DIPF-Bildungsforscher Johannes Hartig antwortet im aktuellen UniReport (2.17) auf die Kritik von Hans Peter Klein am “Kompetenztaumel” im deutschen Bildungssystem.
Kollege Hans Peter Klein kritisiert in seinem Interview im letzten UniReport und seinem jüngst erschienenen Buch die sogenannte Kompetenzorientierung im Bildungswesen. An der in seinen Augen bestehenden Misere scheinen in der Bildungsforschung tätige „Psychometriker“ und „Empiriker“ wenigstens eine Teilschuld zu tragen – zumindest in seiner Lesart.
Da ich mich beiden Gruppen mit Überzeugung zugehörig fühle, möchte ich die Kritik gerne kommentieren. Herr Klein trägt zu einer im Kern politischen Diskussion bei, die um die Frage kreist, welche Aufgaben und Ziele Bildungsinstitutionen verfolgen sollten. Diese Diskussion ist wichtig und wird m. E. zu selten offen über Fachgrenzen hinweg geführt.
Insofern ist jeder Beitrag zu begrüßen. Als Wissenschaftler würde ich mir aber eine differenziertere und stärker mit sachlichen Argumenten untermauerte Diskussion wünschen. Klein spricht von einem derzeit stattfindenden „Bildungsverfall“ und skizziert Untergangsszenarien, in denen der Letzte „das Licht ausknipsen“ möge.
Dies erscheint mir alarmistisch und wenig zielführend für eine Diskussion tatsächlicher Probleme und Herausforderungen im Bildungswesen. Um aus wissenschaftlicher Sicht einen Beitrag zu leisten, müssen Probleme, für die es objektivierbare Belege gibt, von einem allgemeinen Unbehagen, wie es in Zeiten gesellschaftlicher Veränderungen häufig zutage tritt, getrennt werden.
Eine Schwarzmalerei mit der Botschaft, dass „die da oben“ in Politik und Wirtschaft aus fragwürdigen Interessen (z. B. der „Testindustrie“) „unsere Bildung“ ruinieren, scheint mir schnell in Verschwörungstheorien abzugleiten. Im Buch werden diese Szenarien teilweise – ohne dass sich mir sachliche Zusammenhang erschlossen hat – mit düsteren Bildern des Niedergangs der alten Bundesrepublik gemischt, in denen „Frauen mit schwarzen Burkas, oft auch mit Holz- oder Metallmasken“ das Stadtbild prägen (S. 197).
Das mutet mehr als merkwürdig an. Der empirische Ausgangspunkt von Kleins Kritik ist primär die Analyse der Inhalte von Prüfungsund Testaufgaben. Zudem verweist er auf statistische Daten, demnach der Anteil höherer Schulabschlüsse wächst und sich zugleich die Abschlussnoten verbessern. Diese Daten sagen aber nichts darüber aus, ob Schülerinnen und Schüler die Schule mit einem geringeren oder höheren Wissen oder einer schlechteren oder besseren Vorbereitung auf Ausbildung oder Studium verlassen.
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Zur Person / Johannes Hartig ist Professor für Educational Measurement am Deutschen Institut für Internationale Pädagogische Forschung (DIPF) und am Fachbereich Psychologie der Goethe-Universität. Er hat Psychologie an der Goethe-Universität studiert und 2003 in Frankfurt promoviert. Am DIPF leitet Johannes Hartig seit 2010 den Arbeitsbereich Educational Measurement in der Arbeitseinheit Bildungsqualität und Evaluation.
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Ob die Tests, die in den PISA-Studien eingesetzt werden oder mit denen das Erreichen der Bildungsstandards überprüft wird, darüber eine Aussage erlauben, lässt sich durchaus kontrovers diskutieren. Herr Klein bezweifelt aber grundsätzlich, dass Ergebnisse schulischen Lernens empirisch „vermessen“ werden können. Wenn das nicht möglich ist, sind aber auch keine Aussagen darüber möglich, ob Schülerinnen und Schüler am Ende ihrer Schulausbildung mehr oder weniger gelernt haben.
Und auch wenn die inhaltliche Analyse einzelner Prüfungsaufgaben sicherlich einige interessante Erkenntnisse erbringen kann, ist das allein doch eine recht schwache empirische Grundlage, um umfassende Schlüsse auf das Anspruchsniveau des deutschen Abiturs oder gar des gesamten Bildungssystems vorzunehmen.
Aufmerksamkeit für Bildungssystem ermutigendes Zeichen
Zugleich gibt es durchaus Gründe, die Entwicklung des deutschen Bildungssystems optimistischer zu betrachten. Nicht zuletzt aufgrund der Rezeption der internationalen Vergleichsstudien wie PISA und TIMSS sind Fragen des Bildungswesens vermehrt in den Fokus des öffentlichen und politischen Interesses gerückt. Absolut gesehen (wenngleich nicht anteilig) sind die öffentlichen Bildungsausgaben in Deutschland kontinuierlich gestiegen.
Insbesondere die Lehrerbildung erfährt aktuell eine enorme Aufmerksamkeit in der Forschung, zugleich wird die Ausbildung an den Universitäten finanziell stärker gefördert. Gesellschaftliche und politische Aufmerksamkeit für das Bildungssystem ist in meinen Augen zunächst ein ermutigendes Zeichen und kein Hinweis auf einen „Verfall“.
Die von Herrn Klein vehement ausgedrückte Ablehnung von bildungspolitischen Reformen und Reformbestrebungen innerhalb der Erziehungswissenschaft lassen den Eindruck entstehen, dass es aus seiner Sicht besser wäre, wenn sich außerhalb der Schulen niemand für das Thema Bildung interessieren würde und hinsichtlich der Methoden und Inhalte Stillstand herrschen könnte.
Mir fehlen in seiner Kritik konstruktive Vorschläge, wie eine Weiterentwicklung schulischer Bildung vor dem Hintergrund von veränderten gesellschaftlichen Anforderungen aussehen könnte. Der von Hans Peter Klein in seiner Kritik gewählte alarmistische Stil ist umso bedauerlicher, als er einige Punkte anspricht, die ich durchaus nachvollziehen kann.
Noch viel mehr halte ich eine konstruktive Diskussion darüber sowohl innerwissenschaftlich als auch politisch für wünschenswert. So ist der Kompetenzbegriff in der Tat ausgesprochen unscharf, was es jedem erlaubt, ihn mit eigenen, oft beliebigen Inhalten zu füllen. Die Definition von objektivierbaren Lernzielen wird durch diese Unschärfe sicherlich nicht erleichtert.
Auch das (nicht nur im Bildungskontext) allgegenwärtige Primat des Ökonomischen, unter dem das Bildungssystem zunehmend als Lieferant von „Humankapital“ betrachtet wird, wird meines Erachtens zu selten kritisch diskutiert – auch innerhalb der empirischen Bildungsforschung. Desgleichen erscheint mir die Frage nach der Sinnhaftigkeit von Naturwissenschaftstests oder Prüfungen, die ohne Fachwissen auskommen, diskussionswürdig.
Hier wirft die „kompetenzorientierte“ Konstruktdefinition tatsächlich die Frage auf, welche Rolle die Fachinhalte als Lernziele noch spielen und inwieweit Leistungen in Naturwissenschaften noch von Lesekompetenz und allgemeinem Problemlösen abgegrenzt werden können. Dies ist allerdings ein spezifischer Punkt in den naturwissenschaftlichen Fächern, für Tests zur Lesekompetenz und Mathematik stellt sich diese Frage nicht.
Kompetenzorientierte Mathematikaufgaben kritisiert Klein, weil kontextuell eingekleidete Aufgaben so an der Hochschule nicht vorkämen. Das mag für das Fach Mathematik selbst zutreffen. In vielen anderen Studien- und Ausbildungsgängen werden mathematische Inhalte jedoch regelmäßig in einem spezifischen Kontext eingebettet vermittelt, so z. B. auch in der psychologischen Methodenausbildung.
Hier muss letztlich abgewogen werden, ob Mathematikunterricht in der Schule primär auf ein Mathematikstudium vorbereiten soll, oder ob auch mathematische Anwendungen in anderen Alltags- und Fachkontexten relevant sind.
PISA-Studie: umfassende Qualitätssicherung
Einige der von Herrn Klein an den PISA-Studien angebrachten Kritikpunkte sind in meinen Augen tatsächlich haltlos. Man muss die Zielsetzungen der OECD nicht teilen und man kann über die Konstruktdefinitionen diskutieren. Dass die Studie sich aber „jeglicher Qualitätskontrolle entziehe“, wie er in seinem Buch schreibt, ist schlicht nicht wahr.
Ich kenne persönlich keine andere Studie im Bildungsbereich, in der so umfassende Prozesse der Qualitätssicherung implementiert sind. Die Kritik scheint mir hier fast ausschließlich dadurch begründet, dass Herr Klein keine Einsicht in die Aufgabeninhalte bekommen hat. Das ist aber bei Testaufgaben, die auch zukünftig weiterhin eingesetzt werden sollen, ein völlig üblicher Qualitätsstandard – Aufgaben, die bekannt werden, sind „verbrannt“ und können nicht mehr verwendet werden.
Denn dann wäre es denkbar, dass sie von Studienteilnehmern/innen geübt wurden. Ich glaube auch nicht, dass die von Herrn Klein analysierten Abituraufgaben ihm vor den jeweiligen Abiturprüfungen zugänglich gemacht wurden. Abgesehen von der notwendigen Vertraulichkeit der Aufgabeninhalte ist die PISA-Studie ausgesprochen transparent.
Alle Schritte und Ergebnisse der Studie werden öffentlich frei zugänglich gemacht, einschließlich der erhobenen Daten. Was die Testwerte bedeuten, wissen nicht nur die „Tester“. Dies wird ausführlich und in einer meines Erachtens sehr verständlichen Form dargestellt, einschließlich freigegebener Beispielaufgaben (die dann für spätere Zyklen der Studie nicht mehr verwendet werden).
Auch die pauschale Kritik an Multiple- Choice-Aufgaben ist längst überholt. Abgesehen davon, dass dies aus gutem Grund nicht das einzige verwendete Aufgabenformat ist, werden die Vor- und Nachteile dieses Formats in der Psychometrie schon lange beforscht und diskutiert. Mögliche Einschränkungen sind bekannt und der Einsatz geschlossener Antwortformate erfolgt dementsprechend für Gegenstände und Anforderungsbereiche, bei denen dies sachlich gerechtfertigt ist.
Es gibt aktuell eine ganze Reihe von offensichtlichen Herausforderungen, auf die das deutsche Bildungssystem reagieren muss. So stellt sich mir z. B. die Frage, wie schulische Inhalte an das Informationszeitalter angepasst werden müssen, in dem Fachwissen prinzipiell immer und überall online verfügbar ist.
Vielleicht ist es wichtiger, Schülerinnen und Schülern zu vermitteln, wie sie an Informationen gelangen und wie sie die Glaubwürdigkeit von Online-Informationen bewerten, als sie Bruchteile des verfügbaren Fachwissens auswendig lernen zu lassen? Hier würde ich mir gerade aus den Fachdidaktiken Antworten erhoffen, die über ein bloßes Verharren im Ist-Zustand oder ein Nachtrauern um vergangene Zeiten hinausgehen.
Und wie können Schulen Kindern mit schwierigeren Ausgangsbedingungen helfen, wie lässt sich die Zahl von Abgängern/ innen ohne Schulabschluss reduzieren? Das sind drängende Probleme, die wir nicht einfach ausblenden können – und auf die die empirische Bildungsforschung auch immer wieder hinweist.
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Zum Weiterlesen
Interview mit Hans Peter Klein im UniReport 1/2017: „Verkümmert das selbständige Denken?“
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Dieser Artikel ist in der Ausgabe 2.17 (PDF-Download) des UniReport erschienen.