Deutsch-israelische Springschool am Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft. Einige Eindrücke.
Vom 15. bis 17. April fand am Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft eine deutsch-israelische Springschool zum Thema „Writing and Desaster“ statt. Die Lehrkooperation zwischen Prof.‘in Ilit Ferber (Institut für Philosophie in Tel Aviv), Prof. Judith Kasper und Dr. Caroline Sauter (Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Goethe-Universität), aus der auch diese Springschool hervorging, besteht bereits seit Längerem. Ursprünglich sollte sie im Wintersemester 2023/24 als Online-Seminar mit einem Besuch der israelischen Studierenden im Januar in Frankfurt fortgeführt werden.
Jedoch konnte dieser Plan aufgrund des Angriffs der Hamas am 7. Oktober 2023 auf Israel und des folgenden Gaza-Kriegs nicht in die Tat umgesetzt werden. Die vorgesehenen Texte wurden getrennt voneinander gelesen und besprochen, aber der Wunsch nach erneuter Begegnung und Fortsetzung des wissenschaftlichen Austauschs wurde umso stärker. Kurzfristig und ersatzweise wurde also eine dreitägige Springschool auf die Beine gestellt. Die Herausforderung bestand nun darin, einen reflektierten Umgang mit dem Einbruch der Realität von Terror, Gewalt, Krieg (in der Luft, auf dem Boden und in den Köpfen und Diskursen) in den Raum theoretischen Denkens und wissenschaftlichen Arbeitens zu finden.
Als in der Nacht vom 13. auf den 14. April der Iran Israel mit Drohnen angriff und der israelische Luftraum für den zivilen Luftverkehr geschlossen wurde, sah es so aus, als würde erneut ein Krieg die geplante Veranstaltung in Präsenz verhindern. Mit dem Morgengrauen wurde der Luftraum jedoch wieder geöffnet und mit Ausnahme von drei Studierenden, die sich aus familiären Gründen gegen die Reise entschieden haben, waren alle auf dem Weg nach Frankfurt.
Ein von den Frankfurter Studierenden organisiertes Frühstück bildete den Auftakt der Veranstaltung, zu der uns auch die beiden Pariser Kolleginnen Dr. Katja Schubert (Germanistik, Paris X Nanterre) und Prof. Isabelle Ullern (EHESS) erreichten. Einige kannten sich schon aus vorigen Seminaren, die Freude sich wiederzusehen, war enorm. Und wer zum ersten Mal dabei war, kam schnell ins Gespräch mit den Gästen aus Israel. Es war beeindruckend zu sehen, mit welcher Neugierde und Offenheit die Studierenden aufeinander zugingen, miteinander sprachen und einander zuhörten.
Lektüre Blanchots
Im Zentrum der Springschool stand das Buch L’écriture du désastre (Die Schrift des Desasters) des französischen Philosophen und Schriftstellers Maurice Blanchot. 1980 veröffentlicht, gilt es in Frankreich als ein Meilenstein des Denkens und Schreibens nach Auschwitz. Der Text ist fragmentiert; die Begriffe, die Blanchot in der abendländischen Philosophie vorfindet, sind versehrt; Dichotomien brechen zusammen; Dialektiken geraten ins Stottern. Die Schrift des Desasters ist ein schwieriger Text, der nur selten in universitären Zusammenhängen gelesen wird. Der Text sperrt sich gegen Thesenbildung und Zusammenfassung. Aufgrund seiner Dichte, die auch eine poetische ist (in mancher Hinsicht gemahnt sie an Paul Celan), erfordert er eine hohe philologische Aufmerksamkeit. Der hermeneutische Prozess wird verlangsamt, leiser, nachdenklicher, fragender.
Der zentrale Begriff – „Desaster“ – ermöglichte es den Studierenden, theoretisch gestützt, etwas von der extremen Erschütterung – über den Terrorangriff der Hamas und auch über die extrem gewaltsame Gegenwehr Israels in Gaza – zum Ausdruck zu bringen. Zugleich trug derselbe Begriff, der von Blanchot zu einer geradezu kosmischen Katastrophe gewendet wird – die Sterne (astres) geben keine Orientierung mehr in Zeit und Raum –, auch dazu bei, das konkrete Desaster in einem weiteren, existenziellen und ontologischen Horizont zu betrachten.
Keine Elfenbeinturmbeschäftigung
In einer Epoche medialer Beschleunigung und damit einhergehender Diskursverengung erwies sich gerade die sprachliche und konzeptuelle Sperrigkeit dieses Textes, sein Widerstand, ja seine spezifische Barriere, für alle Beteiligten, inklusive den Lehrenden, als besonders produktiv. Die Begriffe, mit denen wir gemeinhin unsere gesellschaftliche Wirklichkeit zu begreifen versuchen, werden durch das Buch verfremdet; unhinterfragte Voreinstellungen geraten so ins Schwanken; Urteile werden zurückgestellt, das Fragen vertieft. Gemeinsam und in unterschiedlichen Arbeitsformaten (Kurzreferate; Lektüre im Plenum, Diskussion im Plenum, Gruppenarbeit und anschließende Präsentationen) entfaltete sich Denken und Sprechen, das wissenschaftlich und erfahrungsgesättigt zu anderen, komplexeren Wahrheiten vor-drang. Dass theoretisches und philologisches Arbeiten eine Elfenbeinturmbeschäftigung ist, wurde in der Springschool eindrücklich widerlegt. Das geisteswissenschaftliche Arbeiten – mit Englisch als lingua franca, immer auch gestützt durch übersetzende Hilfestellungen – hat sich als eine ethische Praxis erwiesen, um Menschen mit unterschiedlichem akademischen Ausbildungsstand (die Gruppe umfasste B.A.-, M.A.-Studierende und Doktorand*innen), mit unterschiedlichem sprachlichem und kulturellem Hintergrund miteinander ins Gespräch zu bringen.
Ein paar Zitate aus der Lehrevaluation mögen die Atmosphäre dieser Veranstaltung vergegenwärtigen: „I appreciated that the level of discussion was constituted rather by a mutual respect for various points of view on the text than by a desire for a common opinion or sovereignity of interpretation”; „The seminar completely changed my mind on the book and opened up new ways of thought for me”; „This seminar has allowed me to try a completely new working modus, to feel the exhaustion and at the same time the joy of being exhausted.” „The way of working and discussing I experienced in the seminar is an experience that will help me a lot.”
Mandy Gratz und Judith Kasper