Kritische Theorie: Schweppenhäuser-Nachlass im Archivzentrum der Uni-Bibliothek

Das Archivzentrum der Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg konnte seine Materialien zur kritischen Theorie um den Nachlass des Philosophen Hermann Schweppenhäuser (1928-2015) erweitern. Schweppenhäuser promovierte 1956 am wiedereröffneten Institut für Sozialforschung, war bis 1961 Assistent von Theodor W. Adorno und gehörte zu den einflussreichsten Philosophen der Frankfurter Schule. Der Nachlass umfasst circa 75.000 Seiten mit wertvollen und zahlreichen unveröffentlichten Archivalien und ist zu wissenschaftlichen Zwecken im Archivzentrum einsehbar.

„Damit wird unser Archivbestand zur kritischen Theorie und Frankfurter Schule erheblich erweitert“, freut sich der Leiter des Archivzentrums Dr. Mathias Jehn. „Bereits in unseren Beständen ist unter anderem der Nachlass von Max Horkheimer, Herbert Marcuse und Ludwig von Friedeburg sowie die Vorlässe von Jürgen Habermas und Oskar Negt.“ Darüber hinaus befinden sich das Adorno-Archiv und ein wertvoller Altbestand aus den 1950er und 1960er Jahren im Institut für Sozialforschung. Noch ist der Schweppenhäuser-Nachlass nicht komplett aufgearbeitet: „Das wird wegen des großen Umfangs mindestens noch zwölf Monate in Anspruch nehmen“, so Jehn. Aber der aus zahlreichen Korrespondenzen mit der internationalen philosophischen Fachwelt, teilweise unveröffentlichte wissenschaftliche Manuskripte sowie vereinzelt private Dokumente bestehende Nachlass ist nun komplett in Frankfurt und wurde der Bibliothek vom Sohn des Philosophen, Gerhard Schweppenhäuser, überlassen.

1961 wechselte Hermann Schweppenhäuser, ein gebürtiger Frankfurter, nach Lüneburg: Dort war er auf den neugegründeten Lehrstuhl für Philosophie an der Pädagogischen Hochschule berufen worden. Was eigentlich nur eine Zwischenetappe werden sollte, blieb eine akademische Lebensstellung mit einer Honorarprofessur an der Goethe-Universität. Adorno hatte sich das offensichtlich auch anders vorgestellt; in einer Karte vom 14. Oktober 1960 aus Graz, die auch im Nachlass befindet, gratulierte er Schweppenhäuser „aufs allerherzlichste“ zu seiner Lüneburger Berufung und fügte hinzu: „Mein Wunsch, daß Sie die Position einnehmen, die Ihnen sicher manche wesentliche Erfahrung einbringen wird, verbindet sich mit dem, daß Sie rasch habilitiert werden – und bei uns bleiben!“

Doch die kritische Theorie der Frankfurter Schule, die von den meisten beteiligten Wissenschaftlern nie als ein geschlossener Kreis mit einer einheitlichen Theorie gesehen wurde und wird, entwickelte sich in eine andere Richtung, so wurde Schweppenhäuser nicht an die Goethe-Universität berufen. Habermas, der 1964 die Nachfolge von Horkheimer in Frankfurt antrat, wehrte sich mehrfach öffentlich gegen „eine bruchlose Zurechnung zur Kritischen Theorie“, obwohl er Adorno verehrt hat – wie sein Biograf Stefan Müller-Doohm feststellt. Habermas entwickelte seine eigenständige Idee einer Kommunikationstheorie der Gesellschaft, „die sich nicht als Transformation, sondern ganz als Alternative zur Kritischen Theorie der Gesellschaft versteht“, so Müller-Doohm in einem Beitrag in der Frankfurter Allgemeinen (2016). Habermas teilt zwar die Kritik von Adorno und Horkheimer an der einseitig technisch-ökonomischen Rationalisierung der modernen Kultur und Gesellschaft, wählt aber einen anderen Blickwinkel und fokussiert seine Diagnose auf ein „problematisches Primat der Ökonomie vor der demokratisch legitimierten Politik, mit der Gesellschaften auf sich selbst einwirken“, so Müller-Doohm.

Roger Behrens beurteilt in seinem Nachruf in der Wochenzeitung „jungle world“ (2015) kritisch, dass Schweppenhäuser an der Goethe-Universität keine Chance bekam: „Schweppenhäusers Philosophie ist der Versuch, kritische Theorie […] zu begründen, ohne in die Falle des Normativitätspostulats zu tappen, wie etwa Jürgen Habermas und die ihm folgenden Akademiker […]. Hermann Schweppenhäuser – übrigens ein Jahr älter als Habermas – hat dementgegen energisch am Postulat der kritischen Theorie festgehalten, im Sinne Horkheimers und Adornos, im Sinne Karl Marx und im Sinne Kants – als radikale Aufklärung [und] Herrschaftskritik.“

Der Nachlass macht, obwohl noch nicht vollständig ausgewertet, deutlich: Schweppenhäuser prägte durch zahlreiche Aufsätze, die international rezipiert und teilweise übersetzt wurden, den Diskurs über Adorno und Benjamin entscheidend mit. Schweppenhäuser formulierte eine Version kritischer Theorie, „die den Grundintentionen von Horkheimer und Adorno nähersteht als die kommunikationstheoretisch reformierte Frankfurter Schule durch Habermas und seine Nachfolger“, so sein Sohn Gerhard Schweppenhäuser. Seine Vorlesungen, beispielsweise zur „Charakteristik des Adornoschen Denkens“ oder zur „Dialektik der Aufklärung“ ermöglichten in Lüneburg wie in Frankfurt ein „authentisches Studium“ der kritischen Theorie.

Hermann Schweppenhäuser mit Rolf Tiedemann; © Archivzentrum der Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg
Hermann Schweppenhäuser mit Rolf Tiedemann; © Archivzentrum der Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg

Schweppenhäuser befasste sich in seinen philosophischen Schriften mit der Selbstreflexion des dialektischen Denkens, der Sprachphilosophie, der Ästhetik und der Kultur- und Zeitkritik sowie mit dem Verhältnis von Philosophie und Theologie. In den 1970er Jahren gab er gemeinsam mit Rolf Tiedemann die Gesammelten Werke Walter Benjamins im Suhrkamp Verlag heraus. Der Nachlass wird mit der Signatur „Na 77 Nachlass Hermann Schweppenhäuser“ umfasst zahlreiche unveröffentlichte Texte, die ein breites Spektrum umfassen: von fachwissenschaftlichen Erörterungen über anspruchsvoll formulierte Aphorismen und Fragmente bis hin zu literarischen Produktionen aus den Bereichen der Lyrik und Kurzprosa. Auch dramatische Versuche aus der Studentenzeit warten im Archiv auf ihre Erschließung. In der Gedenkschrift „Bild und Gedanke“, die 2016 erschien, wurde eine erste, kleine Auswahl Aphorismen aus dem Nachlass publiziert.

Aus der umfassenden Korrespondenz, die ebenfalls Bestandteilen des Nachlasses ist, lässt sich erkennen, wie eng der Philosoph im Dialog mit international renommierten Wissenschaftlern stand – dazu gehören u.a.: Girogio Agamben (Italien), Siegfried Kracauer (USA), Herbert Marcuse (USA), Gerard Raulet (Frankreich), Gershom Scholem (Israel), Gary Smith (USA), Ulrich Sonnemann (Deutschland) und Moshe Zuckermann (Israel).

Quelle: Pressemitteilung vom 19. Januar 2017

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