Wie die klassische Methode der Hirnstrommessung bei der Schlaganfalltherapie eine Renaissance erlebt
Die klinische Neurophysiologie befindet sich in einer spannenden Phase. Dank neuer wissenschaftlicher und technischer Entwicklungen können motorische Netzwerke im Gehirn besser erforscht – und seit Kurzem auch nichtinvasiv therapiert werden. Für maßgeschneiderte Therapien bei Schlaganfällen kombiniert der Neurologe Christian Grefkes-Hermann am Universitätsklinikum Frankfurt die klassische Hirnstrommessung mit Magnetfeldern, die das Hirn stimulieren.

Beginnen wir mit der guten Nachricht: In den vergangenen 25 Jahren hat sich die Sterblichkeitsrate nach einem Schlaganfall mit 15 Prozent nahezu halbiert. Der Grund ist eine verbesserte Akutbehandlung in sogenannten Stroke Units der Kliniken. Wenn es im Gehirn durch einen Gefäßverschluss oder, seltener, durch eine Hirnblutung zu einer Durchblutungsstörung kommt, löst diese »schlagartig« Lähmungen, Sprach- und Sehstörungen und andere Beeinträchtigungen aus. Wird ein Gefäßverschluss nicht wenige Stunden nach dem Anfall behoben, bleiben schwere Funktionsausfälle und der Patient kann an den Folgen der Ausfälle versterben.
Nach der Devise »Time is brain« sorgen bereits seit vielen Jahren effektive Verfahren dafür, dass die Nervenzellen blockierter Gehirnareale kurzfristig wieder mit Sauerstoff und anderen Substraten versorgt werden. So werden Blutgerinnsel in Gefäßen durch Medikamente aufgelöst oder mit einem Katheter operativ entfernt. Die Folge: Bei knapp einem Drittel aller Schlaganfallpatienten bleibt keine motorische oder sprachliche Einschränkung zurück. Als Begleiterscheinung hat sich die Neurologie vom medizinischen Spezialfach zur anerkannten »Notfallmedizin« entwickelt.
Die schlechte Nachricht ist, dass Schlaganfälle in Deutschland immer noch die häufigste Ursache für eine erworbene Behinderung sind. Jedes Jahr erleiden hierzulande rund 270 000 Menschen einen Hirninfarkt – angesichts der demographischen Entwicklung ist in den kommenden Jahrzehnten zudem mit einer größeren Zahl von Patientinnen und Patienten zu rechnen. Auch wenn die Akutbehandlung also Leben rettet: Sie kann nicht verhindern, dass über die Hälfte aller Patientinnen und Patienten danach mittel bis schwer beeinträchtigt sind. Und schlimmer noch: Schlaganfallpatienten, die die postakute Rehabilitation durchlaufen haben und bei denen Lähmungen und Koordinationsstörungen zurückbleiben, bleiben danach oft unversorgt mit weiteren Therapien. »Wir können davon ausgehen, dass es derzeit rund eine Million Überlebende von Schlaganfällen gibt«, beschreibt der Neurophysiologe und Neurologe Prof. Christian Grefkes-Hermann die Lage. Dass die Medizin diese Menschen nach Akutbehandlung und Reha »quasi aus den Augen verliert«, ist für ihn ein Zustand, der sich unbedingt ändern muss.
Individuelle Therapie
Grefkes-Hermann ist Experte in der Erforschung motorischer Netzwerke des Gehirns und der Rehabilitation motorischer Störungen nach Hirnschädigungen und seit 2023 Direktor der Klinik für Neurologie am Zentrum für Neurologie und Neurochirurgie am Universitätsklinikum Frankfurt. Sein Ziel ist, für Patientinnen und Patienten mit Schlaganfall und anderen Erkrankungen wie Morbus Parkinson, Entzündungen des Gehirns oder des peripheren Nervensystems Therapien anzubieten, die die Funktionserholung verbessern. Genauer noch: Vernetzt mit Kolleginnen und Kollegen angrenzender Disziplinen wie Neurochirurgie, Neuroradiologie, Gefäßchirurgie und Kardiologie sollen Schlaganfallpatienten in Frankfurt individualisiert therapiert werden können – wie dies bei Krebs oder Herzerkrankungen bereits zunehmend der Fall ist.
Eine grundlegende Voraussetzung dafür, den Standort Frankfurt als deutsches Spitzenzentrum der Neurologie auszubauen, wurde erst kürzlich geschaffen: Die Neurologie hat ein neues, größeres Haus auf dem Gelände des Universitätsklinikums bekommen, damit ist Platz für eine vergrößerte Stroke Unit zur Akutbehandlung von Patienten und die geplante Hirnstimulationsambulanz zur weiteren therapeutischen Behandlung von Schlaganfallpatienten.
Dynamisches Netzwerk
Auch andere Gründe sprechen dafür, dass der Frankfurter Neurologe nichtinvasive neurophysiologische Diagnosen und Therapien von Menschen mit Hirnverletzungen in naher Zukunft deutlich weiterentwickeln werden kann: In den vergangenen 15 Jahren haben technische und wissenschaftliche Entwicklungen das medizinische Wissen über die »Kartographie« des Gehirns enorm wachsen lassen. »Auch wenn wir die Funktionen des Gehirns noch gar nicht vollständig verstehen«, wie Grefkes-Hermann einschränkt – klar ist, dass das Gehirn des Menschen, das einzigartige und komplexe Phänomene wie Sprache, Gedächtnis, Emotionen und Motorik steuert, vor allem als ein dynamisch funktionales hochkomplexes Netzwerk verstanden werden muss: Seine kognitiven Funktionen sind weniger auf einzelne spezialisierte Areale zurückzuführen, sondern beruhen entscheidend auf der Vernetzung und Interaktionen von Arealen.
Wie Gehirnareale zusammenwirken, aber auch wie sich Funktionen von Netzwerken im Gehirn selbst regenerieren und neu strukturieren, indem etwa benachbarte oder auch weiter entlegene Regionen Aufgaben geschädigter Regionen übernehmen – dazu bringt Grefkes-Hermann fundamentale Kenntnisse aus den beruflichen Stationen mit, die er vor der Goethe-Universität durchlaufen hat. Als Leitender Oberarzt und Professor für Schlaganfall und Neurorehabilitation an der Uniklinik Köln und als Leiter einer Arbeitsgruppe zunächst am Max-Planck-Institut für neurologische Forschung Köln, dann am Institut für Neurowissenschaften und Medizin des Forschungszentrums Jülich beschäftigt er sich seit vielen Jahren mit Netzwerken des Gehirns sowie den Mechanismen der funktionellen Erholung und den Effekten der Hirnstimulation. Dabei hat er auch laufende Forschungsprojekte der Deutschen Forschungsgemeinschaft mit nach Frankfurt gebracht.
Renaissance des EEG

Bei der Diagnose von Schlüsselmechanismen von Hirnaktivitäten hat der Neurophysiologe zusammen mit seinem Team einem nichtinvasiven Verfahren zur Renaissance verholfen: der Elektroenzephalographie (EEG). Dieses Verfahren der Hirnstrommessung wurde nach seiner Entdeckung vor ziemlich genau 100 Jahren vor allem für die Epilepsiediagnostik eingesetzt, dann aber seit den 1990er und 2000er Jahren verstärkt zur Hirnfunktionsanalyse nach einem Schlaganfall genutzt. Das EEG ist dann durch die Einführung von neuen bildgebenden Verfahren mit besserer räumlicher Auflösung wie der funktionellen Magnet-Resonanz-Tomographie (fMRT) in den Hintergrund geraten. Die Elektroenzephalographie basiert darauf, dass Nervenzellen elektrische Felder erzeugen, die außerhalb des Gehirns messbar sind. Diese Messung geschieht durch Elektroden, welche auf der Kopfoberfläche angebracht werden. So entstehen Zeitreihen der einzelnen Elektroden, welche Informationen über Gehirnfunktionen in Echtzeit liefern. Während das etwa durch sensiblere Sensoren technisch weiterentwickelte EEG immer differenziertere Einblicke in zeitliche Abläufe von Nervenzell-Aktivitäten in Millisekunden gibt, fasziniert das bildgebende Verfahren der fMRT durch seine millimetergenaue hohe räumliche Auflösung.
Für seine Forschung und Therapie macht sich Grefkes-Hermann nun die Eigenschaften beider Verfahren zunutze: einerseits zeitliche Abläufe von Hirnaktivitäten zu dokumentieren, andererseits räumliche Bilder von Hirnaktivitäten zu liefern. Zur Diagnose setzt Grefkes-Hermann vor allem das EEG ein – auch deshalb, weil es für den breiten klinischen Einsatz »wesentlich günstiger und leichter handhabbar ist als ein MRT«. Die Hirnstrommessung gibt darüber Aufschluss, wo Nervenzellen und Netzwerkknoten krankhaft verändert sind. So können EEG-Messungen etwa vorhersagen, ob und inwieweit Gehirnareale wieder in der Lage sein werden, Signale weiterzuleiten. Ob sie also regenerierbar oder therapierbar sind.
Unterstützt durch Künstliche Intelligenz
In seiner nichtinvasiven Therapie wiederum arbeitet Grefkes-Hermann mit Magnetfeldern, wie man sie von der Magnet-Resonanz-Tomographie kennt und die erstmals 1985 von dem an der Universität Sheffield forschenden englischen Wissenschaftler Anthony Barker vorgestellt wurden. Von außen am Schädel angesetzt, erzeugt die sogenannte transkranielle Magnetstimulation (TMS) über eine Magnetspule etwa 50 Mikrosekunden kurz ein starkes Magnetfeld, das einen schwachen elektrischen Stromfluss in der Hirnrinde anstößt; der Energieimpuls löst eine Kaskade von Aktionspotenzialen aus, über die die Zellmembran einen Reiz an die Nervenzellen weiterleitet. Über die elektrische Erregung werden die Nervenzellen in der Hirnrinde also gezielt stimuliert und auch eine Kommunikation zwischen den Zellen in verbundenen Hirnregionen wird initiiert.
Dass EEG und TMS bei diesem therapeutischen Verfahren aufs Engste aufeinander abgestimmt wirken können, ist auch Künstlicher Intelligenz (KI) zu verdanken. Sie erkennt durch Datenverdichtung erstens aus den Abermillionen Daten der Hirnstrommessung Muster von Nervenzell-Aktivitäten sowie Netzwerkkonfigurationen, also auch Kommunikationswege in miteinander verbundenen Hirnregionen. Zweitens entwickelt KI eine Vorhersage einzelner Wellen der EEG, die eine bestimmte Nervenzelltätigkeit darstellen, die genau im richtigen Moment gezielt durch den Einsatz der Magnetfelder verstärkt oder heruntergedimmt werden soll. »Wenn man Nervenzellen durch Magnetfelder in bestimmten Rhythmen stimuliert«, erklärt der Frankfurter Neurophysiologe, »kann man sie aktivieren oder dämpfen.«
Verschiedene Ursachen
In seiner bisherigen Forschung hat Christian Grefkes-Hermann zum Verständnis dazu beigetragen, wie sich das motorische Netzwerk des Gehirns nach einem Schlaganfall verändert und welche Hirnregionen den Heilungsprozess blockieren. Das Gehirn, erklärt der 47-Jährige, beginne nämlich schon in den ersten Stunden nach einem Schlaganfall mit Reparaturprozessen. »Dabei kann es aber auch schon mal falsch abbiegen.« Will heißen, bestimmte Hirnareale reagierten bei der Regeneration mitunter derart überaktiv, dass sie andere Areale in ihrem Heilungsprozess störten. In anderen geschädigten Hirnarealen wiederum würden die Nervenzellen nicht mehr aktiv. Allerdings habe die Stimulation durch Magnetfelder auch deutlich gemacht, dass auch nicht angeregte Hirnregionen nach einer Magnetfeldstimulierung aktiv und verloren gegangene Funktionen ausführen würden.
Warum aber reagieren Patienten unterschiedlich auf die Therapie? Gleiche Symptome nach einem Schlaganfall, hat die EEG-TMS-Diagnose und -Therapie gezeigt, haben im Gehirn verschiedene, höchst individuelle Ursachen. »Die Reorganisationspfade im Gehirn können sehr verschieden sein. Jede Region ist einzigartig vernetzt und antwortet anders«, sagt Grefkes-Hermann. »Das erklärt, warum Therapien nicht bei jedem Patienten gleich effektiv sind, wir die jeweilige Schädigung genau kennen und individuell behandeln müssen.« Dabei spiele nicht nur eine Rolle, wann und wo Gehirnareale geschädigt worden seien: Auch Alter, Geschlecht und weitere Faktoren beeinflussten die Fähigkeit des Gehirns, sich zu regenerieren.
Das Gehirn stimulieren
Für alle Patienten dagegen gilt: »Postakut therapieren heißt: Je schneller nach einem Schlaganfall behandelt wird, desto besser.« Verläuft eine mehrere Stimulationen umfassende Therapie des motorischen Zentrums erfolgreich, so können zuvor halbseitig motorisch eingeschränkte Patienten die Bewegungen ihres Arms wieder gezielt steuern. Überraschend sei, sagt Grefkes-Hermann, dass manche Patienten etwa auch von einer besseren Kontrolle der Mundmuskulatur berichteten. So liefert die Schlaganfalltherapie Erkenntnisse, die wiederum in Grundlagenforschung des menschlichen Gehirns einfließen.
Die magnetische Hirnstimulation zeigt sich in der therapeutischen Praxis besonders effektiv, wenn sie unmittelbar vor einer Physio- und Ergotherapie durchgeführt wird. Auch aus diesem Grund arbeitet Grefkes-Hermann mit Hochdruck daran, dass die EEG-TMS-Therapie möglichst bald auch in Rehabilitationszentren eingesetzt werden kann. »Es besteht ein sehr großer Bedarf, die noch sehr traditionellen Reha-Verfahren um innovative Hirnstimulation zu ergänzen«, betont er. Eine Voraussetzung dafür sei, dass an der Therapie beteiligte Berufsgruppen – von der Medizinischen Fachkraft über die Medizinisch-Technische Assistenz bis zu den Ärztinnen und Therapeuten – in diesen neuen Therapieverfahren geschult würden. »Bisher ist der Einsatz der nichtinvasiven Therapiemethoden im klinischen Alltag kaum geregelt«, so Grefkes-Hermann. »Zwar gibt es internationale Empfehlungen, wie man eine Magnetstimulation einsetzen sollte, dies wird aber nicht immer umgesetzt.« Daher treibt der Frankfurter Neurologe auch die Ausbildung in diesem Bereich voran, beispielsweise durch die Entwicklung eines Curriculums im Rahmen der Fortbildungsakademie der »Deutschen Gesellschaft für Klinische Neurophysiologie und funktionelle Bildgebung«. Aber auch die geplante Frankfurter Stimulationsambulanz für Schlaganfallpatienten wird ein solcher Ort der Fortbildung sein. Deren Öffnung erwarten Christian Grefkes-Hermann, sein Team sowie Kolleginnen und Kollegen anderer Disziplinen am Universitätsklinikum mit freudiger Ungeduld. »Denn wenn ein vorher halbseitig gelähmter Patient wieder eigenständiger seinen Alltag gestalten kann, dann bedeutet das soziale Teilhabe und Wiedergewinn von Lebensqualität. Und die wiederherzustellen«, sagt Grefkes-Hermann, »darum geht es uns schließlich.«

Zur Person / Christian Grefkes-Hermann, Jahrgang 1977, hat Humanmedizin in Düsseldorf, Sydney und London studiert, wurde 2005 an der Universität Düsseldorf promoviert und habilitierte sich 2011 an der Universität zu Köln. 2013 wurde er zum Universitätsprofessor für Schlaganfall und Neurorehabilitation an der Universität zu Köln ernannt, womit die Leitung der Arbeitsgruppe »Rehabilitation kognitiver Störungen« am Forschungszentrum Jülich verbunden war. 2023 folgte er einem Ruf an die Goethe-Universität und leitet seitdem als Direktor die Klinik für Neurologie des Universitätsklinikums Frankfurt. Grefkes-Hermann ist Past-Präsident der Deutschen Gesellschaft für Klinische Neurophysiologie und Funktionelle Bildgebung (DGKN) und Sprecher des Interdisziplinären Neurovaskulären Netzwerks Rhein-Main.
grefkesh@uni-frankfurt.de

Die Autorin / Pia Barth hat Philosophie und Literaturwissenschaft studiert und arbeitet als Referentin für Wissenschaftskommunikation und Öffentlichkeitsarbeit an der Goethe-Universität.
p.barth@em.uni-frankfurt.de
Zur gesamten Ausgabe von Forschung Frankfurt 1/2024: Vom Molekül zum Menschen