Herzforschung mit KI

Wie die computergestützte Genommedizin nach den Ursachen ­kardiovaskulärer Erkrankungen sucht

Medizinische Behandlungen sollen in Zukunft personalisiert sein. Der Computerbiologe Marcel Schulz will diesem Ziel mittels Künstlicher Intelligenz schrittweise näherkommen.

Wenn Herzkranzgefäße verkalken, wird der Herzmuskel nicht mehr richtig mit Sauerstoff versorgt, seine Pumpleistung nimmt ab. Die Folgen dieser Koronaren Herzkrankheit reichen von Brustenge (Angina pectoris) und Herzrhythmusstörungen bis hin zum Infarkt oder plötzlichen Herztod. Laut Weltgesundheitsorganisation ist die Koronare Herzkrankheit (KHK) die häufigste Todesursache weltweit. Zu den KHK-Risikofaktoren zählen ein ungesunder Lebenswandel – zu wenig Bewegung, zu viel fettes Essen, Alkohol, Zigaretten – und Erkrankungen wie Diabetes oder Bluthochdruck. Genauso können aber genetische Faktoren eine Rolle spielen. Deshalb versucht die medizinische Forschung, bestimmte Abschnitte im menschlichen Erbgut ausfindig zu machen, dem 3,26 Milliarden Bausteine umfassenden Genom. Gesucht werden Abschnitte mit genetischen Varianten, die KHK und andere kardiovaskuläre Erkrankungen auslösen. Bei den unscheinbarsten dieser Varianten ist in einem DNA-Abschnitt ein einziges Basenpaar ausgetauscht, Fachleute sprechen von Einzel­nukleotid-Polymorphismen, kurz SNPs. Der eine Mensch hat an einer bestimmten Stelle etwa das Basenpaar Adenin-Thymin, ein anderer Guanin-Cytosin. AT oder GC – diese Variante der Basenabfolge kann entscheidend sein, ob jemand herzinfarktgefährdet ist oder kerngesund.

Der Computerbiologe Marcel Schulz vom Institut für computergestützte Genommedizin ist solchen Genvarianten, die ein gesundheit­liches Risiko bedeuten, auf der Spur. Sein Fachgebiet, die Bioinformatik, versucht, biologische Fragen mithilfe von Rechenpower zu beantworten – mit statistischen Erhebungen oder Modellen für Maschinelles Lernen. Solche technischen Werkzeuge sind im Zeitalter der Genom-Sequenzierung unverzichtbar, da sich nur damit aus großen Datensätzen wertvolle Erkenntnisse herausfiltern lassen. Oder, wie Schulz es ausdrückt: »Um wirklich zu verstehen, warum ein Mensch krank wird, brauchen wir die Bioinformatik. Ohne sie kämen wir an vielen Punkten nicht weiter.« 

Die schuldigen SNPs

Ein solcher Punkt ist die Frage, warum Menschen an der Koronaren Herzkrankheit (KHK) leiden, warum es zu der Verengung der Herzkranzgefäße durch Ablagerungen kommt. Um die molekularen Mechanismen dahinter zu ­entschlüsseln, benutzt Schulz ein statistisches Werkzeug, die genomweite Assoziationsstudie (GWAS). Hier wird das Genom vieler Menschen auf SNPs untersucht und das Genvarianten­profil von Kranken und Gesunden verglichen. Tauchen SNPs bei kranken Menschen gehäuft auf, lässt sich daraus folgern, dass sie an der Erkrankung beteiligt sind. Schulz sucht aktuell diesen Zusammenhang zwischen Krankheit und Genvariante in einem Datensatz von KHK-Patienten. Speziell geht es dabei um Krankheits-begünstigende SNPs in sogenannten nicht-codierenden RNA-Molekülen. Von diesen ncRNAs (»non coding RNAs«, siehe auch S. 5) gibt es rund 26 000 im menschlichen Genom. Sie werden nicht in Proteine übersetzt, sondern steuern die Genregulation und kontrollieren zudem kardiovaskuläre Schlüsselprozesse. Deswegen gelten sie als vielversprechende Ziele für künftige ­Therapien bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen.

Schulz entwickelt rechnerische Methoden, mit denen sich abschätzen lässt, welche SNPs mit der KHK-Entstehung zu tun haben, zum Beispiel, indem sie eine ordnungsgemäße Genregulation vereiteln. Diese Risiko-SNPs in ncRNA-Genen zu finden, ist keine leichte Aufgabe. Es gibt über 20 000 SNPs, die bei KHK-Patienten häufiger auftreten als bei gesunden Menschen. Erschwerend kommt hinzu, dass sie nicht unbedingt in der ncRNA selbst liegen. Denn der regulatorische Bereich im Genom liegt oft außerhalb der eigentlichen Genregion. Zum Beispiel kann sich ein ncRNA-Gen an Position 1000 bis 5000 auf Chromosom 12 befinden. Die regulatorischen Bereiche, die die Aktivität des ncRNA-Gens beeinflussen, liegen jedoch an Position 18 000 oder 250 auf dem Chromosom. Ein SNP in diesem regulatorischen Bereich kann trotz der Distanz zum ncRNA-Gen mit diesem durchaus in Verbindung stehen. Zum Beispiel, wenn es die Bindung von Proteinen beeinflusst, die durch Faltung der DNA im Zellkern in Kontakt mit dem ncRNA-Gen kommen. Trotz solcher Hürden ist Schulz schon fündig geworden: 144 ncRNA-Gene ließen sich bisher mit KHK-begünstigenden SNPs in Verbindung bringen. Die ersten 144 Kandidaten für eine künftige Behandlung, bei der diese Gene dann zum Beispiel gezielt ausgeschaltet würden.

Die Wirkung einzelner SNPs zu verstehen – für Schulz liegt darin der Schlüssel zu einer künftigen personalisierten Medizin. »Wenn wir wissen, welche Rolle bestimmte Genvarianten bei Herz-Kreislauf-Krankheiten spielen, können wir auch individuell therapieren.« Ein Beispiel ist Cholesterin: Zu viel von dem Blutfett lässt Gefäße verkalken und das Risiko für Durch­blutungsstörungen, Herzinfarkt und Schlaganfall steigt. »Kennen wir aber die SNPs, die bei einem Menschen die Aktivität der cholesterinabbauenden Stoffwechselwege hemmen, können wir frühzeitig eingreifen.« Der Patient könnte schon in jungen Jahren regelmäßig zu Kontrolluntersuchungen geladen werden und bekäme, wenn nötig, cholesterinsenkende Medikamente verschrieben. Damit würde die Medizin nicht mehr nur auf eine Krankheit reagieren, sondern hätte nötiges Wissen, um voraussehend zu agieren.

Vereinfachte Darstellung eines gefalteten neuronalen Netzwerks (Convolutional Neural Network). Die Eingabedaten (links) werden mithilfe von automatisch gelernten Rastern auf einzelne Merkmale in mehreren Schichten reduziert. Dann werden alle Merkmale aneinandergereiht und  in weiteren Schichten miteinander kombiniert, um ein optimales Ergebnis zu erzeugen (rechts). Abbildungen: Marcel Schulz

Mutation der Blutstammzellen

Andere Werkzeuge, mit denen Schulz arbeitet, sind im Bereich Maschinelles Lernen angesiedelt, einem Zweig der Künstlichen Intelligenz. Multimodale Autoencoder gehören dazu. Sie sind vor allem gut darin, die eingehenden Daten, zum Beispiel Daten von Genaktivitäten, zu komprimieren. Also die gleiche Menge Daten mit weniger Bits zu kodieren und diese dann in einem »latenten Raum« abzulegen, einer Art Übergangsraum. Die Komprimierung erlaubt es, das »Rauschen« überflüssiger Informationen beiseitezuschieben und nur die wichtigsten Daten­bestandteile aufzunehmen. So lassen sich versteckte Muster in den Daten leichter finden. Die Originaldaten gehen dabei nicht verloren: Der Autoencoder kann diese problemlos rekonstruieren. Schulz nutzt ihn, um therapeutische Zielstrukturen zu finden, die in der Behandlung von chronischer Herzinsuffizienz helfen könnten. Einer der Risikofaktoren für chronische Herz­insuffizienz sind Mutationen in Blutstammzellen des roten Knochenmarks, durch die die Nachkommen dieser Blutstammzellen einen gewissen Vorteil erlangen, wodurch eine Ansammlung veränderter Blutzellen entsteht, ein Klon. Dieses Phänomen wird als klonale Hämatopoese mit unbestimmtem Potenzial (CHIP) bezeichnet. CHIP ist zwar selbst keine Krankheit, kann aber Erkrankungen verursachen. Auch hier sind wieder die Genvariationen im Spiel: Bei Patienten, die an chronischer Herzinsuffizienz leiden, wurde festgestellt, dass CHIP und SNPs in bestimmten Genen zusammen auftreten. Ein Fall für den Autoencoder. Mit diesem ordnet Schulz die Aktivitäten von ungefähr 20 000 Genen aus einem Datensatz von Patienten, die unter chronischer Herzinsuffizienz leiden. Auch hier geht es in Richtung personalisierte Medizin: »Wir wollen auf Grundlage der Daten eines einzelnen Patienten vorhersagen können, ob ein bestimmtes Medikament die Genexpression, also die Bildung von RNA-Molekülen oder Proteinen, positiv beeinflussen würde. Dafür vergleichen wir die Genexpression von kranken und gesunden Menschen.«

Herzrhythmuskontrolle

Neuronale Netze (Deep Neuronal Networks, DNNs) ahmen die Funktionsweise des menschlichen Gehirns nach. Auch sie gehören zum Bereich Maschinelles Lernen. Schulz arbeitet mit einer häufig eingesetzten Spezialform, den Convolutional Neuronal Networks (CNNs), zu Deutsch: gefaltete neuronale Netze. Diese stellen ein vereinfachtes Abbild der neuronalen Verschaltung der Sehrinde dar und funktionieren so: Die oberste Verarbeitungsschicht zieht einfache Merkmale aus dem Daten-Input und gibt sie an die hinteren Schichten weiter. Dort werden die extrahierten Merkmale miteinander kombiniert, Vermaschung nennt sich dieser Vorgang. »Nehmen wir mal an, die vordere Schicht hat 100 Merkmale extrahiert. Jedes Neuron in der hinteren Schicht hat Zugriff ­darauf. Besteht die Vermaschungsschicht zum Beispiel aus 50 Neuronen, sind es 100 mal 50 Kombinationen, die das Netzwerk lernt, also 5 000. So erzeugt es den gewünschten Output.«

CNNs sind für die Verarbeitung vieler unterschiedlicher Daten gut. Schulz hat eines ent­wickelt, das Elektrokardiogramm-Daten analysiert. Es könnte in Zukunft in kleinen Computerchips stecken, die Menschen mit Herzrhythmusstörungen implantiert bekommen, sogenannte Herzmonitore. Diese Geräte werden im Brustbereich unter die Haut implantiert, zeichnen die Herzströme auf und können so auch unauffällige Arrhythmien sichtbar machen. Das CNN von Schulz ist speziell für Vorhofflimmern entwickelt worden. Was es zur Überwachung der Herztätigkeit genau macht? Nachdem die vorderste neuronale Schicht des künstlichen neuronalen Netzes die Spitzen und Steigungen der EKG-Signale aufgenommen hat, verarbeiten die hinteren Schichten die Kombination dieser Signale, um zu entscheiden, ob sich die Länge der Wellen verändert hat. Dabei schiebt das CNN seine eigenen erlernten EKG-Kurven über das empfangene EKG-Signal. Sobald es Herzrhythmusstörungen erkennt, schlägt es Alarm. »Unser CNN ließe sich auf unterschiedliche Arrhythmien ausweiten, ohne dass sich dadurch der Energie­verbrauch des Herzmonitors erhöht«, erklärt Schulz. Was für Patienten künftig von Vorteil sein könnte: Die Batterie hält länger und das Gerät muss seltener ausgetauscht werden. Im besten Fall gar nicht. Auch für implantierte Defibrillatoren, die bei Arrhythmien einen Impuls abgeben und diese so unterbrechen, wäre das CNN geeignet.

Erklärbare KI

Schulz hat noch viel vor mit den gefalteten ­neuronalen Netzen. Momentan werden sie so trainiert, dass sie atypische Genaktivitäten in mehr als 50 Zelltypen vorhersagen können. »Wir bauen dabei für jeden Zelltyp ein eigenes CNN, das lernt, welche Faktoren in der DNA-Sequenz bei seinem speziellen Zelltyp wichtig sind. Einige dieser Faktoren gibt es nur bei diesem einen Zelltyp, sie sind zelltypspezifisch. So etwas lernen die CNN-Algorithmen von ganz alleine. Wir müssen es ihnen nicht beibringen.«

Beim Thema Vorhersagen hält Schulz den Aspekt Explainable KI für wichtig. Künstliche Intelligenz lernt zwar, die komplexen Zusammenhänge von Merkmalen zu interpretieren, gibt aber keine Auskunft darüber, was sie da eigentlich gelernt hat. »Erschwerend kommt hinzu, das künstliche neuronale Netze viele nichtlineare Zusammenhänge lernen. Die sind für uns Menschen schwer nachvollziehbar.« Daher braucht es in Zukunft eine KI, die nicht nur hilft, die Ursachen von Herz-Kreislauf-Erkrankungen zu finden, sondern auch offenlegt, wie ihre Ergebnisse zustande kommen.

Foto: Arezoo Haghiri

Zur Person / Marcel Schulz, Jahrgang 1981, ist Professor für Künstliche Intelligenz in der Genomforschung und hat das neue Institut für Computational Genomic Medicine gegründet. In Berlin studierte er Bioinformatik und promovierte 2010 am Max-Planck-Institut für Molekulare Genetik. Es folgte ein Postdoc-Aufenthalt an der US-amerikanischen Carnegie Mellon University in Pittsburgh. Danach war Schulz Gruppenleiter am Max-Planck-Institut für Informatik und an der Saarland-Universität Saarbrücken, bevor er ab 2018 an der Goethe-Universität Frankfurt im Institut für Kardiovaskuläre Regeneration arbeitete. Schulz ist Mitglied des Exzellenz­clusters Cardio-Pulmonary Institute (CPI) und des Deutschen Zentrums für Herz-Kreislauf-Forschung (DZHK).
marcel.schulz@em.uni-frankfurt.de

Foto: privat

Der Autor / Andreas Lorenz-Meyer, Jahrgang 1974, wohnt in der Pfalz und arbeitet seit 16 Jahren als freischaffender Journalist mit Schwerpunkt Klimaforschung, erneuerbare Energien, Digitalisierung, Biologie. Er veröffentlicht in Tageszeitungen, Fach­zeitungen, Universitäts- und Jugendmagazinen.
andreas.lorenz.meyer@nachhaltige-zukunft.de

Zur gesamten Ausgabe von Forschung Frankfurt 1/2024: Vom Molekül zum Menschen

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