Madonna? Casanova!

Ein Forschungsprojekt und eine Konferenz der Goethe-Universität befassen sich mit der christlichen Kabbala in der Frühen Neuzeit.

Elke Morlok und Níels Eggerz. Im Vordergrund: Die Abbildung der kabbalistischen Lehrtafel der Prinzessin Antonia von Württemberg in Bad Teinach (1662/1673), in deren Zentrum ein allegorisierter Sefirot-Baum zu sehen ist.

Wenn Elke Morlok und Níels Eggerz Außenstehenden ihr Forschungsprojekt vorstellen, lautet die klassische Rückfrage: „Das heißt, ihr arbeitet zu Madonna?“ Die habilitierte Judaistin und der promovierte Historiker beschäftigen sich mit christlichen Übernahmen der Kabbala. Damit liegt der Brückenschlag zur Popikone, bekennende Anhängerin der jüdisch-mystischen Tradition, nahe, wenngleich er nicht ganz zutrifft: Bei Morloks und Eggerz’ Projekt steht die Frühe Neuzeit, also grob die Zeit zwischen 1500 und 1800 im Zentrum. Doch die beiden können mit einem anderen prominenten Anhänger der Kabbala aufwarten: Giacomo Casanova (1725 – 1798). Der venezianische Abenteurer, Verführer und Diplomat interessierte sich ebenfalls für die jüdische Mystik und besaß ein von ihr inspiriertes Amulett, das ihm bei seinen Blendwerken zu Diensten war.

Aus heutiger Sicht lässt sich die jüdische Kabbala als eine Verbindung von mystischen, esoterischen und theosophischen Vorstellungen bezeichnen, die sich ab dem Mittelalter verbreitete und dabei zum Teil auf philosophische Vorstellungen der Antike zurückgriff. Gemein ist diesen Traditionen die Idee, dass es einen, sich jeder menschlichen Vorstellung entziehenden Gott gibt. Allerdings, so die Überzeugung, könne das gründliche Studium seiner unterschiedlichen Erscheinungs- und Handlungsformen, der Emanationen, eine präzise Vorstellung von seinem Wesen ermöglichen.

Schon früh ein Faszinosum: kabbalistische Schlusstechniken und Visualisierungen

Der Wunsch, durch tiefschürfende Lektüre und die Anwendung ausgeklügelte Techniken der Textauslegung der Natur Gottes nahezukommen, faszinierte früh auch Nicht-Juden und verhalf der Kabbala in der Frühen Neuzeit zu einer hohen Popularität. „Da es bei unserem Projekt vornehmlich um protestantische Übernahmen der Kabbala geht, stehen Casanova und die berühmten italienischen Renaissance-Humanisten wie Pico della Mirandola nicht im Fokus unserer Forschung. Dennoch illustriert Casanovas Beispiel eindrücklich, wie bekannt die Kabbala war und für wie wirkmächtig man sie hielt,“ erläutert Eggerz.

Der Venezianer war keinesfalls die einzige Person, die sich mit kabbalistischer Gelehrsamkeit schmückte. Auch protestantische Landesfürstinnen und -fürsten inszenierten sich und ihre (religiösen) Anliegen über der Kabbala entlehnte Darstellungen. Besonders beliebt waren sogenannte Sefirot-Bäume, die die zehn Emanationen Gottes (Sefirot) in einer baumähnlichen Struktur visualisierten. Mit diesen Bäumen wurde jedoch eine christliche Botschaft verbunden: Insofern die drei wichtigsten Sefirot in der Baumkrone abgebildet wurden, interpretierte man sie als Beleg für die Dreifaltigkeit Gottes. Im Zentrum stand Christus als die vermittelnde Instanz zwischen irdischer und himmlischer Welt.

Solchen Übernahmen spürt Morloks und Eggerz‘ Forschungsprojekt Kabbala als Transferparadigma zwischen Judentum und Christentum nach, das die beiden seit April 2023 an der Goethe-Universität verfolgen und das im Rahmen des Schwerpunktprogramms „Jüdisches Kulturerbe“ durch die DFG gefördert wird. Dabei fragen die beiden nach den Texten, den Vorstellungen und den Netzwerken, die für christliche Kabbalisten von Bedeutung waren. Hierdurch soll die christliche Kabbala im Wechselspiel mit innerchristlichen und christlich-jüdischen Dynamiken gezeigt werden: „Wie bereits Joseph Dan unter­strich, haben wir es bei der christlichen Kabbala mit dem einmaligen Phänomen zu tun, dass eine Religion die Schriften einer anderen als wahr und für sich gültig anerkennt,“ unterstreicht Eggerz.

Allerdings gingen die christlichen Kabbalisten durchaus eigenwillig vor: Anders als die Wissenschaft heute verstanden sie „Kabbala“ wörtlich als „(allumfassende) Urtradition“. Daher war für sie jeder als ursprünglich geltende Text potenziell kabbalistisch. Sie ignorierten zudem zahlreiche genuin jüdische Elemente und versuchten in Teilen sogar, aus den Texten eine althebräische Religion zu rekonstruieren. Als vermeintlich unverfälscht durch spätere rabbinische Entwicklungen galt ihnen die Kabbala als in letzter Konsequenz identisch mit ihrer Auffassung des Christentums. Dieses Vorgehen hat der christlichen Kabbala zum Teil den Vorwurf eingebracht, eine Entstellung der jüdischen Tradition oder gar ein anti jüdisches Projekt zu sein.

Im Austausch: Jüdische und christliche Kabbalisten

Aus Sicht der beiden Forscher*innen greift es aber zu kurz, ein derart vielschichtiges Phänomen allein auf diese Aspekte zu reduzieren. Sie plädieren zum einen dafür, das Verhältnis zwischen christlichen und jüdischen Kabbalisten in seiner ganzen Komplexität zu erfassen, wofür sie den Blick auf die kabbalistischen Netzwerke als einen guten Ansatzpunkt betrachten: „Natürlich ist die Vorstellung, Juden und Jüdinnen lebten in der Frühen Neuzeit hermetisch abgeriegelt in Ghettos, stark vereinfacht. Der Handel hat immer für einen gewissen Austausch gesorgt. Dennoch eröffneten die intellektuelle Zusammenarbeit und die Angewiesenheit christlicher Kabbalisten auf jüdische Informanden möglicherweise andersgelagerte, intensivere Beziehungen,“ erklärt Morlok. Überliefert sind beispielsweise durchaus freundschaftliche Briefe zwischen einem christlichen Gelehrten und seinem jüdischen Gesprächspartner, in denen unter anderem auch eine Hochzeiteneinladung ausgesprochen wurde.

Zum anderen dürfe man die Auswirkungen der christlichen auf die jüdische Mystik nicht unterschätzen: „Die erste Drucklegung eines kabbalistischen Werks (in lateinischer Übersetzung) erfolgte durch christliche Gelehrte. Es stellt sich daher zum Beispiel die Frage, ob die Sefirot in der jüdischen Kabbala eine solche Bedeutung erlangt hätten, wenn nicht genau dieser Aspekt für die christlichen Rezipienten attraktiv gewesen wäre,“ überlegt Morlok. Ein solcher Ansatz rekurriert auf die neueste Forschung zum jüdisch­christlichen Verhältnis: „Während Judentum und Christentum lange als Mutter- und Tochterreligion galten, sieht die jüngere Forschung sie eher als Schwestern in andauernder, wechselseitiger Beeinflussung, wobei sich Phasen engen Austausches mit weniger intensiven abwechselten und noch abwechseln,“ ergänzt Eggerz. Als tendenziell nicht institutionalisierte Tradition eignete sich die Kabbala besonders für den interreligiösen Transfer.

Kabbalistische »Beweise« in innerchristlichen Debatten?

Dieser offene Charakter spielte vermutlich auch eine Rolle dabei, dass die Kabbala gerade in der Frühen Neuzeit – der Zeit der Reformation – Bedeutung für das Christentum erlangte: Mit protestantischen Umbrüchen stellten sich religiöse Grundfragen neu. Zum ersten Mal seit der Spätantike wurde zum Beispiel darüber gestritten, ob die Dreifaltigkeit, also die Vorstellung, Gott existiere gleichermaßen in Vater, Sohn und Heiligem Geist, ein Irrglaube sei. Hier kam der Zugang zur „Urreligion“, den die Kabbala ermöglichen sollte, gerade recht. Anhänger der Dreifaltigkeit durchforsteten die von ihnen als kabbalistisch eingestuften Texte nach Erwähnungen einer „Dreiheit“ und verwendeten diese – oftmals unter entschiedener Ausklammerung des Kontexts – als Beleg ihrer Sicht: „Denkbar ist daher, dass sich das intensive christliche Studium kabbalistischer Quellen weniger aus dem Versuch, das Judentum zu widerlegen, speiste, als aus dem Wunsch, sich selbst in innerchristlichen Debatten durchzusetzen,“ meint Eggerz.

Zwischen Freimaurerlogen und Runen – die vielen Kontexte der Kabbala

Innere Dynamiken könnten auch ein Puzzlestück sein, um zu erklären, warum das Interesse an der Kabbala im späten 18. Jahrhundert abflaute – wiewohl es in den Freimaurerlogen im 19. Jahrhundert eine neue Blüte erfuhr: „Die Vielzahl an Kontexten, in denen uns die christliche Kabbala begegnet, ist auch für uns immer wieder überraschend. Wir freuen uns daher sehr auf den Workshop Cabala Christiana as a Discursive Space of Transfer, den wir diesen Herbst organisieren. Hier werden wir nicht nur mehr über das Wiederaufleben der Kabbala bei den Freimaurern erfahren, sondern auch über ihre Präsenz in weiteren europäischen Zusammenhängen. Ein Kollege aus Lund thematisiert den Versuch, die Kabbala mit den Runen zu verbinden“, merkt Elke Morlok an und fährt fort:

„Um die vielfältigen Bezüge der Kabbala zu verstehen, ist ein interdisziplinärer Kontext, wie wir ihn hier an der Goethe-Universität mit den Theologien, der Judaistik, den islamischen Studien und der in der Geschichte beheimateten Forschungsgruppe Polyzentralität und Pluralität des vormodernen Christentums vorfinden, unerlässlich.“ Die Notwendigkeit von fächerübergreifender Zusammenarbeit zeigt sich auch in den Sprachen, die Eggerz und Morlok benötigen: Sie müssen sich nicht nur in deutschen Texten, die stark von der heutigen Standardsprache abweichen, zurechtfinden, sondern auch Latein und Hebräisch sicher beherrschen. Eine Anstrengung, die das Projekt aber wert ist: „Von der Forschung ist Mystik lange als primitive Esoterik verunglimpft worden. Bettet man sie aber in ihren Entstehungskontext ein, wird sichtbar, dass sie durch ihren spekulativen, eklektischen Zugriff großes Potenzial für den interkulturellen Austausch bot – und sich hierdurch aber auch für einen strategischen Einsatz eignete. Beides möchten wir mit unserem Projekt herausstellen.“

Louise Zbiranski

Die Konferenz Cabala Christiana as a Discursive Space of Transfer fand vom 10. bis zum 12. Oktober 2023 im Forschungskolleg Bad Homburg statt.

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