Goethe, Deine Forscher: Martin Saar, Philosoph

Die Wurzeln seiner Wissenschaft sind alt: „Schon unsere ‚Gründerväter‘, die griechischen Philosophen Platon und Aristoteles, gingen sehr ernsthaft Fragen nach wie etwa: Wie entstehen Gemeinschaften?, was hält sie zusammen?, welchen Zweck und welche Form haben sie?“, zählt Martin Saar auf, der an der Goethe-Universität das Fach Sozialphilosophie in Forschung und Lehre vertritt, „und diese Fragen sind für uns auch heute noch entscheidend. Insofern können wir Platon und Aristoteles sehr wohl als Sozialphilosophen betrachten, auch wenn es diese philosophische Disziplin damals noch gar nicht gab.“ Beide hätten natürlich die besondere Gesellschaftsform des antiken Griechenlands vor Augen gehabt, insofern ließen sich ihre Erkenntnisse nicht ohne Weiteres auf moderne oder gar zeitgenössische Gesellschaften übertragen.

Letztere hingegen untersucht der promovierte Philosoph und habilitierte Politikwissenschaftler Saar, wenn er den Fragen „Was ist überhaupt Sozialphilosophie? Mit welchen Methoden und Grundbegriffen operiert sie?“ nachgeht. Dabei beginnt seine Suche nach Antworten natürlich nicht bei null, sondern bei der etablierten Definition von Aristoteles: „Der Mensch lebt seinem Wesen oder Natur nach in gemeinschaftlichen Strukturen, in der polis, der Stadt oder dem Staat, und er braucht die Gemeinschaft, um eine wahrhaft menschliche Lebensform auszubilden“, erläutert Saar. „Das Nachdenken über den Menschen in dieser Gemeinschaft, also über den Menschen unter Menschen – eben das ist Sozialphilosophie.“

Faszinierender Doppelcharakter

Ihn fasziniert der Doppelcharakter seines Fachs, der sich hier zeigt: „Einerseits wenden wir uns ganz fundamentalen, grundsätzlichen Fragen zu, und das tun wir in einer Allgemeinheit, die man eigentlich nur in der Philosophie findet.“ Aber, fährt Saar fort, die abstrakten Probleme verbänden sich auch mit ganz konkreten Fragen, nämlich mit solchen nach spezifischen gesellschaftlichen Institutionen und Normen. Mit der Frage, welche Identitäten, Selbstverständnisse und Lebensformen in einer bestimmten Gesellschaft möglich seien. Und wie eine Gesellschaft mit den Subjekten, das heißt mit den ganz konkreten Akteurinnen und Akteuren umgehe, aus denen sie bestehe, ja, die sie auch forme und hervorbringe.

„Ich möchte wissen, mit welchem philosophischen Rüstzeug sich die Interaktion zwischen Individualität und Gesellschaft, Subjektivität und Institutionen erfassen und beschreiben lässt“, stellt Saar fest; in diesem Zusammenhang habe ihn insbesondere der 1984 gestorbene französische Philosoph Michel Foucault entscheidend geprägt. Außerdem interessierten ihn generell Fragen nach dem Thema „Macht“, fügt er hinzu. Diese Fragen erörtert er nicht nur vor dem Hintergrund zeitgenössischer Theorien, sondern auch in ideengeschichtlicher Perspektive, so etwa indem er die Werke des jüdisch-holländischen Philosophen Baruch de Spinoza berücksichtigt, der sich schon im 17. Jahrhundert Gedanken über das Verhältnis von Individuum und Staat und über die Möglichkeit einer radikal verstandenen Demokratie gemacht hat. Saar fasst zusammen: „Diese Kombination aus größtmöglicher Abstraktion und ganz konkreter, erfahrungsgesättigter Alltagsebene begeistert und motiviert mich, selbst zur sozialphilosophischen Forschung beizutragen.“

Dabei ist es ihm wichtig, dass sein Beitrag nicht nur in der Ruhe des eigenen Arbeitszimmers entsteht, sondern auch durch die Dynamiken in Vorlesungen und Seminaren beeinflusst wird: „Wir sagen nicht zu unseren Studierenden, jetzt hört ihr euch erstmal die Einführungsvorlesung an, die echten Forschungsfragen kommen dann später. Jede ,Einführung in die Philosophie‘ ist schon Philosophieren selbst. Von Anfang an können sich die Studierenden daran beteiligen, mitmachen, mitdenken, kritisieren; das aus der Nähe mitzuerleben, empfinde ich als großes Privileg“, betont Saar.

Wissen und Macht

Immer wieder geht er relationalen Fragen nach – zum Beispiel, wie sich Wissen zu Macht verhält: „Mich interessiert zum Beispiel: Wie zirkuliert Wissen in Gesellschaften, und wie hängt dies davon ab, wie die Möglichkeit zu sprechen und selbst Wissen zu schaffen verteilt ist?“, erläutert Saar. „Ich untersuche, in welchem Verhältnis epistemische, wissensmäßige Autorität und die Kritik daran stehen: Welche gesellschaftlichen Akteure beanspruchen aus welchen Gründen eine besondere Autorität in Wissensfragen?“ Dieser Anspruch beruhe nicht notwendigerweise auf echter Expertise, sondern könne auch das Resultat von Tradition und Gewohnheit sein. So fragt sich Saar, wie Gesellschaften damit umgehen, dass sie sich einerseits auf formale, institutionelle Regeln zur Wissensproduktion einigen, dass aber andererseits diese Regeln auch ständig abgelehnt und kritisiert werden.

Wenn er sein Forschungsfeld Sozialphilosophie in die allgemeine philosophische Tradition einordnet, kommt Saar an einer Frankfurter Besonderheit nicht vorbei: der „Frankfurter Schule“, jener Gruppe marxistischer Wissenschaftler um Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, die im Frankfurt der 1920er und 1930er Jahren ihre berühmte Gesellschaftstheorie, die „Kritische Theorie“ entwickelten: an dem 1923 gegründeten, heute der Goethe-Universität angegliederten „Institut für Sozialforschung“ (IfS). Diesem ist Saar wissenschaftlich verbunden: Als Mitglied des Kollegiums und des Institutsrats gehört er heute zu den Forscherinnen und Forschern des IfS, promovierte einst bei dem langjährigen Direktor des IfS, Axel Honneth. Und so interessiert er sich auch für die historische Entwicklung der Kritischen Theorie von Horkheimer über Habermas bis heute – eine Geschichte, die in Frankfurt begann und fortwirkt, aber ein weltweites Echo gefunden hat

Autorin: Stefanie Hense

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