Was meint Prof. Pierre Monnet, sensibler Beobachter des deutsch-französischen Verhältnisses, zu den Veränderungen in seinem Heimatland und innerhalb der Europäischen Union? Wie betrachtet er die Entwicklung aus der “longue durée”? Der Historiker ist Direktor des mit der Goethe-Universität eng kooperierenden “Institut franco-allemand de sciences historiques et sociales”. Die Fragen stellte Ulrike Jaspers.
Der 39-jährige Präsident Emmanuel Macron und die französische Wende: Die linke Zeitung „La Libération“ sieht schon einen neuen Napoleon am Horizont, andere sprechen von König Emmanuel I., auch Vergleiche mit General Charles de Gaulle werden laut. Wie sehen Sie dies als Historiker?
Diese Vergleiche kann man aus der Perspektive einer Sensationspresse verstehen. Sie stimmen aber nicht: Napoléon, König Emmanuel I. oder Charles de Gaulle haben alle eine Verfassungs- bzw. eine Regimeänderung eingeführt, so dass man bei manchen sogar von einem Staatsstreich sprechen konnte. Emmanuel Macron bleibt im Rahmen der Institutionen und der Verfassung der 5. Republik, will sie keinesfalls ändern und hat alle Gesetze und Wahlregeln respektiert. Was die Presse oder der öffentliche Diskurs aber mit solchen Vergleichen sagen wollen, ist, dass es einen gewissen Bruch gibt, eine tiefe Änderung im politischen System und im politischen Leben. Es wird zweifelsohne ein „Davor“ und ein „Danach“ erkennbar werden, wenn man die Ära Macrons analysieren wird.
Die Etablierten sind abgesetzt, Emmanuel Macrons seine Bewegung „La République En Marche“ hat bei den Parlamentswahlen 361 von 577 Sitzen errungen. Die Demoskopen hatten noch vor der zweiten Wahlrunde orakelt, es seien 450 Sitze möglich. Dämpft dies und die geringe Wahlbeteiligung – immerhin gingen 57,4 Prozent der Franzosen nicht zur Urne – die Euphorie, die seit der Wahl Macrons über Frankreichs Grenzen hinweg zu spüren ist?
Es ist in der Tat ein großer Sieg für einen Mann und für eine Partei, die es noch vor zwölf Monaten nicht gab. Im politischen Leben Frankreichs, sogar vieler westeuropäischer Länder nach 1945 kann man eine solche Situation nicht beobachten. „Staunen“ wäre viel besser geeignet als „Euphorie“, auch „Erwartung“: Die Franzosen hatten ein System, das seit 1958 keine andere Alternative bot, als zwischen Links und Rechts zu entscheiden, aber seit 20 Jahren ohne nachhaltige Ergebnisse in der nötigen Reformpolitik geblieben ist. Wenn man denn von „Euphorie“ sprechen mag, dann könnte damit ein gewisses Vergnügen gemeint sein, dass endlich etwas passieren muss und wird.
Eine Mehrheit von beinahe zwei Drittel der Parlamentssitze ist enorm, aber kein Unikum, die konservative Partei mit Jacques Chirac erlebte bereits 1993 eine ähnliche Situation. Ob zwei Drittel mit 361 Sitzen oder drei Viertel mit den zunächst prognostizierten 450 Sitzen ändert nichts an der Sache: Macron wird die ausreichende Macht haben, um das Land schnell zu reformieren. Und 361 Sitze sind für das demokratische Leben einer Republik mit Opposition und Pluralität besser als ungesunde 450 Sitze. Wermutstropfen ist allerdings die geringe Wahlbeteiligung: Die Kampagne für die Präsidentenwahl war eigentlich zu lang, und die Franzosen hatten das Gefühl, dass nun mit Macrons Wahl alles schon gesagt wurde. Insofern sind diese Parlamentswahlen nur Bestätigungswahlen geworden, und keine Entscheidungs- oder Schicksalswahlen. Dennoch weiß Macron bestimmt, wo die Grenzen seiner Aktion liegen.
„Macron platzt vor Ungeduld“ titelte die Süddeutsche Zeitung am Montag nach der Wahl in ihrem Kommentar. Bis zur Bundestagswahl im September will der junge französische Präsident beweisen, dass Frankreich zu umfassenden Wirtschaftsreformen fähig ist. „Transformation“, gelegentlich auch „Revolution“ nennt er das, was er vorhat – insbesondere in der Flexibilisierung des Arbeitsrechts. Was im Parlament glatt durchgehen wird, könnte Gewerkschaften und linke Gruppierungen auf den Plan rufen. Erwarten Sie einen heißen Sommer mit Protesten und Streiks? Oder könnte dieser Zeitpunkt auch besonders geschickt gewählt sein, weil viele Franzosen im Urlaub sind?
Man spricht oft von den ersten 100 Tagen einer neuen Regierung oder eines neuen Präsidentenamtes. Es sind also drei Monate. Macron weiß, wie der Herbst sozial heiß werden kann. Andererseits wurde ihm in vier Wahlgängen ein klarer Auftrag gegeben. Er will noch vor Ende Juni per Schnellverfahren das neue Gesetz zur Arbeitszeit und -organisation durchbringen. Ihm ist klar, dass es schnell gehen muss, dass viele Franzosen diesen Mut erwarten – und Europa übrigens auch. Noch ist er populär, wenn auch nicht grenzenlos beliebt, er will nicht die Irrtümer von Sarkozy und Hollande wiederholen, die einfach im Sommer in Urlaub gefahren sind. Und es sind viele andere Reformen angesagt, aber die heißeste und heikelste zum Arbeitsmarkt wird bestimmt noch vor dem Sommer erfolgen.
Marine Le Pen und ihr rechtsextremer Front National werden nur mit acht Mandaten ins Parlament einziehen. Bei der Präsidentenwahl galt sie noch als ernsthafte Gegnerin Macrons, immerhin erreichte Le Pen im ersten Wahlgang 21 Prozent. Ist die Gefahr von Rechtsaußen gebannt? Wird es spätestens in fünf Jahren ein Comeback geben?
Schon seit Jahren wusste man, dass der Front National gut abschneiden würde. Die Partei und Marine Le Pen haben alles auf die Präsidentenwahl gesetzt. Es lief relativ gut bis zum zweiten Wahlgang, vor dem Le Pen bei der traditionellen Debatte im Fernsehen sehr schlecht ausgesehen hat. Macron hatte obendrein die kluge Strategie gewählt, die Entscheidung zwischen Europa mit Frankreich oder Frankreich ohne Europa zu formulieren. Europa mit Frankreich entspricht – wenn man so will – der ursprünglichen Kohl-Linie eines starken Deutschlands in einem starken Europa; Frankreich ohne Europa birgt die Gefahr eines verheerenden Frexits. Nach dem Scheitern bei der Präsidentenwahl mit einer starken Personalisierung um Marine Le Pen ist bei ihrer Partei irgendwie die Puste raus, was das schlechte Abschneiden bei Parlamentswahl erklärt. Aber die rechtsnationale Gefahr bleibt, und sogar stärker denn je: Macron hat dies genau erkannt, ihm ist bewusst, wenn er in den nächsten fünf Jahren scheitern sollte, dann steigen die Chancen für den Front National extrem.
„Saisir l’Europe“ („Europa als Herausforderung“) unter diesem Titel hat das „Institut franco-allemand des sciences historiques et sociales“, das Sie seit einigen Jahren hier in Frankfurt leiten, in enger Kooperation mit der Goethe-Universität ein Forschungsprogramm entwickelt, flankiert von einer Veranstaltungsreihe unter dem Namen „Dialogues d’Europe“, zusammen mit dem Forschungskolleg Humanwissenschaften. Beide Titel könnten auch von Macron sein. Haben Sie damit den Nerv der Zeit getroffen? Beobachten Sie in diesen Diskussionsrunden auch im Publikum, dass die deutsch-französische Freundschaft und ihre Bedeutung für Europa neues Interesse weckt – vielleicht sogar Begeisterung?
Seit 2016 – also seit der Wahl Trumps in den USA, seit dem Brexit, seit dem immer stärkeren Autoritarismus von Putin und Erdogan – musste die Debatte um Europa einfach wiederkommen; man hätte blind sein müssen, um dies nicht vorauszusehen. Auch wenn Deutschland und Frankreich jeweils eine andere Idee der Europäischen Union (die ja nicht mit Europa zu verwechseln ist) haben, wissen beide Länder, dass ohne die deutsch-französische Kooperation in Europa nichts in Bewegung kommen kann. Europa hat also wieder eine Zukunft, und die EU auch. Unsere Veranstaltungen wollen einfach aus der Perspektive der Geisteswissenschaften und der longue durée diese einfache Tatsache auf den Prüfstand stellen: In welchem wirtschaftlichen Rahmen, föderativ oder integrativ, mit welchen Werten soll sich die EU weiterentwickeln? Es wäre fatal, wenn nur die Politiker und die EU-Beamten – so kompetent sie auch sein mögen – dies allein definieren würden.
Das öffentliche Interesse für das noch vor einem Jahr deklarierte altmodische oder gar gestorbene deutsch-französische Verhältnis ist meines Erachtens wieder gewachsen, dies beobachten wir überall, in unseren Fachveranstaltungen wie auch in der Presse. Noch nie hatten die deutschen Medien so lang und auch über lange Zeit so positiv über Frankreich berichtet. Aus der Not, dass in Europa Frankreich und Deutschland nun allein agieren müssen, kann bestimmt eine neue Begeisterung wachsen. Es ist unsere Aufgabe, als Intellektuelle und Denker, diese Emotionalität mit Rationalität zu verbinden.
Macrons Auffordeung an die Deutschen, die er bereits 2012 als Wirtschaftsberater seines Vorgängers François Hollande bei Angela Merkel platzierte, heißt: „Wir sparen und Ihr investiert!“ Hat er jetzt, wo CDU und SPD gleichermaßen um die Gunst des Aufsteigers wetteifern, eine realistische Chance, sich mit dieser Forderung durchzusetzen?
Man soll die wirtschaftlichen und finanziellen Differenzen zwischen Frankreich und Deutschland nicht überbewerten. Alles in allem herrscht beiderseits des Rheins eine kontrollierte tendenziell sich liberalisierende soziale Marktwirtschaft. Deutschland spart etwas mehr, aber die Gesamtverschuldung ist auch noch gigantisch und die Infrastrukturen leiden. Demgegenüber gibt Frankreich mehr aus, aber die zwei prinzipiellen Probleme in diesem Land liegen woanders: Hohe Jugendarbeitslosigkeit einerseits und ein hohes Defizit in der Handelsbilanz andererseits. Daher weiß Emmanuel Macron nur zu gut: Er muss schnell und dezidiert handeln, um die Flexibilität und die Produktivität auf dem Arbeitsmarkt und innerhalb der Unternehmen zu steigern.
Aber ansonsten sehen die Franzosen ihre eigene Situation viel schlimmer, als sie eigentlich ist: Das Land steht nicht kurz vor dem Bankrott oder dem Kollaps. Und man soll auch immer die umkehrte Frage stellen: nicht nur, was Macron für die Deutschen tun muss, sondern auch, was die Deutschen tun müssen, um ihm in Europa zu helfen und zu verhindern, dass in fünf Jahren eine Marine Le Pen gewählt wird, was auch für Deutschland eine Katastrophe wäre. Deutschland muss sich also ebenso bewegen, aber in welche Richtung? Dies ist meiner Meinung nach eine der entscheidenden Fragen der nächsten Bundestagswahl.
Bringt die Wende in Frankreich eine neue Nähe zwischen Franzosen und Deutschen auch im alltäglichen Leben, aber auch zwischen den Schulen und Universitäten beider Länder?
Die Nähe ist schon groß genug, das darf man nicht unterschätzen, und die Kooperationen sind bereits zahlreich. Man kann natürlich immer mehr tun, und ich spüre diesen Willen bei Macron – aus individueller Neigung, aber auch aus strategischen Gründen: ohne Großbritannien, mit Trump, Putin und Co. sind Deutschland und Frankreich für die Zukunft des europäischen Kontinents maßgeblich verantwortlich. Die Ausbildung und die Jugend gehören selbstverständlich dazu. Die Arbeit, die zum Beispiel die Deutsch-Französische Hochschule in diesem Bereich leistet, ist schon entscheidend; gerade eine solche Institution muss gefördert werden.
Macron soll ein talentierter Deutschschüler gewesen sein, bezeugt seine damalige Lehrerin. Wird er dafür sorgen, dass der Deutschunterricht an den gymnasialen Mittelstufen wieder aufgestockt wird, nachdem er von der sozialistischen Bildungsministerin gerade halbiert wurde?
Emmanuel Macron liest, versteht und spricht deutsch, so wie übrigens die Hälfte seiner Regierungsmannschaft. Er hat mehrmals öffentlich gesagt, welche Begeisterung er für die komplizierte Geschichte dieses Landes empfindet, für seine reiche Kultur, für die Leistung nach der Katastrophe von 1933 bis 1945, und wie wichtig die kulturelle Zusammenarbeit zwischen den beiden Ländern ist. In seiner ersten Reise nach Berlin – gleich einen Tag nach seiner Wahl! – hat er der Kanzlerin versprochen, den bilingualen Unterricht zu fördern und die „classes bilangues“ (Deutsch und Englisch zusammen ohne Nachteil) wieder einzuführen, das wäre ein Zeichen für die Neugründung und Vertiefung des Elysée-Vertrages, das er sich wünscht.