Frühmenschen: Jahreszyklen im Zahnschmelz geben Einblicke in Lebensgeschichten

Wie sich unsere Vorfahren der Art Homo erectus vor Hundertausenden von Jahren auf der Insel Java in Südostasien ernährt haben, konnte jetzt ein interdisziplinäres Team von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, koordiniert von Goethe-Universität Frankfurt und Senckenberg Forschungsinstitut und Naturmuseum Frankfurt, anhand von Zahnanalysen herausfinden: Im Laufe eines Jahres wechselten die Frühmenschen von pflanzlicher Nahrung zu Mischkost, waren dabei aber weit weniger vom saisonalen Nahrungsangebot abhängig als zum Beispiel Orang-Utans, die ebenfalls die Insel bewohnten.

In Epoxy-Harz eingebetteter Homo erectus Zahn nach dem Schneiden. Bild: Alessia Nava/ Luca Bondioli

Wer ein Vergrößerungsglas und eine Taschenlampe zur Hand nimmt und im Spiegel ganz genau seine Zähne betrachtet, kann hier und da ein Muster aus feinen, parallelen Linien entdecken, die quer über den Zahn laufen. Diese entsprechen den Retzius-Streifen, die das Wachstum unseres Zahnschmelzes markieren. Der Schmelz wird bereits im Mutterleib angelegt und bis zur Jugend neu gebildet, wenn die letzten Milchzähne ausfallen und durch bleibende Zähne ersetzt werden. Wie bei allen landlebenden Wirbeltieren wird auch beim Menschen der Zahnschmelz in mikroskopisch kleinen Schichten schubweise angelagert, was die Retzius-Steifen formt. Am Abstand dieser Streifen zueinander ist die Entwicklungsgeschwindigkeit eines Menschen ablesbar. Physiologische Wechsel wie zum Beispiel die Geburt, das Abstillen oder Krankheiten hinterlassen markante Spuren. Die Retzius-Steifen bilden auch den chronologischen Rahmen für die zeitlich-variierende chemische Zusammensetzung des Zahnschmelzes, die wiederum den Wechsel in der Ernährung widerspiegelt.

Ein internationales Wissenschaftsteam der Goethe-Universität Frankfurt um Prof. Wolfgang Müller und seiner MSc-Studentin Jülide Kubat, heute Doktorandin an der Universität Paris Cité, hat anhand der Zähne die Ernährungsgewohnheiten eines Vorfahrens des modernen Menschen – Homo erectus, „der aufrechte Mensch“ – mit denen von zeitgleichen Orang-Utans sowie weiteren Tieren verglichen. Alle lebten im Pleistozän vor 1,4 Millionen bis 700.000 Jahren auf der indonesischen Insel Java, auf der es damals Regionen mit Monsun-Regenwäldern sowie offene Baumlandschaften und grasbewachsene Savannen gab.

Zur Analyse des Zahnschmelzes betteten die Wissenschaftler:innen die Zähne in ein Harz ein und schnitten sie dann in hauchdünne Scheiben von 150 Mikrometern Dicke. Diese äußerst kostbaren Proben sind im Senckenberg Forschungsinstitut und Naturmuseum Frankfurt Teil der Gustav Heinrich Ralph von Koenigswald Sammlung, einer Dauerleihgabe der Werner Reimers Stiftung. Anschließend trug ein spezieller Laser Zahnmaterial ab, das mittels Massenspektrometrie unter anderem auf den Gehalt der Elemente Strontium und Kalzium untersucht wurde, die beide in Zähnen und Knochen enthalten sind (Laser-basierte Plasma-Massenspektrometrie, LA-ICPMS). Das Verhältnis von Strontium zu Kalzium (Sr/Ca) ist von der Nahrung abhängig, erklärt Wolfgang Müller: „Strontium wird – quasi als Verunreinigung des essentiellen Kalziums – vom Körper nach und nach ausgeschieden. In der Nahrungskette führt das dazu, dass das Strontium-Kalzium-Verhältnis von Pflanzenessern über Allesesser bis hin zu Fleischessern kontinuierlich abnimmt.“

Dies konnte das Wissenschaftsteam mit dem Vergleich verschiedener pleistozäner Tierzähne aus Java bestätigen: Raubkatzen wiesen ein niedriges Strontium-Kalzium-Verhältnis auf, Vorläufer der heutigen Nashörner, Hirsche und Flusspferde ein hohes Strontium-Kalzium-Verhältnis und pleistozäne Schweine als Allesesser lagen in der Mitte. Spannend wurde es bei den Zähnen der Hominiden Orang-Utan und Homo erectus, denn hier entdeckten die Forscher:innen im Zeitverlauf Jahreszyklen, in denen sich die Nahrungszusammensetzung von Menschenaffen und Menschen änderte: Beide zeigten im Jahresrhythmus Variationen, wobei die regelmäßigen Sr/Ca-„Spitzen“ beim Orang-Utan viel deutlicher ausgeprägt waren als bei Homo erectus. Jülide Kubat, Erstautorin der Publikation, erklärt: „Diese Peaks deuten auf ein reichhaltiges pflanzliches Nahrungsangebot in der Regenzeit hin, während der im Regenwald zum Beispiel viele Früchte gebildet wurden. In der Trockenzeit mussten vor allem Orang-Utans auf andere Nahrungsquellen umsteigen, die vielleicht Insekten oder Eier einschlossen. Homo erectus dagegen war – so zeigen die weniger ausgeprägten Peaks und niedrigeren Sr/Ca-Werte – als Allesesser und zeitweise Fleischkonsument weniger vom saisonalen Nahrungsangebot abhängig.“

Insgesamt zeige die Analyse, so Müller, dass die räumlich hoch-aufgelöste Laser-Analyse von Spurenelementen zusammen mit Zahnschmelzchronologie einen zeitlich bemerkenswert detaillierten Einblick in die Lebensgeschichte unserer Vorfahren geben kann: „Plötzlich ist man ganz nahe dran an diesen frühen Menschen, die so lange vor unserer Zeit gelebt haben. Man kann erspüren, was der jahreszeitliche Wechsel für sie bedeutet haben mag und wie sie mit ihrer Welt interagiert haben. Das ist absolut faszinierend.“

Publikation: Jülide Kubat, Alessia Nava, Luca Bondioli, M. Christopher Dean, Clément Zanolli, Nicolas Bourgon, Anne-Marie Bacon, Fabrice Demeter, Beatrice Peripoli, Richard Albert, Tina Lüdecke, Christine Hertler, Patrick Mahoney, Ottmar Kullmer, Friedemann Schrenk, Wolfgang Müller: Dietary strategies of Pleistocene Pongo sp. and Homo erectus on Java (Indonesia). Nature Ecology and Evolution (2023) DOI: 10.1038/s41559-022-01947-0 https://www.nature.com/articles/s41559-022-01947-0

Polierter Dünnschliff eines Homo erectus Zahns vor der chemischen Analyse mittels Laser-Ablation Plasma Massenspektrometrie (LA-ICPMS). Bild: Alessia Nava/ Luca Bondioli
Mikroskopisches Bild eines Orang-Utan Zahn-Dünnschliffs, wodurch man die interne Wachstumsstruktur des Zahnschmelzes sehr gut erkennen kann; im rechten Bild sind die unterschiedlichen Laser-Ablations Pfade in pink, einzelne Retzius-Linien in grün hervorgehoben. Bild: Alessia Nava/ Luca Bondioli
Jülide Kubat beim Auswählen von Ablationspfaden (blau) am Computer des Laser-Ablation Plasma Massenspektrometers (LA-ICPMS). Bild: Wolfgang Müller
Jülide Kubat und Wolfgang Müller beladen das LA-ICPMS mit einem Zahn-Dünnschliff zur Analyse. Bild: Jülide Kubat

Die beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler arbeiten an den folgenden Instituten:

Dänemark

  • Lundbeck Foundation GeoGenetics Centre, University of Copenhagen, Copenhagen, Denmark

Deutschland

  • Institute of Geosciences, Goethe University Frankfurt
  • Frankfurt Isotope and Element Research Center (FIERCE), Goethe University Frankfurt
  • Department of Paleobiology and Environment, Institute of Ecology, Evolution, and Diversity, Goethe University Frankfurt
  • Senckenberg Research Institute and Natural History Museum Frankfurt
  • Senckenberg Biodiversity and Climate Research Centre, Frankfurt
  • Department of Human Evolution, Max Planck Institute for Evolutionary Anthropology, Leipzig
  • Emmy Noether Group for Hominin Meat Consumption, Max Planck Institute for Chemistry, Mainz
  • ROCEEH Research Centre, Heidelberg Academy of Sciences and Humanities

Frankreich

  • Université Paris Cité, CNRS
  • Université de Bordeaux, CNRS, Pessac
  • Eco-anthropologie (EA), Muséum national d’Histoire naturelle, CNRS, Université de Paris, Musée de l’Homme

Großbritannien

  • Skeletal Biology Research Centre, School of Anthropology and Conservation, University of Kent, Canterbury
  • Department of Earth Sciences, Natural History Museum, London

Italien

  • Bioarchaeology Service, Museum of Civilizations, Rome
  • Department of Cultural Heritage, University of Padova

Hintergrundinformationen:
Frühe Urmenschen ernährten sich äußerst flexibel (2018)
Was Milchzähne verraten: Neanderthaler-Mütter stillten nach fünf bis sechs Monaten ab (2020)
Zähne vom Urahn: Der Fund eines Unterkiefers in Malawi und die Folgen (Forschung Frankfurt 1/2022)

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