Soziologin untersucht die Elternschaft lesbischer/queerer Paare

Prof. Sarah Speck, Dr. Sarah Dionisius, Helga Löhr, Vorsitzende Förderkreis Cornelia Goethe Centrum und Gerhild Frasch, 2. Vorsitzende (v. l. n. r.). Foto: Lecher

Vater plus Mutter plus Kind ist gleich Familie: Weil diese simple Gleichung schon lange nicht mehr gilt, hat die Soziologin Sarah Dionisius in ihrer Dissertation an der Goethe-Universität die Situation untersucht, dass lesbische beziehungsweise sich als queer verstehende Paare Eltern werden: mithilfe von Reproduktionstechnologien, das heißt insbesondere nach einer Samenspende. Dafür hat sie mit 21 entsprechenden Paaren Interviews geführt und analysiert, inwieweit die Elternschaft traditionelle Vorstellungen von Familie, Verwandtschaft und Geschlecht aufweicht, erweitert beziehungsweise neu gestaltet.

Dabei hat sie beobachtet, dass für Paare, die nicht der heterosexuellen Norm entsprechen, schon der Zugang zu Reproduktionstechniken eingeschränkt sein kann: „Es gibt ja in Deutschland noch kein Reproduktionsmedizin- Gesetz“, betont Dionisius. So bleibe es letztlich die Entscheidung der behandelnden Ärztinnen und Ärzte, ob sie lesbische Paare mit Kinderwunsch behandelten. „In meiner Arbeit stelle ich Paare vor, denen wurden in Reproduktionskliniken immer wieder Steine in den Weg gelegt, so dass sie sich schließlich für privat organisierte Samenspenden entschieden“, sagt Dionisius.

Sie beschreibt, wie sich lesbische Paare aktiv und selbstbestimmt die Prozesse hin zum Schwangerwerden aneignen und umdeuten – teils in einer gynäkologischen Praxis, teils in privatem Rahmen. So berichtet Dionisius etwa von der privaten Zeremonie eines Paares, in der eine Partnerin das Sperma des Samenspenders auf eine Spritze aufzieht, in den Gebärmutterhals ihrer Partnerin einführt und damit in gewisser Weise die Rolle des Samenspenders übernimmt.

Auf die Kontakte kommt es an

Ob in einem ärztlichen Umfeld oder ganz im privaten Kontext: Entscheidend für die praktische Umsetzbarkeit eines nicht heterosexuellen Elternwerdens seien das Wissen, die Informationen, die Kontakte und die Medien der LSBTIQ-Community (lesbisch-schwulbisexuell- transgender-intersexuell-queer), hebt Dionisius hervor. Wie sie in ihrer Arbeit schildert, können lesbische Paar mit Kinderwunsch auf diese Weise Kontakt bekommen – sowohl zu nicht heterosexuellen Rollenvorbildern, die Kinder bekommen und großgezogen haben, als auch zu Beratungsstellen für „Regenbogenfamilien“, ebenso wie zu Samenbanken und zu Männern, die zu einer Samenspende bereit sind.

Wenn lesbische und sich als queer verstehende Paare schließlich ein Kind erwarten, machten sie in mancher Hinsicht ähnliche Erfahrungen wie heterosexuelle Paare: Beide Elternteile hätten unterschiedliche Zugänge zu Schwangerschaft und Geburt, ebenso wie in einer heterosexuellen Beziehung die Väter von den körperlichen Erfahrungen Schwangerschaft, Geburt und Stillen ausgeschlossen sind. „Die meisten der untersuchten Paare finden kreative Lösungen für die unterschiedlichen Erfahrungsmöglichkeiten“, berichtet Dionisius, „und damit unterscheiden sie sich letztlich gar nicht so sehr von heterosexuellen Paaren“, „sie erleben zum Beispiel gemeinsam die Ultraschalluntersuchungen, sie besuchen zusammen einen Geburtsvorbereitungskurs“. Insbesondere die Erfahrung der Geburt und der allerersten Zeit nach der Geburt reduzierten die Differenz zwischen leiblicher und nicht leiblicher Elternschaft.

Wenn lesbische – oder allgemeiner: nicht heterosexuelle Frauen-Paare – Eltern werden, können allerdings auch an verschiedenen Stellen Unterschiede zur traditionellen Elternschaft/Familiengründung bestehen: „Wenn sich lesbische Paare ihren Kinderwunsch erfüllen, erfahren Begriffe wie Familie, Verwandschaft, Geschlecht eine Umdeutung und müssen neu ausgehandelt werden“, sagt Dionisius, „das bedeutet gleichzeitig eine Herausforderung für heteronormative Zugänge“. Sie hat bei jedem dieser drei Begriffe Gleichzeitigkeiten beobachtet: „Zum Beispiel gibt es Frauen-Paare, die versuchen, eine lesbische Kleinfamilie zu gründen – sie sind also stark an dem Modell der heterosexuellen Kernfamilie orientiert.“ Andere nähmen ihre besondere Lebens- und damit Familienform zum Anlass, alle familiären Konventionen aufzubrechen und beispielsweise zu dritt oder zu viert Eltern zu sein: die Frau, die das Kind geboren habe, ihre Partnerin, der Samenspender und vielleicht sogar dessen Partner.

Keine automatischen Muttergefühle

Auch bei der Interpretation von Verwandtschaft kann Dionisius eine Zweiteilung feststellen: „Zum einen gibt es Paare, für die entsprechen die Verwandtschaftsbeziehungen automatisch den biologischen Gegebenheiten.“ Die Frau, die das Kind geboren und gestillt habe, sei die „richtige“ Mutter, während ihrer Partnerin gegenüber dem Kind eher eine Nebenrolle zukomme. „Andererseits ist mir zum Beispiel ein Paar begegnet“, erinnert sich Dionisius, „bei dem die leibliche Mutter während der Schwangerschaft gar nicht so leicht eine Beziehung zu dem Kind aufbauen konnte; diese entwickelte sich erst nach der Geburt durch soziale Interaktion mit dem Kind.“ Die nicht leibliche Mutter habe sich bei diesem Paar hingegen ganz klar als Mutter gefühlt, weil sie schon vor der Geburt über das Betasten des Bauchs ihrer Partnerin sowie durch das Spüren der Kindsbewegungen und das Betrachten der Ultraschallbilder emotional mit dem Kind verbunden gewesen sei.

Für den Begriff Geschlecht schließlich beobachtet Dionisius die entsprechende Gleichzeitigkeit: „Da gibt es Frauen, die orientieren sich stark an traditionellen Bildern von Frauen und Mutterschaft, für die ist klar: Wenn ich das Kind bekomme, bleibe ich erstmal zu Hause, ich nehme die meiste Elternzeit, und ich bin dann auch die primäre Ansprechperson für das Kind.“ Die Mehrzahl der Frauen habe sich allerdings Sorgearbeit und Lohnarbeit gleichmäßig aufgeteilt und mit dem traditionellen Verständnis von Mutterschaft gebrochen; dabei habe sich das Frauenbild der Beteiligten tatsächlich verändert: „Eine Frau hat im Interview zum Beispiel erzählt ‚Ich dachte immer, ein Papa baut mit seinem Kind Hütten und geht klettern, und irgendwann habe ich gemerkt, dass ich das ja genauso machen kann‘“, berichtet Dionisius.

Sie hat für ihre Dissertation viel Anerkennung erhalten – insbesondere den Cornelia Goethe Preis 2021, der ihr (pandemiebedingt) im April 2022 überreicht wurde. „Das ist eine große Ehre für mich“, freut sie sich, „weil ich das Cornelia Goethe Centrum schon in meiner Studienzeit in Frankfurt sehr geschätzt habe und die Unterstützung der Geschlechterforschung für etwas ganz Wesentliches halte“. Dass sie jetzt diesen Preis bekommen habe, ist für Dionisius nicht nur eine Auszeichnung ihrer Arbeit, „sondern auch Anerkennung für die Paare, die ich interviewt habe, eine Würdigung ihrer Lebensweisen und dessen, was sie mir erzählt haben“.

Als Wissenschaftliche Mitarbeiterin der Universität Köln wird sich Dionisius – im Anschluss an ihre Elternzeit – auch weiterhin mit der Elternschaft und Familiengründung lesbischer und sich als queer verstehender Paare beschäftigen. Allerdings plant sie, die Perspektive zu wechseln: „Mich interessiert dann sozusagen die andere Seite, nämlich Kinder und Jugendliche, die aus einer Samenspende entstanden sind, und ich möchte wissen, was ‚Verwandtschaft‘ und ‚Familie‘ für sie bedeuten.“

Autorin: Stefanie Hense

CORNELIA GOETHE PREIS 2022: Wissenschaftspreis des Förderkreises des Cornelia Goethe Centrums für Frauenstudien und die Erforschung der Geschlechterverhältnisse

Der Förderkreis des Cornelia Goethe Centrums für Frauenstudien und die Erforschung der Geschlechterverhältnisse der Goethe-Universität Frankfurt am Main vergibt für das Jahr 2022 zum 17. Mal den mit 2000 Euro dotierten Wissenschaftspreis für eine herausragende Dissertation oder Habilitationsschrift im Bereich der Frauen- und Geschlechterforschung. Ausgezeichnet wird eine hervorragende wissenschaftliche Leistung, die die Bedeutungen der Geschlechterverhältnisse, die symbolischen Konstruktionen von Männlichkeit und Weiblichkeit oder die erkenntniskritische Perspektive der Frauen- und Geschlechterforschung in der Wissenschaft reflektiert und neue Denkanstöße gibt. Der Preis wird im Frühjahr 2023 im Rahmen der Mitglieder- versammlung des Förderkreises des Cornelia Goethe Centrums überreicht. Die wissenschaftlichen Arbeiten, die von einer Jury beurteilt werden, müssen an der Goethe-Universität Frankfurt am Main in den Jahren 2020–2022 eingereicht worden sein.

Einzureichen sind: Die Arbeit in einfacher Ausfertigung (sowie als PDF), die Gutachten zur Arbeit, Bewerbungsschreiben und ein Lebenslauf in elektronischer Form (PDF-Format).

Bitte schicken Sie die kompletten Unterlagen an: Förderkreis des Cornelia Goethe Centrums, Goethe-Universität Frankfurt am Main, Hauspostfach PEG 4, Theodor-W.-Adorno-Platz 6, 60629 Frankfurt/Main. Cgcentrum@soz.uni-frankfurt.de

Einsendeschluss: 1. September 2022!

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