Verengte Herzbahn

Wie Präzisionsmedizin bei Risikoerkennung und Behandlung von Infarkten helfen kann

Ein Meilenstein der modernen Herzmedizin wurde 1977 am Universitätsklinikum Frankfurt gesetzt: Martin Kaltenbach weitete ein verengtes Herzkranzgefäß mit einem Ballonkatheter. Es war der erste Eingriff dieser Art in Deutschland und der zweite weltweit. Heute kombiniert der Direktor der Kardiologie, David M. Leistner, Katheterverfahren mit innovativer Bild­gebung. Sein Ziel: individuelle Therapien in der Herzmedizin, die auf spezifische Krankheitsbilder zugeschnitten sind.

Herzkatheter werden minimalinvasiv in der Regel durch eine Arm-Arterie eingeführt. Am Universitätsklinikum Frankfurt wird die Herzbehandlung durch hochauflösende Bildgebung begleitet. Foto: MAD.vertise/Shutterstock

Unser Herz ist in Hochleistungsorgan: Pro Minute pumpt der faustgroße Hohlmuskel fünf bis sechs Liter Blut durch unseren Körper – über ein Netz von Blutgefäßen mit einer Gesamtlänge von rund 100 000 Kilometern. Von der drei Zentimeter großen Aorta verzweigen sich die Adern immer weiter bis zu Kapillargefäßen, die einen Durchmesser von nur noch fünf Tausendstel Millimeter haben. Für die 60 bis 80 Herzschläge pro Minute muss auch der Herzmuskel selber ausreichend mit sauerstoff- und nährstoffreichem Blut versorgt werden und ist daher von einem dichten Netz von Herzkranzgefäßen durchzogen, die sich ausgehend von der linken und der rechten Herzkranz- oder Koronararterie fein verästeln.

Verengen sich die Koronararterien durch fortschreitende Arterienverkalkung (Arterosklerose), droht ein Herzinfarkt, bei dem die Blutversorgung des Herzmuskels anhaltend gestört ist, Muskelgewebe abstirbt und es zum Herz-Kreislauf-Stillstand kommen kann. Unter Arterosklerose versteht man Ablagerungen in den Gefäßen, sogenannte Plaques, an denen sich Blutgerinnsel (Thromben) bilden können. Diese Thromben können sich lösen und die Koronararterien akut blockieren – ein Herzinfarkt läuft dann ab.

Die genauen Mechanismen, die zur Bildung dieser Blutgerinnsel und somit zum Herzinfarkt führen, sind noch nicht vollständig verstanden. Früher ging man davon aus, dass diese Blutgerinnsel durch einen Riss in der ­Bindegewebshülle um die Plaque und die Freisetzung des darunterliegenden Materials entstehen. Ein Forschungsteam unter der Leitung von Prof. David Leistner, damals noch in der Charité Berlin beheimatet fand jedoch in einer Studie heraus, dass sich Blutgerinnsel auch an unbeschädigten Plaques entwickeln können.

Ablagerungen in Blutgefäßen unterscheiden sich

In der sogenannten OPTICO-ACS-Studie untersuchte das Team 170 Patientinnen und Patienten mit einem akuten Herzinfarkt. Bei etwa einem Viertel der Erkrankten stellten die Forschenden fest, dass nicht ein Riss (Ruptur), sondern eine Abnutzung (Erosion) der Ablagerungen in den Blutgefäßen den Infarkt auslöste.

Die Medizinerinnen und Mediziner stellten fest, dass sich – offenbar wegen der veränderten Blutflussbedingungen an den Gefäßengstellen – aktivierte Immunzellen (T-Lymphozyten) an den Erosionsstellen gesammelt hatten, wo diese zur Schädigung der Innenwand der Blutgefäße beitrugen.

Mithilfe einer speziellen Bildgebungstechnik, der optischen Kohärenztomographie (OCT), konnte die Forschergruppe die Plaques, die den Herzinfarkt auslösen, detailliert analysieren und zuverlässig zwischen Ruptur und Erosion als Auslöser des Herzinfarkts unterscheiden. Anschließend wurde das Blutgerinnsel an der Stelle, die den Infarkt ­ausgelöst hatte, mit einem Absaugkatheter entfernt und zusätzlich Blut zur Unter­suchung von Immunzellen und Entzündungsmarkern entnommen.

Bildgebung für Präzisionstherapie

Mittels hochauflösender Bildgebung werden im Herzkatheterlabor des Universitätsklinikums Frankfurt Plaques in Gefäßen untersucht. Foto: Jürgen Lecher

Die OCT-Bildgebung ist eine Komponente eines Behandlungskonzepts von Leistner, das er zusammen mit seinem Team auch in Frankfurt weiter­entwickelt. Die Behandlung mit dem Herzkatheter, der durch Arm- oder Beinvene eingeführt wird (perkutane Koronarintervention, PCI), wird sowohl in der Planung als auch in der Erfolgskontrolle nach der PCI durch hochauflösende intrakoronare Bildgebung begleitet, wie eben der OCT. »Wir nennen das ›Precision-PCI‹«, erläutert Leistner. »Die Präzisionsmedizin zielt darauf ab, personalisierte Therapien anzubieten, die speziell auf die individuellen Bedürfnisse der Patienten zugeschnitten sind. In der Onkologie und Gynäkologie gibt es bereits seit einiger Zeit maßgeschneiderte Therapien, die basierend auf genetischen und hormonellen Merkmalen entwickelt wurden. In der kardiovaskulären Medizin haben wir diese Herangehensweise jedoch lange Zeit vernachlässigt«, ist der Kardiologe überzeugt.

Welche Folgen Ruptur oder Erosion als Auslöser des sogenannten akuten Koronarsyndroms auf den weiteren Krankheitsverlauf haben, untersuchte Leistner zusammen mit Kolleginnen und Kollegen in einer weiteren Studie, bei der wieder die OCT-Bildgebung zum Einsatz kam. Das akute Koronarsyndrom ist eine Arbeitsdiagnose bei Beschwerden im Brust­bereich, die mehrere Arten von Infarkten und Infarktvorläufern umfasst.

Die Studie umfasste insgesamt 398 Patientinnen und Patienten mit einem akuten Koronar­syndrom, die nacheinander in die Studie aufgenommen wurden. Bei 62 Prozent der Erkrankten waren Plaques gerissen (ruptierte fibröse Kappe, RFC-Erkrankte), 25 Prozent be­saßen intakte ­fibröse Plaque-Kappen (IFC-Erkrankte). Die Krankheitsverläufe beider Gruppen unterschieden sich deutlich: Menschen mit Ruptur hatten ein höheres Risiko für eine ausgeprägte Entzündungsreaktion und außerdem ein höheres Risiko für spätere schwerwiegende kardiovaskuläre Komplikationen.

Besonders bei RFC-Erkrankten könnte daher eine entzündungshemmende Behandlung einer Verschlechterung ihres Zustands vorbeugen. »Die Daten dieser Studie, die wir 2023 auf dem europäischen Kardiologenkongress präsentierten, könnten dazu führen, dass das ›Precisions-PCI‹-Konzept zum interventionellen Standard wird«, hofft Leistner.

Wie sich Plaques bilden

Es sei wichtig zu verstehen, dass nicht alle Plaques gleich sind, erläutert der Kardiologe: »Es gibt verschiedene Arten von Plaques, von verkalkten bis hin zu aktiven, ›vulnerablen‹ Plaques. Vulnerable Plaques haben dünne Kappen, die das Risiko einer Ruptur erhöhen, und enthalten viele Lipide und wenig Kalzium. Solche Plaques sind besonders gefährlich und führen oft zu schwerwiegenden Komplikationen.«

Eine Möglichkeit, Plaques frühzeitig zu erkennen, ist die Verwendung von Computertomographie(CT)-Scans. Mit der neuesten Generation von CT-Geräten könne man sogar gefährliche, instabile Plaques erkennen. »Die Zukunft wird meiner Meinung nach darin liegen, dass Menschen zwischen 40 und 65 Jahren einer CT-Untersuchung unterzogen werden, um fest­zustellen, ob sie gefährdete Plaques haben«, sagt Leistner. »Falls ja, müssen präventive Maß­nahmen ergriffen werden, wie zum Beispiel die Senkung des Cholesterinspiegels oder die Behandlung von Entzündungen, um die Stabilität der Plaques zu verbessern. Um diese Mechanismen genauer zu untersuchen und besser zu verstehen, nutzen wir sowohl klinische als auch translationale Modelle.«

So werden beispielsweise Plaqueproben analysiert, die im Rahmen von Katheteruntersuchungen entnommen wurden. »Dabei schauen wir uns die molekularen Grundlagen dieser Plaques an, wie das genetische Profil aussieht und welche Stoffwechselwege aktiv sind. Wir untersuchen auch Entzündungsprozesse und die Bildung von Proteinen, die mit der Plaque­bildung in Verbindung stehen.« Parallel dazu würden die Forschenden Mäusemodelle ein­setzen, um die Plaquebildung genauer zu untersuchen. »So können wir die zugrunde liegenden Mechanismen besser verstehen. Insbesondere interessiert uns, warum bestimmte Plaques, die nicht entzündlich verändert sind, dennoch zu gefährlichen Komplikationen führen können. Das wird uns ­helfen, neue Ansätze zur Prävention und Therapie von Herz-Kreislauf-Erkrankungen zu entwickeln.«

Rilke-Gedicht zur Früherkennung

Die Digitalisierung, beispielsweise die Nutzung von Apps und digitalen Plattformen, bietet laut Prof. Leistner neue Möglichkeiten, um die Gesundheit der Patienten besser zu überwachen und personalisierte präventive Strategien umzusetzen oder anzupassen. Eines der Forschungsprojekte, an dem das Team derzeit arbeitet, ist die Nutzung der Stimmanalyse zur Erkennung von Herzproblemen. »Indem eine Person ein Rilke-Gedicht vorliest und dabei via Smartphone-App aufgenommen wird, kann man anhand der Stimme erkennen, ob das Herz ­richtig pumpt oder ob Flüssigkeit im Herzen zurückgehalten wird. Diese Art der Über­wachung könnte eine wirksame Methode zur Früherkennung von Herzproblemen sein«, so Leistner abschließend.

Foto: Jürgen Lecher

Zur Person / David Manuel Leistner, Jahrgang 1981, folgte 2022 einem Ruf auf eine W3-Professur für Innere Medizin mit dem Schwerpunkt Kardio­logie an die Goethe-Universität und leitet seither als Direktor die Klinik für Kardiologie und Angiologie. Nach der Promotion an der Ludwig-Maximilians-Universität in München folgten die Habilitation an der Charité – Universitätsmedizin Berlin und ein Ruf auf eine dortige W2-Professur für Interventionelle Kardiologie. Von 2017 bis 2022 war er Geschäftsführender Oberarzt in der Klinik für Kardiologie an der Charité und leitete das Programm für minimalinvasiven Aortenklappenersatz per Herzkatheter (TAVI) und die Herzkatheterlabore. Seine wissenschaftlichen Schwerpunkte liegen bei der translationalen Forschung zur Pathophysiologie des akuten Koronarsyndroms, der interventionellen Kardiologie mit intrakoronarem Imaging und CHIP-Interventionen, der digitalisierten »Präzisions-Herzmedizin« für präventive Kardiologie und Herzinsuffizienztherapie und der Gerontokardiologie.
david.leistner@ukffm.de

Foto: privat

Die Autorin / Die Diplom-Biologin Gabi Fischer von Weikersthal erlangte durch ein zweijähriges Volontariat in einem medizinischen Fachverlag sowie Fortbildungen an der Bayrischen Akademie der Presse das handwerkliche Know-how für den Medizin- und Wissenschaftsjournalismus. Schwerpunkte: Berichterstattung von internationalen und nationalen Kongressen oder Pressekonferenzen; Ghostwriting und Fachlektorat im Bereich Medizin/Wissenschaft runden das Portfolio ab. Sie lebt in Germersheim und Lagos im Süden Portugals.
fvwpress@mail.de

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