Am eigenen Leben entlang schreiben: Judith Hermanns erste Frankfurter Poetikvorlesung

Nach zwei Jahren wieder in Präsenz: Über 300 Interessierte lauschten im Hörsaalzentrum auf dem Campus Westend der traditionsreichen Frankfurter Poetikvorlesung. Judith Hermann schlug die Zuhörerinnen und Zuhörer mit einer intensiven ersten Lesung gleich in den Bann. In ihren Texten fände man „Momentaufnahmen des Vagen“, es sei ein „Schreiben auf Entzug“ und eine „Offenheit für den nächsten Augenblick“, so beschrieb Prof. Susanne Komfort-Hein, Germanistin und Geschäftsführerin der Frankfurter Poetikvorlesungen, in ihrer Einleitung die Berliner Autorin.

In ihrer ersten Vorlesung entführte Judith Hermann ihre Zuhörer*innen in eine ebenso autobiographische wie fiktionale Erzählung, in der das Erzähler-Ich mal vertraut, mal fremd erscheint. An einem Abend mit einem Dichterkollegen in der Berliner Kastanienallee trifft die Erzählerin zufällig auf ihren früheren Psychoanalytiker. Die Begegnung stellt für die Autorin eine Herausforderung dar, hat sie doch die Erlebnisse mit dem eher wortkargen Mann in einer Erzählung verewigt. Doch passt die literarisch erinnerte Figur zum realen Wiedergänger, wird die Analysandin vom Analytiker enttäuscht? Weitere Figuren werden eingeführt, die mit der Erzählerin in einem ehemals innigen Austausch standen. Hermann versieht die mitunter komplizierten und auch tragisch anmutenden Gestalten ihrer Erzählung mit zarten, manchmal auch leise ironischen Beschreibungen.

Vielleicht ist das genau die Leichtigkeit, für die ihre Leser*innen sie seit ihrem ersten Band „Sommerhaus, später“ verehren. Erstaunlicherweise wartet die Geschichte mit ihrem Psychoanalytiker mit einer richtigen Auflösung auf: Der fiktionalisierte und in einer Metaerzählung wiederum literarisierte Mann, der ihr 10 Jahre lang in den Therapiesitzungen schweigend zugehört hat, erweist sich als nicht so schlimm wie befürchtet, Fiktion und Realität finden hier zu einer vorläufigen Versöhnung. Oder hat sich die Erzählerin auch dies nur ausgedacht? Judith Hermann formuliert keine poetologischen Maximen oder theoretische Diskurse, in ihrem Vortrag werden die Rätsel und Abgründe ästhetisch-literarischer Weltverarbeitung gewissermaßen im Vollzug entfaltet. Sie schreibe „entlang am eigenen Leben“, wenngleich ihre Erzählungen auch Träume darstellten. Das im Text Verschwiegene müsse sich der Leser hinzudenken. 

Autor: Dirk Frank

„Wir hätten uns alles gesagt – vom Schweigen und Verschweigen im Schreiben“. Frankfurter Poetikvorlesungen mit Judith Hermann.

10. und 17. Mai, 18 Uhr, Hörsaalzentrum, HZ1, Campus Westend

Wissenschaftliches Begleitprogramm: Am 16. Mai untersucht Leonhard Herrmann (Leipzig) den spezifischen „Sound“ in Judith Hermanns Debüt „Sommerhaus, später“, den Hellmut Karasek seinerzeit als „Sound einer neuen Generation“ charakterisierte. Der Vortrag beginnt um 18:15 Uhr und findet online via Zoom statt. Um eine Anmeldung unter poetik@lingua.uni-frankfurt.de wird gebeten.

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