Es gibt keine eigenen Sinneszellen für die Zeitwahrnehmung, dennoch besitzen wir ein „Zeitgefühl“. Wie dieses im Gehirn entsteht, untersuchen die Neurobiologen Prof. Manfred Kössl und sein kubanischer Kollege Dr. Julio Hechavarria an Fledermäusen. In der aktuellen Ausgabe des Wissenschaftsmagazins „Forschung Frankfurt“ erklären sie, wie Zeitinformation durch Berechnungen neuronaler Netze tief im Gehirn erzeugt wird.
Zeitgefühl entsteht im Gehirn. Das zeigen Verzerrungen der zeitlichen Wahrnehmung, wie sie bei Parkinsonpatienten auftreten können. Medikamente, die in den Dopamin-Stoffwechsel eingreifen, können ebenfalls das Zeitgefühl beschleunigen oder verlangsamen (Dopamin ist ein Botenstoff, über den Nervenzellen kommunizieren). Bei Schizophrenie kann es vorkommen, dass Reize, die gleichzeitig von Augen und Ohren wahrgenommen werden, bei der Verarbeitung im Gehirn zeitlich auseinanderfallen wie in einem schlecht synchronisierten Film. Auch bei Autismus und Aufmerksamkeitsstörungen kann es zu einer Zeitbeschleunigung kommen, so dass die Betroffenen die Zeitdauer unterschätzen.
Fledermäuse übersetzen zeitliche Informationen aus der Echoortung in räumliche Informationen. Umgekehrt reagieren die einzelnen Neuronen aber nur dann sensitiv auf Echos, wenn diese mit einer bestimmten zeitlichen Verzögerung zum Ortungsruf eintreffen. Jedes einzelne Neuron kodiert dabei eine ganz bestimmte räumliche Entfernung. Dabei sind unterschiedliche Neuronen sind auf unterschiedliche Echoverzögerungszeiten abgestimmt und spannen so einen Objekt-Entfernungsraum von etwa null bis drei Meter auf.
In vielen Fledermausarten sind diese Raum-Zeit-Neuronen in Form einer Zeitkarte in der Hirnrinde angeordnet. Schaltkreise, die auf bestimmte Zeitfenster ansprechen, sind dabei zu sogenannten chronotopen Arealen zusammengefasst. Das bedeutet: Nervenzellen, die auf kurze Verzögerungszeiten und damit auf nahe Objekte reagieren, liegen weiter vorne in der Gehirnrinde als solche, die auf entfernte Objekte reagieren.
Besonders große chronotope Areale finden sich bei manchen tropischen Insekten fressenden Arten, aber auch bei Fruchtfressern. Diese benützen die Echoortung zwar nicht zum Fang fliegender Insekten, aber zur generellen Orientierung und Navigation. Sie scannen ihre Umgebung im Detail ab, um Strukturinformation von Früchten im Blattwerk zu erhalten. Diese Tiere, Brillenblattnasenfledermäuse (Carollia perspicillata), untersucht die Arbeitsgruppe von Prof. Kössl an der Goethe-Universität. Betritt man den Haltungsraum, kommt es vor, dass einzelne neugierige Tiere vor der Person auf und ab fliegen und sie systematischen scannen.
„Es ist bemerkenswert, dass diese Tiere den Raum lediglich auf der Basis neuronaler Zeitberechnungen in ihrem Gehirn abbilden“, so Kössl in der aktuellen Ausgabe von Forschung Frankfurt. Im Gegensatz dazu ist die Abbildung der visuellen Umwelt in der Sehrinde bereits durch die Anordnung der Sehsinneszellen im Auge vorgegeben.
Angeborenes oder erworbenes Wissen?
Ursprünglich gingen Kössl und Hechavarria davon aus, dass es für die Entstehung der topografischen Zeitkarte besonders sensitive Perioden der Entwicklung gibt. Das bedeutet: Wenn ein junges Tier erstmalig bestimmte überlebenswichtige Sinnesreize wahrnimmt, werden diese auch im Gehirn durch entsprechende neuronale Strukturen und Vorgänge verankert. Zu ihrem Erstaunen stellten sie fest, dass bereits neugeborene Tiere, die aufgrund unreifer Innenohren noch nicht so gut hören, bereits sehr scharf abgestimmte rezeptive Felder für die Zeitwahrnehmung haben.
Auch die Chronotopie ist bei Neugeborenen bereits angelegt. Dies bedeutet, dass schon während der Embryonalphase, vermutlich genetisch festgelegt, eine funktionsfähige Maschinerie für die Raum-Zeit-Wahrnehmung angelegt wird. Erst Wochen später, wenn das Tier tatsächlich echoortet, erfüllen diese Schaltkreise ihre Funktion. Das zeigt, wie wichtig diese Areale für das Überleben der Art sind.
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Die aktuelle Ausgabe von „Forschung Frankfurt“ (1/2017) können Journalisten kostenlos bestellen: ott@pvw.uni-frankfurt.de. Im Internet steht sie unter: www.forschung-frankfurt.de.
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Quelle: Pressemitteilung vom 5. Juli 2017