Verschwiegen, vertuscht, verdrängt und bagatellisiert wurden lange Zeit die Erfahrungen von Menschen, die in ihrer Kindheit und Jugend sexueller Gewalt ausgesetzt waren. Die Aufarbeitung dieser Gewalt hat sich Prof. Dr. Sabine Andresen, Professorin für Sozialpädagogik und Familienforschung an der Goethe-Universität Frankfurt, zum Ziel gesetzt: in ihren Forschungsbeiträgen sowie in ihrem gesellschaftlichen Engagement als fachkundige Expertin in zahlreichen wissenschaftlichen Gremien. Für dieses Engagement erhält sie nun den „Public Service Fellowship-Preis“ der Alfons und Gertrud Kassel-Stiftung.
„Ich freue mich sehr über diesen Preis, weil er ein gesellschaftliches Thema ernst nimmt, das mir eine Herzensangelegenheit ist und das in die öffentliche Diskussion gehört“, sagt die Frankfurter Familienforscherin anlässlich der am 4. Dezember virtuell durchgeführten Preisverleihung.
„Oft sind es Einzelne, die in unserer Gesellschaft etwas in Bewegung bringen. Dass das Thema Kindeswohl und sexuelle Gewalt gegen Kinder inzwischen auf höchster politischer Ebene gesehen und verhandelt wird – das ist auch Sabine Andresen zu verdanken“, so die Präsidentin der Goethe-Universität Prof. Dr. Birgitta Wolff in ihrem Grußwort. „Sie ist eine Wissenschaftlerin, die ihre Forschung zum Handeln treibt – empathisch, couragiert und mit einer gewissen Hartnäckigkeit. Wir sind sehr dankbar, dass die Alfons und Gertrud Kassel-Stiftung diese ausgewiesene und engagierte Wissenschaftlerin unserer Universität würdigt.“
Welche Strukturen machen sexuelle Gewalt gegen Kinder erst möglich und haben lange Zeit verhindert, dass diese Gewalt überhaupt aufgeklärt und aufgearbeitet wurde? Diesen Fragen widmet sich die Frankfurter Forscherin seit 2012, vor allem aber als Vorsitzende der „Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs“, die auf Bundesebene angesiedelt ist. Die Kommission steht seit 2016 mit Menschen in Kontakt, die in ihrer Kindheit und Jugend sexuelle Gewalt erlebt haben. In vertraulichen Anhörungen und schriftlichen Berichten haben inzwischen fast 2000 Menschen Zeugnis abgelegt. Sie haben Gewalt in der Familie, kirchlichen Einrichtungen, Schulen oder Sportvereinen erfahren. Die Berichte bilden die Grundlage auch für die wissenschaftliche Auswertung.
Sabine Andresen bringt ihre wissenschaftliche Expertise in zahlreiche weitere Gremien ein, die sich dem Kindeswohl widmen. Sie ist Vizepräsidentin des Deutschen Kindesschutzbundes und Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat für Familienfragen des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Seit 2011 führt Andresen als Professorin für Familienforschung und Sozialpädagogik an der Goethe-Universität auch international vergleichende Child-Well Being Studien durch und forscht zum Thema Kinderarmut und Vulnerabilität sowie zur Geschichte von Kindheit, Jugend und Familie. Sie ist Mitherausgeberin verschiedener Zeitschriften und als Gutachterin wie etwa in der Deutschen Forschungsgemeinschaft tätig.
Der mit 10.000 Euro dotierte „Public Service Fellowship-Preis“ wird von der Alfons und Gertrud Kassel-Stiftung alle zwei Jahre an Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Goethe-Universität vergeben, die in bedeutenden wissenschaftlichen oder wissenschaftspolitischen Gremien tätig sind. Das Preisgeld soll es ermöglichen, Projekte zu verwirklichen, die wegen des besonderen Engagements zu kurz kommen. Prof. Dr. Sabine Andresen ist die dritte Preisträgerin – nach dem Finanzwissenschaftler und Wirtschaftsweisen Prof. Dr. Volker Wieland und dem Mediziner und langjährigen Vorsitzenden des Sachverständigenrats Gesundheit der Bundesregierung Prof. Dr. Ferdinand Gerlach.
Die Laudatio hält Brigitte Tilmann, Präsidentin a.D. des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main und Mitglied der „Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs“. Von 2002 bis 2007 war sie Mitglied des Hochschulrats der Goethe-Universität.
Die Alfons und Gertrud Kassel-Stiftung wurde 2007 mit dem Ziel gegründet, die Wissenschaft, Forschung und Lehre an der Goethe-Universität zu fördern. Sie basiert auf einem Stiftungsvermögen, das die Stifterin Gertrud Kassel hinterlassen hat. Damit unterstützt die Stiftung zahlreiche Projekte der Universität und zeichnet unter anderem alle zwei Jahre den „Scientist of the Year“ aus.