Literarische Landschaften: Kulisse oder Teil des menschlichen Dramas?

Prof. Dr. Bernhard Malkmus von der Universität Newcastle ist Humboldt-Fellow an der Goethe-Universität

Natur und Literatur, Landschaft und Erzählung – in welchem Verhältnis stehen sie zueinander? Gibt die Umgebung nur eine Kulisse ab für das Geschehen, das sich zwischen Menschen ereignet? Oder ist auch die Umwelt ein dynamischer Teil der Handlung? Mit derlei Fragen befasst sich der Literaturwissenschaftler Bernhard Malkmus, Professor an der Newcastle University, der sich noch bis zum Sommer 2021 als Humboldt-Fellow an der Goethe-Universität aufhält und hier forscht.

Zu individualistisch, zu psychologisierend, zu urban: Bernhard Malkmus stellt der deutschen Gegenwartsliteratur ein eher mittelmäßiges Zeugnis aus, wenn es um die Bearbeitung der großen Zukunftsherausforderungen der Menschheit geht. „Es herrscht in der deutschen Literatur eine große Scheu davor, sich mit der Lebendigkeit der Natur als unserer eigentlichen Lebensgrundlage auseinanderzusetzen. Man kann auch von einer Lebensvergessenheit sprechen. Das ist wie ein blinder Fleck, die finden das Lebensgewebe, in das der Mensch so tief eingeflochten ist, einfach nicht sexy.“ Dabei läge hier eine große Chance, neue Erzählformen zu erproben, indem man sich auf Themen wie Klimawandel oder Artenvernichtung, der Überformung unserer Landschaften durch industrielle Bewirtschaftung oder der Entfremdung von unseren Lebensgrundlagen mit den Mitteln der Phantasie einlässt.

Der Mensch im Anthropozän

Ein Schlagwort hat allerdings die Auftrennung des Lebensgewebes auch in den literarischen Feuilletons salonfähig gemacht: das Anthropozän. Was genau man darunter versteht, davon gibt es je nach Perspektive unterschiedliche Auffassungen. Für Malkmus ist es ein „Schwellenbegriff“, der offen deutbar sei: „Anthropozän heißt: Wir Menschen verstehen, dass sich unser Handeln auf die natürlichen Systeme im globalen Maßstab auswirkt. Wie wir das deuten, das ist dann eine andere Frage.“ Zu denen, die sagen: Jetzt haben wir das endlich verstanden, nun können wir es durch Geoengineering auch in den Griff bekommen, den „Techno-Optimisten“, gehört Malkmus nicht. Für ihn ist die Erkenntnis, dass die industrielle Zivilisation die Erdsysteme, die Leben auf diesem Planeten erst ermöglichen, grundsätzlich verändert hat und verändert, ein bewusstseinsgeschichtlicher Paradigmenwechsel. Und als solcher ein Anlass, sich kritisch mit der Geschichte und den geistigen Wurzeln des Industrialismus und seiner Globalisierung durch den Kapitalismus auseinanderzusetzen. Und dazu, so ist er überzeugt, könnte auch die Literatur einen wichtigen Beitrag leisten. Malkmus, Jahrgang 1973, kam in Aschaffenburg zur Welt, wuchs im Spessart und in Lissabon auf. Früh hat der Vater, ein Biolehrer, seinen Blick für die Beobachtung der Umwelt geschärft: „Mir war klar: Die Macchia in Portugal, beispielsweise, ist nicht die ursprüngliche Bewaldung, sondern ein Produkt der Überweidung.“

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, beginnend mit der Explosion von industrieller Produktion und Konsum in den 50er Jahren, findet er durchaus Autoren, die – ohne dass sie den Begriff „Anthropozän“ schon gekannt haben können – die Überformung der Natur durch den Menschen thematisieren. „Schauplätze des Anthropozäns: Landschaftsästhetik und Zeitreflexion in der Gegenwartsliteratur“ – so lautet der Titel der Arbeit, zu der Malkmus als Humboldt-Fellow in Frankfurt forscht. Dabei konzentriert er sich auf Texte, deren Schauplätze sich der totalen industriellen Transformation widersetzen, nämlich in bestimmten Alpenregionen, den nordamerikanischen Wüsten und an den Küsten Patagoniens.

Handkes Hinwendung zur Umwelt

Zu den Autoren, die er in seine Untersuchungen einbezieht, gehört zum Beispiel Peter Handke, inzwischen Nobelpreisträger: In Handkes Werk habe es Ende der 1970er Jahre einen Wendepunkt gegeben, danach habe sich Handke der Umwelt des Menschen zugewandt – etwa in Werken wie „Langsame Heimkehr“ oder „Wiederholung“. Zu seinem Corpus gehören aber auch heute weniger bekannte Autoren wie Peter Rosei und sein „Entwurf für eine Welt ohne Menschen“– ein Versuch, gewissermaßen aus der Perspektive der Geologie zu erzählen. Aus den USA bezieht Malkmus Autoren wie Terry Tempest Williams in seine Studie mit ein, die sich mit den Folgen des nuklearen Fallouts für ihre Familie und die Ökologie Utahs auseinandersetzt; und N. Scott Momadays, der die Umweltveränderungen der Nachkriegszeit aus der Perspektive eines Native American erzählt.

Gegenstand seiner Forschung ist die „Geostory“, die literarische Präsentation von Landschaften, in der nichtmenschliche Akteure eine zentrale Rolle spielen. Schon seine Voruntersuchungen haben gezeigt, dass diese Erzählungen das Anthropozän vorwegnehmen, indem sie die systemischen Auswirkungen menschlichen Handelns auf Natur und Umwelt erzählerisch zu fassen suchen. „Diese Texte wirken wie Vorboten einer Bewusstwerdung von globaler Tragweite“, sagt Malkmus. Bei der Betrachtung der Landschaften unterscheidet er zwischen der Biosphäre, also dem Leben, das sich vermittels genetischer Codes der Entropie der Materie widersetzt, und der Technosphäre, einer vom Menschen in die Natur eingeschleusten Infrastruktur, die der Mensch selbst allerdings nicht mehr im Griff habe. Die Technosphäre regeneriert sich nicht aus sich heraus, sondern muss mit hohem Energieaufwand am Leben erhalten werden.

Malkmus interessiert sich insbesondere für den Prozess, in dem sich der Mensch dessen bewusst wird, wie er selbst auf die Natur einwirkt, er nennt das „ökologische Reflexivität“. Seiner Überzeugung nach wäre die moderne Literatur in der Lage, neue Denkrichtungen anzuregen: „Sie hat ein enormes Potenzial, aber leider ist unsere Phantasie ideologisch eingenordet.“ Die aktuelle Literatur sei von stark individualistischen Themen beherrscht und habe schockierend wenig zu den großen Problemen der Menschheit zu sagen – anders als mancher Autor der Nachkriegsjahrzehnte, die als Great Acceleration in die Geschichtsbücher
eingingen. So ist Malkmus auch insgesamt skeptisch, was die Überlebensfähigkeit unserer zivilisatorischen Errungenschaften angeht. Sein Rat gegen die allgemeine Tendenz des Schneller, Höher, Weiter: hinhören, entschleunigen, beobachten.

Anke Sauter

Dieser Beitrag ist in der Ausgabe 5.20 des UniReport erschienen.

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