Die Studentische Poliklinik der Goethe-Universität hat den Hessischen Hochschulpreis für Exzellenz in der Lehre erhalten. Der mit 60.000 Euro dotierte Preis ist gestern Abend im Museum Wiesbaden durch Wissenschaftsminister Boris Rhein überreicht worden. Stellvertretend für die Studierenden nahmen Arda Manap und Sophia Corell zusammen mit Dr. Lukas Seifert Dr. Petra Tiarks-Jungk, Prof. Ferdinand Gerlach und Prof. Robert Sader als Gründungsinitiatoren, die Auszeichnung in Empfang.
Hessens Wissenschaftsminister Boris Rhein gratulierte den Preisträgerinnen und Preisträgern und den nominierten Projekten herzlich zu ihrem Erfolg: „Ihre Lehrkonzepte sind praxisnah und zukunftsweisend. Sie ermöglichen Studierenden neue Blickwinkel auf Probleme und regen dazu an, sich auf vielfältige Weise sowohl dem theoretischen Lernstoff als auch Fragestellungen der Praxis zu nähern.“ Mit der Vergabe des Hessischen Hochschulpreises für Exzellenz in der Lehre habe die Hessische Landesregierung bundesweit eine Vorreiterrolle übernommen. Die Auszeichnung stelle die herausragende Bedeutung der Lehre für die Ausbildung des akademischen Nachwuchses heraus. „Außerdem schafft sie einen Anreiz, sich in der Hochschullehre zu engagieren“, so Rhein abschließend.
Die für Lehre zuständige Vizepräsidentin der Goethe-Universität, Prof. Tanja Brühl, bezeichnete das preisgekrönte Projekt als „beispielhaft“: „Ich beglückwünsche die statusübergreifende Studiengruppe, die aus Studierenden, Ärztinnen und Ärzten und Professoren besteht, sehr herzlich zum Hessischen Hochschulpreis und danke für ihr enormes Engagement. Die Studentische Poliklinik Frankfurt ist ‚Bürgeruniversität‘ im eigentlichen Sinne. Studierende leisten durch die ehrenamtliche hausärztliche Sprechstunde einen Beitrag zur medizinischen Basisversorgung in Frankfurt“, so Brühl.
Seit Juni 2014 bieten Studierende der Medizin an der Goethe-Universität in Räumlichkeiten des Gesundheitsamtes eine Sprechstunde für Menschen ohne Versicherung an. Das Angebot wird von den Studierenden selbständig organisiert, die eigentliche Sprechstunde mit Anamnese und Diagnose ist jedoch lehrärztlich betreut. Auf diese Weise profitieren beide Seiten: Die Patienten kommen in den Genuss einer kostenlosen, aber hochwertigen medizinischen Basisversorgung, die Studierenden erlangen Praxiswissen und lernen eine Patientengruppe kennen mit einem für sie meist ungewohnten kulturellen oder sozialen Hintergrund.
„Unser Vorbild waren die ‚Student Run Free Clinics‘ in den USA“, erinnert sich Lukas Seifert an die Anfänge. Er war am Beginn seines klinischen Studiums im fünften Semester, als Studiendekan Prof. Robert Sader die Idee einer Bürgersprechstunde durch Studierende ins Gespräch brachte, für die er bereits seit 2007 politische Vorarbeit betrieb. 2010 war es dann soweit, da schlug er gemeinsam mit zwei Kommilitonen, die wie er der Fachschaft Medizin angehörten, vor, die Sprechstunde als studentisch organisiertes Projekt zu konzipieren. Man reiste in die USA, wo inzwischen 90 Prozent der medizinischen Fakultäten über eine „Student Run Free Clinic“ verfügen, wofür dort eine große Notwendigkeit bestand, da viele Menschen nicht versichert waren. Die Frankfurter Studierenden sahen sich mehrere Projekte in den USA an, führten Interviews – und zogen sich das Beste daraus für das eigene Projekt, das bald als Wahlpflichtfach etabliert und damit in die kurrikulare Lehre implementiert wurde.
Dabei habe man auf einen professionellen Aufbau viel Wert gelegt, sagt Seifert. Der Vorwurf, das sei nur eine Spielwiese für Medizinstudenten, sollte von vornherein verhindert werden. Mit Fördergeldern aus dem QSL-Fonds (Qualitätssicherung in der Lehre) wurde ein Konzept aufgestellt: Wer mitmachen will, muss sich mit einem Motivationsschreiben bewerben und vorbereitende Pflichtkurse in Untersuchung und Anamnese sowie über häufige Beratungsanlässe in der hausärztlichen Medizin erfolgreich absolvieren, die von Studierenden in höheren Semestern abgehalten werden. Erst anschließend können die Studierenden in der Sprechstunde der Studentischen Poliklinik mitmachen. Entwickelt wurde dieses Konzept gemeinsam mit dem Institut für Allgemeinmedizin unter Leitung von Prof. Ferdinand Gerlach.
Die Sprechstunde, die inzwischen an zwei Nachmittagen in der Woche angeboten wird, verwalten die Studierenden selbständig, auch die Vorgespräche mit den Patienten führen sie ohne Hilfe durch – immer ein jüngerer und ein erfahrener Student im Team. Bei der eigentlichen Anamnese ist dann eine Ärztin oder ein Arzt mit dabei, die oder der über den weiteren Verlauf der Behandlung entscheidet. Von Anfang an mit im Boot ist Dr. Petra Tiarks-Jungk, die auch die Humanitäre Sprechstunde des Gesundheitsamtes betreut; seit Oktober 2016 wird sie von fünf Hausärzten mit Lehrauftrag des Fachbereichs Medizin unterstützt. „Von der Erfahrung von Dr. Tiarks-Jungk haben wir mehr als profitiert. Sie hat uns auch wichtige Tipps gegeben für kostenlose Weiterbehandlung und Fachdiagnostik“, sagt Seifert. Der Effekt für die Studierenden ist erwiesen: Bei praktischen und theoretischen Tests schnitten die Absolventen des Wahlfachs der Studentischen Poliklinik deutlich besser ab als ihre Kommilitonen.
„Das Konzept ist in Deutschland, vermutlich in ganz Europa einzigartig“, so Prof. Sader. Es vereinige in idealer Weise unterschiedliche praxisorientierte Lehr- und Lernmethoden in einer echten medizinischen Alltagsituation, so wie es sich die Studierenden für ihre Ausbildung immer wünschen. Am beeindruckendsten sei aber, so Sader weiter, dass das Projekt ohne die aktive Mit- und Zuarbeit jedes einzelnen Projektpartners, nie hätte gelingen können: Der Enthusiasmus und das Engagement der Studierenden, die fachliche Kompetenz von Dr. Seifert und Prof. Gerlach in der Konzeption der neuartigen Lehrveranstaltung, der besondere Einsatz von Frau Dr. Petra Tiarks-Jung bei der Betreuung der Studierenden erst hätten die Studentische Poliklinik möglich gemacht. Wesentlich war jedoch auch die begleitende politische und strategische Arbeit des Studiendekans Robert Sader. Über die Verwendung des Preisgeldes sind sich die Beteiligten einig: Es wird komplett in die Ausstattung des Projekts einfließen.
Von Beginn an war das Wartezimmer voll: „Viele kommen gern zu uns, weil wir uns viel Zeit nehmen“, meint Lukas Seifert. Gut kann sich der heute 29-Jährige an seine ersten Fälle in der Poliklinik erinnern: „Das war zum Teil schon heftig für mich“, sagt er. Ein Mann sei gekommen, der nach einer Notfall-OP zu schnell entlassen worden war und dessen Bauchwunde aufplatzte. Die Behörden wollten ihn zur OP nach Rumänien schicken. „Wir haben alle Hebel in Bewegung gesetzt, damit der Mann in Frankfurt operiert werden kann“, erinnert sich der Mediziner. Weil viele der Patienten auch psychosoziale Schwierigkeiten haben, wurde auch eine Kooperation mit dem Fachbereich Soziale Arbeit der Fachhochschule Frankfurt ins Leben gerufen. Außerdem kann man auf die Unterstützung von Hebammen und Psychologen zurückgreifen – und vielleicht bald auf zahnmedizinische Expertise: Lukas Seifert, der derzeit an der Klinik für Mund-, Kiefer- und Plastische Gesichtschirurgie arbeitet, studiert im Zweitstudium noch Zahnmedizin.