60 Jahre Frankfurter Poetikvorlesungen

Uwe Johnson, Poetikvorlesungen im Sommersemester 1979

Wenn am 7. März 2020 Christoph Ransmayr seine Jubiläumsvorlesung zum sechzigsten Geburtstag der Frankfurter Poetikdozentur hält, wird eine Institution gefeiert, die sich aus der gegenwärtigen Literatur kaum mehr wegdenken lässt und stilbildende Funktion besitzt. Es handelt sich um ein Schauspiel, das sich nicht nur in Frankfurt, sondern viele Male pro Semester an über 30 Universitäten im deutschsprachigen Raum beobachten lässt: Autor*innen ergreifen im Hörsaal das Wort, um über sich und ihr Schaffen in poetologischen Vorträgen Auskunft zu geben. Von Kiel bis Wien herrscht poetologischer Dauerbetrieb. Poetikvorlesungen haben sich als Textform und als Institutionen des Literaturbetriebs mittlerweile fest etabliert und sind eines der charakteristischsten Formate der Gegenwartsliteratur.

Von der Ablehnung zur geschätzten Tradition

Das war 1959, als Ingeborg Bachmann am 25. November die erste Frankfurter Poetikvorlesung hielt, noch ganz und gar nicht abzusehen. Sowohl Form als auch Inhalt der neuen Institution waren zu diesem Zeitpunkt alles andere als geklärt. Immer wieder war von Bachmann selbst und von dem Frankfurter Anglistikprofessor Helmut Viebrock, der als Initiator der Poetikdozentur gelten kann, auf den experimentellen Charakter der Veranstaltung hingewiesen worden. Dieser betont offene Charakter der Vorlesungen wurde von Bachmann dazu genutzt, ihr Selbstverständnis als Autorin darzulegen und auf dieser Basis ein poetologisches Programm zu formulieren.

DISKUS (1959), Universitätsarchiv Frankfurt.

Die initiale Reaktion war eher negativ: Bachmanns Vorlesungen, die heute als Prototyp des Genres und klassischer Text der Nachkriegsliteratur gelten, wurden in der zeitgenössischen Kritik wenig wohlwollend aufgenommen. Auch die Studierenden, die einen quasi-akademischen Vortrag über Literatur erwartet hatten, waren enttäuscht. Gerade das, was heute als wegweisend erscheint – eine essayistisch-theoretische Reflexion über die Grundlagen und Ziele des eigenen Schaffens –, wurde vielfach als unakademisch abgewertet. Es dauerte indes nicht lange, um genau die Zwitterstellung der Poetikvorlesung zwischen Universität und Literatur als Stärke der Institution zu begreifen.

Was als Testballon gestartet war, wurde im Laufe der Jahre schnell zur geschätzten Tradition: Seit 1959 sind in Frankfurt (mit Ausnahme der Jahre 1968 bis 1979) fast jedes Semester Poetikvorlesungen abgehalten worden, die in ihrer Bedeutung immer wieder weit über die Goethe-Universität hinaus gewirkt haben. Die Zahl der literaturgeschichtlich einflussreichen Vorlesungsreihen aus Frankfurt ist lang: Bachmanns Ringen mit den „Problemen zeitgenössischer Dichtung“ (1959), Uwe Johnsons Auseinandersetzung mit dem geteilten Deutschland und seiner literarischen Rolle darin (1979), Christa Wolfs grenzüberschreitende Schilderung des Arbeitsprozesses an ihrer Kassandra-Erzählung (1983), Rainald Goetz‘ (gescheiterter und dennoch beeindruckender) Versuch, die Entstehung von Literatur live und „gerade eben jetzt“ vorzuführen (1998) und nicht zuletzt Christian Krachts Erzählung vom eigenen sexuellen Missbrauch (2018) – nicht nur diese Vorlesungen sind für den Verlauf der deutschen Nachkriegs- und Gegenwartsliteratur prägend gewesen. Seit den 1980ern, aber vor allem nach der Jahrtausendwende wurden zudem auch andernorts vielfach Poetikdozenturen nach Frankfurter Vorbild eingerichtet.

Texte, Kontexte und Selbstdarstellung

Kennzeichnend ist für die Form der Poetikvorlesung besonders das Wechselspiel zwischen verschiedenen Medien. Aus den Vorlesungen wird im Anschluss fast immer ein Buch. Das Verhältnis zwischen Auftritt und Buchpublikation ist dabei im Laufe der Gattungsgeschichte ganz unterschiedlich gestaltet worden: vom einfachen Abdruck der Vortragsmanuskripte bis hin zu anspruchsvollen Versuchen, das Vorlesungsgeschehen selbst wiederum zu vertexten und eine Dokumentation der Auftritte zu erreichen.

Mit den Frankfurter Poetikvorlesungen wurde zudem ein Live-Format etabliert, das nicht nur Texte, sondern auch und besonders Autor*innen präsentiert – gerade Letzteres war in den 1950ern noch weniger verbreitet als heute. Die Frankfurter Dozentur hat zu der Entwicklung des autor*innenzentrierten Literaturbetriebs, wie wir ihn heute kennen, ihren nicht geringen Teil beigetragen.

Alexander Kluge, Poetikvorlesungen im Sommersemester 2012. Foto: Lecher

In Poetikvorlesungen bekommen literarische und literaturtheoretische Programme ein Gesicht und einen Körper. Autor*innen treten für sich und ihre Werke ein, geben Verständnishinweise und versuchen, ihre Interpretationen der eigenen Texte durchzusetzen und treten bei alldem auch stets als Werbende in eigener Sache auf. Poetikvorlesungen haben insofern immer eine mehrfache Agenda: Sie sind für Schriftsteller*innen Arbeit an der eigenen „Marke“ und damit eine Form der Selbstdarstellung.

Gleichzeitig handelt es sich aber auch um (zuweilen hochreflektierte) Texte, die ästhetischen Anspruch aufweisen und sich nicht als reine Gebrauchstexte abwerten lassen. Aufmerksamkeitssteuerung und Poetologie, Werbung und literarische Ästhetik gehen bei Poetikvorlesungen Hand in Hand. Genau das macht sie wiederum aus autonomieästhetischer Sicht verdächtig – die Idee einer „reinen“ Kunst wird hier durchaus herausgefordert. Vor diesem Hintergrund ist die Poetikvorlesung im Lauf ihrer Geschichte immer wieder grundsätzlicher Kritik ausgesetzt gewesen.

Neben der kulturkritischen Sorge, dass der Fokus zu stark von den literarischen Texten abgezogen und auf die sich selbst darstellenden und in Pose werfenden Autor*innen gelenkt werde, ist von den Schreibenden selbst vor allem die Gefahr benannt worden, dass das Halten von Poetikvorlesungen vom „eigentlichen“ Schreiben ablenke – poetologische Texte erscheinen in dieser Perspektive als sekundäre Pflichtaufgaben. In der gegenwärtigen Situation spitzt sich dieses Problem zu.

Ungebrochenes Interesse des Publikums

Mit der flächendeckenden Verbreitung von Poetikdozenturen ändert sich insofern nicht nur die Rolle der Frankfurter Institution, sondern auch die Gestalt der Texte, die in ihrem Rahmen produziert werden. Poetikvorlesungen sind für Autor*innen nicht mehr die einmalige Chance, ihren literarischen Werken eine poetologische Reflexion an die Seite zu stellen, sondern business as usual.

Die Produktion von essayistisch-selbstreflexiven Texten und ihr Vortrag in den Hörsälen des Landes gehören zu den Anforderungen an zeitgenössische Autor*innen ganz selbstverständlich dazu. Manche Schriftsteller*innen hatten bereits über zehn Dozenturen inne, z. B. Marcel Beyer (2016 in Frankfurt). Auch vor diesem Hintergrund einer solch inflationären Verbreitung ist die mancherorts ambivalente Haltung gegenüber Poetikvorlesungen zu verstehen.

Umgekehrt ist gerade dadurch aber auch zu beobachten, dass vermehrt mit den Anforderungen an die Vorlesung durchaus virtuos umgegangen und gespielt wird; Beyer selbst ist ein gutes Beispiel dafür. Nicht zuletzt reagieren Poetikvorlesungen auf das offenbar ungebrochene Interesse des Publikums, etwas über Künstler*innen und die Entstehungsbedingungen von Kunstwerken zu erfahren – ein gleichermaßen reizvolles wie schon aus sich heraus unabschließbares Unterfangen, das immer wieder neu ansetzen kann und muss.

Ihre formalen und institutionellen Alleinstellungsmerkmale hat die Frankfurter Dozentur in der Entwicklung der letzten Jahre und Jahrzehnte zwar bis zu einem gewissen Grad eingebüßt, ihren Status als Klassiker kann man ihr hingegen nicht absprechen. Für viele Autor*innen ist gerade die Frankfurter Poetikvorlesung weiterhin etwas Besonderes. Das beweist nicht zuletzt die Tatsache, dass immer wieder große Namen für die Dozentur gewonnen werden können, die vorher noch nirgendwo anders Poetik gelesen hatten.

Aber nicht nur deshalb bleibt die Dozentur interessant: Auch, wenn in der langen Geschichte der Frankfurter Poetikvorlesungen schon alle möglichen inhaltlichen und formalen Experimente mit der Form angestellt wurden, trägt doch jede Vorlesung wieder das emphatische Versprechen in sich, „die Begeisterung für das weiße, unbeschriebene Blatt“, von der Ingeborg Bachmann in ihrer fünften Frankfurter Vorlesung gesprochen hatte, zu vermitteln und anschaulich zu machen.

Kevin Kempke, Literaturwissenschaftler an der Universität Stuttgart, war von 2016 bis 2019 wissenschaftlicher Mitarbeiter im Graduiertenkolleg »Schreibszene Frankfurt« an der Goethe-Universität. 2020 erscheint seine Dissertation über die Frankfurter Poetikvorlesungen.

Dieser Artikel ist in der Ausgabe 1.20 des UniReport erschienen.

Außerdem liegt die neue Ausgabe des UniReport an sechs Standorten in „Dispensern“ aus: Campus Westend – Gebäude PA, im Foyer / Treppenaufgang; Hörsaalzentrum, Ladenzeile; Gebäude PEG, Foyer; Gebäude RuW, Foyer; House of Finance, Foyer. Campus Riedberg – Gebäude N, Foyer vor Mensaeingang.

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