie Judaistik, Islamische Studien, Religions- und Geschichtswissenschaft, Archäologie und Ethnologie, Sozial- und Erziehungswissenschaften einen international sichtbaren Forschungsverbund aufgebaut, in dem Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Goethe-Universität Frankfurt, der Philipps-Universität Marburg, der Justus-Liebig-Universität Gießen und weiterer Partnerinstitutionen kooperieren. Die Erforschung der Nachbarschaften zwischen Judentum, Christentum und Islam in Geschichte und Gegenwart und in ihren unterschiedlichen Ausprägungen vom gelingenden Zusammenleben bis hin zu Gewalt und Völkermord soll die Grundlage liefern für Bildungsstrategien zur Bekämpfung von religiös motiviertem Hass.

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AUF DEN PUNKT GEBRACHT
- Der jüdische Gelehrte Raphael Straus hielt trotz der Verfolgung durch die Nationalsozialisten an der Verständigung zwischen Judentum und Christentum fest. Er betonte die historische Nachbarschaft und geistige Verbundenheit der Religionen.
- Straus floh 1933 mit seiner Familie nach Palästina, konnte dort aber nie richtig Fuß fassen. Er musste sich mit Stipendien und Erwachsenenbildung über Wasser halten und wanderte später in die USA aus.
- Straus war erschüttert von der Reaktion vieler christlicher Theologen, die sich während der Nazi-Zeit von den jüdischen »Nachbarn« distanzierten und antisemitische Thesen unterstützten.
- In seiner Arbeit zu den Juden im mittelalterlichen Regensburg kritisierte Straus die einseitige Darstellung der jüdischen Geschichte als Abfolge von Verfolgung und Pogromen und arbeitete die wirtschaftlichen und kulturellen Verflechtungen von Juden und Christen heraus.
- Zu Lebzeiten fast vergessen, wird Straus’ Werk heute wiederentdeckt. Der Frankfurter Judaist Christian Wiese sieht in seiner »friedvollen Betrachtung« einen wichtigen Beitrag zur christlich-jüdischen Verständigung und zur moralischen Reflexion über die Verantwortung der Theologie in Zeiten des Hasses.
Verrat und Selbstverrat
Was Hass anrichten kann, hat Raphael Straus im Exil in Palästina aus der Ferne erlebt: die stetige, präzedenzlose Eskalation antisemitischer Verfolgung und Gewalt seit 1933 mit den Nürnberger Rassengesetzen 1935 und den Pogromen vom 7. bis 13. November 1938, als im gesamten Deutschen Reich Geschäfte und Synagogen in Brand gesetzt und Jüdinnen und Juden zu Tausenden in Konzentrationslager verschleppt, gefoltert und ermordet wurden, bis hin zur systematischen Vernichtungspolitik während des Zweiten Weltkriegs. Erschüttert war Straus von der Reaktion christlicher Theologen auf die Gräueltaten: Statt ihren jüdischen »Nachbarn im Geiste« mit Solidarität zu begegnen, befürworteten Theologen bis hinein in die in Teilen eigentlich NS-kritische Bekennende Kirche eine »Emanzipation« des Christentums vom »Druck des jüdischen Geistes«. Nazi-Theologen aus dem Umfeld des 1939 gegründeten »Instituts für die Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben« in Eisenach behaupteten gar, Jesus sei »Arier« gewesen, habe aus rassischen Gründen den Konflikt mit dem Judentum gesucht und sei deshalb gekreuzigt worden. Damit war sogar eine christliche Rechtfertigung für antisemitischen Vernichtungswillen gegen die jüdische Bevölkerung Europas nicht mehr ausgeschlossen.
Eine moralische Kraft, die nachhallt
»Vor diesem Hintergrund lässt sich Straus’ beschwörende Betonung der historischen ›Schicksalsgemeinschaft‹ von Judentum und Christentum als verzweifelter Versuch einer Gegengeschichte zur Distanzierung von allem Jüdischen lesen«, sagt Christian Wiese. Der evangelische Theologe und Judaist war Ende der 1990er Jahre bei Forschungen am Salomon Ludwig Steinheim-Institut für deutsch-jüdische Geschichte in Essen zufällig auf eine Abschrift des Typoskripts von Raphael Straus aufmerksam geworden. Das Original liegt zusammen mit weiteren Materialien in Jerusalem, einen zugehörigen Zettelkasten mit Notizen und Zitaten für die Fußnoten entdeckte Wiese später im Leo Baeck Institute in New York. Die bibliografischen Verweise müssten für eine Edition des Werks den jeweiligen Textstellen zugeordnet werden. Aufbereitung und Erforschung von Straus’ Nachlass würden aufwendig werden. »Fraglich war damals außerdem, ob sich für einen selbst unter Wissenschaftlern größtenteils vergessenen Gelehrten wie Straus ein Verlag finden lassen würde«, erinnert sich Wiese, der damals mit seiner Habilitation zu Leben und Denken des großen deutsch-jüdisch-amerikanischen Philosophen Hans Jonas beschäftigt war.
Inzwischen sind die Notizen von Straus im New Yorker Archiv zumindest digital zugänglich – und Christian Wiese möchte das Werk des Historikers, das ihn seit den Tagen in Duisburg nicht losgelassen hat, nun im Rahmen des Forschungsprojekts »Nachbarschaften« erforschen und publizieren. »Mir geht es darum, Straus’ ›friedvolle Betrachtung über Christentum und Judentum‹ historisch einzuordnen«, umreißt Wiese Erkenntnisinteresse und Forschungsmotivation: »Als einsames Gespräch eines vertriebenen jüdischen Gelehrten mit einer christlichen Theologie, die ihre Verantwortung gegenüber dem Judentum zutiefst verfehlte, aber auch als Ausdruck einer verzweifelten Hoffnung auf christliche Solidarität in dunkelster Zeit verdient das Werk von Raphael Straus, in seiner moralischen Kraft gewürdigt zu werden.«

Quelle: Landeskirchenarchiv Eisenach
Ein erstaunlich moderner Geist
Was Wiese schon herausgearbeitet hat: Raphael Straus’ Perspektive auf das Verhältnis von Christentum und Judentum war – gemessen an bis heute bekannteren zeitgenössischen Denkern wie dem liberalen protestantischen Theologen Adolf von Harnack oder dem ebenfalls liberalen Rabbiner Leo Baeck – erstaunlich modern. Straus deutete die sich Anfang des 19. Jahrhunderts verstärkenden Konflikte zwischen Judentum und Christentum als Versuch von Vertretern beider Seiten, ihre jeweiligen religiösen Identitäten zu verteidigen – gerade weil Unterschiede in religiöser Praxis und Lebenswelt durch die Anpassung beider Religionen an die Moderne aufgeweicht worden seien. Straus forderte von christlichen wie jüdischen Theologen, sich über die Befangenheit eigener religiöser Bindungen zu erheben und einen freien Blick auf die jeweils andere Religion zu werfen. Dann, so meinte er, öffne sich der Blick für die Nähe jüdischer und christlicher Lehren. Für ihn blieb das Christentum dem Judentum verbunden, weil »sein Gott einmal ein jüdischer Fischer gewesen war, seine ›Mutter Gottes‹ eine jüdische Zimmermannsfrau, seine Propheten jüdische Männer von hier und dort, seine Heilige Schrift und Lehren jüdischen Ursprungs, seiner und der Gesamtmenschheit Glück und Zukunft gebunden an das Glück und die Zukunft der Juden«.
»Straus’ Darstellung gewinnt ihre kritische Kraft dort, wo er die antisemitisch motivierte Distanzierung vom ›Alten Testament‹ als widersinnige Illusion, ja als radikalen Wesensverlust charakterisiert, der das Christentum an seiner Wurzel zu beschädigen drohe«, resümiert Christian Wiese. Die Kraft zum Dialog sei umso überraschender, als Straus aus einer orthodoxen, also traditionell geprägten jüdischen Familie stammte. Straus selbst lebte vor, was er seinen Zeitgenossen abverlangte.
Woher kam diese intellektuelle Beweglichkeit? »Wir wissen noch nicht, warum sich Straus’ ursprünglich orthodoxe Herkunft nicht in seiner wissenschaftlichen Arbeit spiegelt«, sagt Christian Wiese. Für einen möglichen Grund hält der Judaist das geschichtswissenschaftliche Selbstverständnis von Straus. Dieser hatte in seinem 1932 erschienenen und bis heute bekanntesten Werk »Die Judengemeinde Regensburg im ausgehenden Mittelalter« die Geschichte der jüdischen Gemeinde Regensburg anhand der Quellen kritisch untersucht und neu dargestellt. In seiner Studie im Auftrag der Historischen Kommission des Verbandes Bayrischer Israelitischer Gemeinden arbeitete Straus die wirtschaftliche, soziale und kulturelle Verflechtung von Juden und Christen seit dem Mittelalter heraus. »Damit nimmt Straus schon 1932 Tendenzen der heutigen historischen Forschung vorweg und wendet sich gegen eine, wie er es nannte, ›weinerliche Geschichte‹, die die Geschichte der Juden im europäischen Mittelalter als bloße Abfolge von Verfolgungen und Pogromen erzählt«, erklärt Christian Wiese.
Betrogen und verbrannt
Straus’ Bemühungen um interreligiöse Verständigung auf Grundlage gemeinsamer Geschichte war den Nationalsozialisten ein Dorn im Auge. Wilhelm Grau, ein Doktorand aus München, der sich als Demokrat und »Judenfreund« ausgab und behauptete, eine Ausstellung zur Geschichte der Regensburger Juden vorbereiten zu wollen, erschlich sich Straus’ Vertrauen, erhielt, plagiierte und verdrehte dessen noch unveröffentlichte »Urkunden und Aktenstücke zur Geschichte der Juden in Regensburg im ausgehenden Mittelalter« in antisemitischer Weise. 1938 verbrannte die Gestapo die Druckfahnen von Straus’ »Urkunden und Aktenstücken«, einige Exemplare aber blieben erhalten. Erst 1960 wurde das Werk dank der Verbindungen des jüdischen Historikers Guido Kisch zu Straus’ Witwe Erna in Deutschland veröffentlicht.

Zur Person
Christian Wiese, geboren 1961 in Bonn, ist evangelischer Theologe und Judaist. Schwerpunkte seiner Forschung sind die jüdische Religionsphilosophie der Neuzeit, die jüdisch-christlichen Beziehungen, die Antisemitismusforschung und jüdisches Denken nach der Shoah. Wiese wurde 1997 an der Goethe-Universität promoviert und habilitierte sich 2006 an der Universität Erfurt für Religionswissenschaft und Judaistik. Von 2007 bis 2010 war Wiese Direktor des Centre for German-Jewish Studies und Professor für jüdische Geschichte an der University of Sussex. Seit Oktober 2010 hat Wiese die Martin-Buber-Professur für Jüdische Religionsphilosophie an der Goethe-Universität inne. Seit 2021 leitet er das Buber-Rosenzweig-Institut für jüdische Geistes- und Kulturgeschichte der Moderne und Gegenwart an der Goethe-Universität.
C.Wiese@em.uni-frankfurt.de

Der Autor
Jonas Krumbein,
Jahrgang 1985, hat in Freiburg und Durham (England) Geschichts- und Politikwissenschaft studiert und arbeitet nebenberuflich als freier Journalist.
j.m.krumbein@icloud.co
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