»Social Distancing« / Interview mit den Physikern Roser Valenti und Claudius Gros

Die Entwicklung der Covid-19-Fallzahlen im XI-Diagramm. Aufgetragen wurden die über eine Woche gemittelten tagesaktuellen Fallzahlen (y-Achse), jeweils als Funktion der Gesamtanzahl der Fälle. Die Datenpunkte, die jeweils einem Tag entsprechen, wurden relativ zur Gesamtbevölkerung des Landes, hier Deutschland, Italien und die USA, normiert. Spezifische Tage wurden gekennzeichnet, z. B. steht A24 für den 24. April. (Abb. Lukas Schneider)

Die Physiker Roser Valenti und Claudius Gros haben sich mit den sozioökonomischen Folgen von »Social Distancing« beschäftigt.

UniReport: Sehr geehrte Frau Valenti, sehr geehrter Herr Gros, tagesaktuelle Fallzahlen sind wichtig, um das Ausmaß der Corona-Pandemie zu verstehen, daher auch die regelmäßigen Pressekonferenzen des Robert-Koch-Instituts (bis Anfang Mai). Sie sagen aber in Ihrer Studie, dass die Orientierung an aktuellen Fallzahlen allein nicht ausreiche. Warum?

Roser Valenti / Claudius Gros: Wir haben ein Modell entwickelt, das zwei Arten von Strategien zur Eindämmung einer Epidemie beschreibt, je nachdem ob Politik und Gesellschaft auf die Entwicklung der Tages- oder der Gesamtzahlen reagieren. Solange die Fallzahlen steigen, also bis zum Maximum, gibt es nur minimale Unterschiede zwischen den zwei Strategien. Das liegt daran, dass beide das Nahziel haben, zunächst den Anstieg der Neuerkrankungen zu stoppen. Das spiegelt sich auch in der Abbildung wider. Diese zeigt, dass sich die anfänglichen Entwicklungen in Deutschland, Italien und den USA sehr ähnlich sind.

Abgesehen von den absoluten Fallzahlen, die natürlich auch länderspezifisch sind, unterscheiden sich die einzelnen Länder insbesondere bzgl. der Geschwindigkeit, mit der der Covid-19-Ausbruch wieder abebbt. Unsere Analyse ergibt, dass Deutschland/Italien/USA zu 88/31/9 Prozent eine langfristige Strategie verfolgen (welche sich an den Gesamtfallzahlen orientiert) und zu 22/69/91 Prozent eine kurzfristige Strategie (welche auf die tagtäglichen Neuererkrankungen reagiert). Eine kurzfristige Strategie birgt also die Gefahr, den Verlauf der Epidemie übermäßig zu strecken.

Prof. Claudius Gros

Sie haben sich gegen eine frühe Lockerung von »Social Distancing« ausgesprochen [was aber jetzt allmählich umgesetzt wird].

Es kommt essenziell darauf an, mit welchen begleitenden Maßnahmen der Lockdown durch die Lockerung ersetzt wird. Im Prinzip kann jede Epidemie, auch Covid-19, effektiv eingedämmt werden, wenn massiv getestet wird und die dadurch aufgedeckten Infektionsketten systematisch verfolgt werden. „ Social Distancing“ kann daher stark zurückgefahren werden, wenn gleichzeitig massive Test-Kampagnen geplant und durchgeführt werden. Dies ist in Deutschland leider nicht der Fall – auch wenn wir bisher akzeptabel durch die Krise gekommen sind. Es kann als Skandal bezeichnet werden, dass derzeit 50 bis 60 Prozent weniger Covid-19-Tests durchgeführt werden, als möglich wären. Es wäre im Gegenteil notwendig, unsere Testkapazitäten auf einige Millionen pro Woche auszuweiten und zeitgleich Organistationsstrukturen aufzubauen, mit denen Testkampagnen effektiv durchgeführt werden können. Damit sind die örtlichen Gesundheitsämter überfordert.

Geschaut wird, inwiefern das »Social Distancing « die Ausbreitungsdynamik des Virus beeinflusst. Sie halten aber bestehende Modelle diesbezüglich für nicht ausreichend und haben ein neues Modell vorgeschlagen, mit einem spezifischen »Rückkopplungsparameter «.

Unser Ziel ist es gewesen, ein Modell zu entwickeln, das mittels einer minimalen Anzahl von Parametern sowohl soziale wie politische „Social Distancing“ Maßnahmen in die Ausbreitungsdynamik einbezieht. Wichtig ist dabei, dass die Effektivität unterschiedlicher Strategien gemessen und für die Zukunft vorhergesagt werden kann. Eine Stärke unseres Modells ist zudem, dass es als Funktion von diesem „Rückkopplungsparameter“ analytisch, d. h. explizit lösbar ist.

Prof. Roser Valenti

In der Diskussion um geeignete Maßnahmen gegen die Pandemie wird immer wieder die so genannte »Herdenimmunität« bemüht. Demnach sei die Gesellschaft geschützt, wenn 66 Prozent der Bevölkerung infiziert worden sei. Sie weisen darauf hin, dass es sich dabei um ein Missverständnis handelt. Könnten Sie das erläutern?

Das Konzept der „Herdenimmunität“ wird leider immer wieder missverständlich dargestellt. Bei einem Reproduktionsfaktor von drei würde bei einer unkontrollierten Ausbreitung der „peak“ in der Tat bei 1 bis 1/3 erreicht werden, also bei einem Durchseuchungsgrad von 66 Prozent. Die Fallzahlen nehmen danach ab, sie sind aber nicht null. Ein unkontrollierter Ausbruch würde erst bei einem Durchseuchungsgrad von 94 Prozent vollständig zum Erliegen kommen. Von einem gesellschaftsweiten Schutz lässt sich bei 66 Prozent daher nicht sprechen.

Die ökonomischen Folgen des »Social Distancing « sind nicht zu unterschätzen, daher neigen manche Politikerinnen und Politiker dazu, schon recht früh die Maßnahmen zu lockern. Viele sprechen sich dabei für einen »Mittelweg« aus, den Sie aber in Ihrer Studie ablehnen. Wie begründen Sie das?

Unsere Studie stellt detaillierte Abschätzungen der medizinischen und sozio-ökonomischen Kosten einer Epidemie bereit. In die Kostenrechnung fließen dabei nicht nur die wirtschaftlichen Folgen des „Social Distancing“ ein, sondern auch der „Wert des Lebens“ an sich. Einen Tod zu vermeiden hat nicht nur einen ethischen Aspekt, sondern auch einen monetären. Unsere Rechnungen zeigen, dass konsequente Unterdrückungsstrategien zu niedrigeren Gesamtkosten führen. Wir sprechen uns aber nicht generell dagegen aus, Eindämmungsbemühungen prinzipiell zu lockern, sondern meinen, dass Lockerungen unbedingt durch zusätzliche Maßnahmen flankiert werden müssen. Hygienekonzepte und Tracing Apps sind hier zwei wichtige Komponenten. Darüber hinaus wäre aber die Kontrolle des Pathogens durch massiv verstärktes Testen notwendig. Andernfalls besteht die Gefahr, dass wir eine endemische Periode einläuten, die erst mit der Entwicklung eines wirksamen Impfstoffs enden würde. Schlussendlich hätten wir dann höhere Gesamtkosten.

In Ihrer Studie trifft Theoretische Physik auf Ökonomie und Medizin. Ist ein interdisziplinärer Ansatz in der Epidemiologie ein Gebot der Stunde? Wie lassen sich statistische und ökonomische Ansätze mit moralisch-ethischen Ansätzen überhaupt in Einklang bringen?

Gesundheit ist immer interdisziplinär. Jedes Gesundheitssystem der Welt, auch das deutsche, beruht auf dem Prinzip des Abwägens mit dem Ziel, eine bestmögliche Versorgung bei vetretbaren Kosten zu erreichen. Bei Corona kommt dazu, dass das Virus nicht nur einzelne Menschen gefährdet, sondern die Grundfesten unserer Gesellschaft. Um das abzuwenden, müssen die Disziplinen zusammenarbeiten.

Würden Sie eine Prognose wagen, wie lange uns die Corona-Pandemie noch beschäftigen wird?

Bezüglich der direkten Auswirkungen sicherlich noch ein Jahr, also bis wir impfen können. Die wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen werden uns mit Sicherheit jedoch deutlich länger begleiten. Mit nur wenigen Unterbrechungen hatten wir in Deutschland in den letzten Jahrzehnten eine lange Periode des „ewigen Wohlstandes“. Corona führt uns vor Augen, dass das keine Selbstverständlichkeit ist.

Die Fragen stellte Dirk Frank

Publikation
Claudius Gros, Roser Valenti, Lukas Schneider, Kilian Valenti, Daniel Gros Containment efficiency and control strategies for the Corona pandemic costs (2020)
Link zur Vorabveröffentlichung: https://arxiv.org/abs/2004.00493

Dieser Artikel ist in der Ausgabe 3.20 des UniReport erschienen.

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