In der Ausstellung „Das Anwesende des Abwesenden“ des Frankfurter Kunstvereins ist das Institut für Theoretische Physik der Goethe-Universität mit mehreren Exponaten vertreten. Wo liegen Schnittstellen zwischen Kunst und Wissenschaft, wann sind mathematische Gleichungen schön – ein Gespräch mit der Kuratorin und Direktorin des Kunstvereins Franziska Nori und dem Astrophysiker Luciano Rezzolla.
Frau Nori, wie sind Sie auf die Idee gekommen, für die Ausstellung „Das Anwesende des Abwesenden“ den Astrophysiker Luciano Rezzolla anzusprechen?
Franziska Nori: Im Frankfurter Kunstverein arbeiten wir regelmäßig mit Naturwissenschaftlern zusammen; das ist bereits unsere vierte Ausstellung zu den Wissensfeldern Kunst und Naturwissenschaft. Diese Form der Zusammenarbeit ist für uns wichtig, weil Kunst und Wissenschaft wesentliche Formen des menschlichen Denkens sind. Die Idee einer Anwesenheit des Abwesenden diskutierten mein Team und ich jahrelang, und in diesem Zusammenhang faszinierten uns besonders Schwarze Löcher. Uns liegt außerdem am Herzen, Experten und Expertinnen aus Frankfurt einzubinden. So sind wir recht schnell auf Luciano Rezzolla gestoßen. Er ist Teil des renommierten internationalen Wissenschaftlerteams EHT, das das erste Bild eines Schwarzens Lochs im Universum bildlich erfasst hat. Damit bewegt Rezzolla sich genau an der Schnittstelle zu unserer Kerndisziplin: dem bildhaften Denken.
Was haben Sie gedacht, Herr Rezzolla, als die Anfrage vom Kunstverein kam?
Luciano Rezzolla: Ich habe zunächst einmal gedacht, dass die Anfrage aus Versehen bei mir gelandet ist. Meine Tochter ist nämlich Künstlerin in Berlin und beteiligt sich auch an Ausstellungen. Aber dann habe ich verstanden, dass Franziska Nori tatsächlich mit mir arbeiten wollte. Das fand ich eine großartige Idee und auch eine phantastische Gelegenheit, zwei verschiedene Universen zu verbinden.
Wie sind Sie nun ins Gespräch gekommen?
Rezzolla: Wir haben uns erst einmal auf einen Tee getroffen …
Nori: … genau, und dabei habe ich von unserem Projekt berichtet. Luciano war besonders daran interessiert, wie wir künstlerische Positionen mit wissenschaftlichen Exponaten in einen sinnreichen Dialog bringen. Beide waren wir der Meinung, dass mit dem abstrakten Thema des Schwarzen Lochs abstrakte Fragen zu Materie, Energie, Leben verbunden sind. Mathematische Zeichen verhalten sich ähnlich wie bildliche Zeichen in der Konzeptkunst. Sie verweisen auf eine Wirklichkeit, die über Symbole ausgedrückt wird. Hier ist es die Idee, die in den Mittelpunkt des Kunstwerks steht. Die physische Umsetzung wird als sekundär betrachtet. Wir waren uns deshalb relativ schnell einig, dass es spannend sei, über das Thema des Anwesenden und Abwesenden theoretisch nachzudenken und die Gedanken der theoretischen Mathematik mit einer visuellen Dimension in die Räume einzubringen.
Ging es Ihnen ähnlich – ist Ihnen, Herr Rezzolla, der Dialog leichtgefallen?
Rezzolla: Ja, das war ein vollkommen natürliches Gespräch. Wir haben an einem Tisch gesessen und auf einem Stück Papier die Idee zusammengebastelt. In ein paar Stunden hatten wir fast alles stehen. Wir haben so miteinander gesprochen, wie ich mit meinen Studenten diskutiere – eigentlich hat nur die Tafel gefehlt. Das hat sicher auch deshalb gut geklappt, weil wir Physiker die Idee von Anwesenheit und Abwesenheit immer schon im Kopf haben. Die Herausforderung war, die Anknüpfungspunkte und Verbindungen zwischen Kunst und Wissenschaft zu finden. Und die richtige Botschaft.
Wo haben Sie die Anknüpfungspunkte gefunden?
Nori: Der zentrale Anknüpfungspunkt war das erste Bild des Schwarzen Lochs. Es übersetzt einen hochkomplexen astronomischen Datensatz in etwas, das durch unser Auge rezipiert und gelesen werden kann. Die Komplexität von etwas ansonsten Unsichtbaren und Abstraktem wird in eine andere, sinnlich wahrnehmbare Form übersetzt.
Wir führen das Gespräch ja direkt vor dem Exponat im Kunstverein: Wir sehen drei Tafeln mit mathematischen Gleichungen, die von Tafel zu Tafel immer umfangreicher werden. Am Ende der Reihe hängt ein Bild: das erste Bild des Schwarzen Lochs in unserer Milchstraße. Herr Rezzolla, wie sind Sie auf dieses Konzept gekommen?
Rezzolla: Die erste Tafel zeigt die Gleichung der Relativitätstheorie von Einstein aus dem Jahr 1915. Sie erklärt, dass schwarze Löcher in unserem Universum existieren können, aber auch noch viel mehr. Sie beschreibt zum Beispiel, wie sich das Universum aus dem Urknall entwickelt hat. Diese Formel passt in eine Zeile, sie ist kurz, einfach – schön. In ihr ist alles enthalten. Unter Einsteins Formel sehen Sie dann eine weitere kurze Formel. Sie stammt von Schwarzschild und beschreibt ein schwarzes Loch. Sie wurde weniger als ein Jahr nach der Veröffentlichung der Relativitätstheorie gefunden. Damals wurde die Idee des Schwarzen Lochs aber nicht verstanden. Das gelang erst später. 1967 und dann später noch einmal. Diese Formeln sehen wir auf den weiteren Tafeln. Das sind viel umfangreichere, viel komplexere Gleichungen, die erklären, was in den ersten Formeln schon angelegt ist. Die Formel auf der dritten Tafel nimmt, wie Sie sehen, den ganzen Tafelraum ein. Die Verbindung zwischen den drei Formeln ist: Es gibt ein Spiel mit Komplexität und Schönheit. Je umfangreicher, komplexer die Formel ist, desto mehr verschwindet die Schönheit – da wo das Eine anwesend ist, ist das Andere abwesend und umgekehrt.
Schön ist eine Formel also, wenn sie einfach ist?
Rezzolla: Ja, beziehungsweise: Schön ist eine Formel, wenn sie viele Möglichkeiten und Vielfalt enthält. Die Gleichung ist wie eine Schachtel, in der die Komplexität schon enthalten, aber nicht sichtbar ist. Oder sie ist wie ein Gedicht, das auf kleinstem Raum viele Bedeutungen vereint. So ist es auch mit der Schönheit in der Mathematik: Es geht darum, in einer einfachen Formel ein Maximum an Möglichkeiten zusammenzubringen.
Nori: Das macht Kunst ähnlich: Sie stellt eine These in den Raum und findet dann ästhetische Lösungen. Als Beispiel könnten wir Joseph Kosuth nennen. 1965 hat er mit „One and Three Chairs“ die Natur der dinglichen Wirklichkeit, der Repräsentation und der sprachlichen Abstraktion und Zeichenhaftigkeit analysiert. Ein realer Stuhl, dessen fotografisches Abbild und der Lexikoneintrag des Begriffs „Stuhl“ verdeutlichten die Ebenen der Verweise. Und so ähnlich sehe ich bei Mathematikern und Physikern eine Abfolge der Abstraktionsgrade menschlicher Wahrnehmungs- und Denkprozesse.
Es ist erstaunlich, dass der Begriff der Schönheit hier über die Physik ins Spiel kommt. Für Schönheit ist ja eigentlich die Kunst zuständig …
Nori: Ja, ich fand toll, dass Luciano sehr oft mit dem Begriff der Kunst in unsere gemeinsame Arbeit eingetreten ist. Ich habe mich seinem Begriff der Schönheit deshalb anfangs wie eine Feldforscherin genähert. Der Begriff der Schönheit ist ja ein schwieriger Begriff, weil er nicht eindeutig definiert ist. Über meine Erfahrung im Austausch mit Code Creators habe ich dann Luciano Rezzollas Sicht gut nachvollziehen können. Code Creators programmieren ausführbare Dateien. Zusätzlich zu der Funktionalität suchen die virtuosen Programmierer nach einer Schönheit des Quelltextes. Der ist essentiell.
Wenn wir über Schönheit nachdenken, interessieren mich auch extrem die Erkenntnisse aus den Neurowissenschaften. Besonders die Versuchsanordnungen, bei denen Lebewesen – egal ob Menschen oder Tiere – messbare sinnliche Erfahrungen von Proportionen und Kompositionen aufweisen. Aber das ist ein Projekt, dem wir uns in Zukunft widmen wollen.
Brauchen wir die viel ausführlicheren, komplexeren Formeln für ein besseres Verständnis der ersten Formel, also für das Bild des Schwarzen Lochs?
Rezzolla: Ja. Die erste Gleichung ist wie eine Tafel voller Farbe, die komplexeren Formeln malen ein Bild mit dieser Farbe. Wie bei vielen anderen Dingen im Leben besteht die ganze Arbeit natürlich darin, die Gleichungen in der dritten Tabelle zu lösen, mit all ihrer Komplexität. Das ist es, was wir tun, um zum Beispiel das Bild zu erhalten, das Sie an der Wand sehen.
Frau Nori, Sie haben von der Konzeptkunst gesprochen. Geht es auch da darum, im Bild mehr Verständnis der Theorie zu schaffen?
Nori: Ja schon. Mich interessieren die übergeordneten Perspektiven. Unsere körperliche Beschaffenheit, die Sinnesorgane, zum Beispiel Schall- und Lichtfrequenzen wahrzunehmen, definieren unsere Fähigkeit, Welt zu erfahren. Ein zweiter Aspekt: am Anfang jedes kreativen Prozesses steht immer eine Intuition – sowohl in der Kunst als auch in Wissenschaft. Letztere schafft Begriffe und Konzepte und erzielt Ergebnisse. So gelingt es der Gattung Mensch, Ideenkosmen zu erdenken, die über die unmittelbare Anschaulichkeit seiner körperlichen Erfahrung hinaus verweisen. Und was macht Kunst? Sie führt alles zu uns und auf uns zurück. Sie fragt nach der Bedeutung des Wissens für uns. Sie schafft eine bildhafte Vorstellung. Seit Urzeiten schauten Menschen in den Himmel. Sie haben Konstellationen erdacht, ihnen Tiernamen gegeben, Ursprungsmythen geschaffen, in denen das Unergründliche im schwarzen Himmel ein Raum der Interpretation wurde. Wir können also gar nicht anders, als diese beiden Aspekte – bildhaftes Denken und beobachtungsbasiertes Forschen – zusammenzubringen.
Die Ausstellung „Das Anwesende des Abwesenden“ stellt 14 Exponate aus. Wie wird das Abwesende anwesend, das Anwesende abwesend …
Nori: Das Anwesende des Abwesenden deutet auf Materie als Präsenz hin, in die sich das Leben einschreibt. Energie und Leben sind kraftvoll, jedoch flüchtig. Die Beziehung zwischen Leben, Energie und Materie spielt in der Ausstellung eine zentrale Rolle – von 3,5 Millionen alten Spuren der ersten aufrecht gehenden Menschen in Tansania, die durch natürliche Kontingenzen heute erhalten sind, bis zu den menschlichen Körpern, die dem Vulkanausbruch in Pompeji zum Opfer fielen.
Rezzolla: Für mich ist das Thema auch nur ein Vorwand, um in dieser Ausstellung möglichst viele visuelle, taktile und andere sinnliche Erfahrungen des Anwesenden wie des Abwesenden machen zu können. Es geht immer um beides.Im Bild des Schwarzen Lochs sieht man zum Beispiel die Anwesenheit von Licht und die Abwesenheit von Materie. Es gibt immer dieses Spiel zwischen den beiden Themen. Aber noch einmal zurück zu der Frage des Verhältnisses zwischen Kunst und Wissenschaft: Wir gehen normalerweise davon aus, dass Kunst und Wissenschaft sich auf den beiden Polen einer Linie positionieren. Aber wir Wissenschaftler wissen das: Es ist nur eine Frage der Perspektive, und sehr weit entfernte Objekte können tatsächlich als sehr nah angesehen werden. Diese Ausstellung soll zeigen, wie nahe sich Kunst und Wissenschaft tatsächlich sind.
Nori: Ja, stimmt. Die Frage nach der Perspektive ist interessant. Die der Wissenschaftler könnten wir als die der „dritten Person“ bezeichnen; es geht um Objektivität. In der Kunst hingegen ist es oft die der „ersten Person“, um die subjektive Erfahrung von Welt. So zeigen wir die Exponate der Physik im selben Raum mit Kunstwerken: der multimedialen interaktiven Projektion „Distortions in Spacetime“ des Londoner Künstlerkollektivs Marshmallow Laser Feast und „Shrink“ von Lawrence Malstaf. Die erste lässt Besucher in eine imaginierte Reise ins Universum eintauchen. Eine klangliche und visuelle Erfahrung der Explosion einer Supernova und der Entstehung eines schwarzen Lochs. „Shrink“ des belgischen Künstlers Lawrence Malstaf spielt mit Anwesenheit und Abwesenheit über das Atmen. Die Kontrolle von Atmung spielt in allen menschlichen Kulturen eine Rolle, wenn es um die Einheit von Körper und Geist geht. Und der Atem ist das zentrale Merkmal der Anwesenheit von Leben.
Herr Rezzolla, sind Sie gespannt darauf, einmal mitten in der Explosion einer Supernova zu stehen?
Rezzolla: Ja, das ist ein guter Übergang von unserem Bild zu einer Erfahrung.
Frau Nori, Herr Rezzolla, was haben Sie beide mitgenommen aus Ihrem Dialog?
Nori: Für mich ist das Exponat der Astrophysiker Konzeptkunst. Ich sehe die Gleichungen wie Zeichen, die ich nicht deuten kann. Es ist nicht meine Sprache, also entschlüssele ich den Sinn nicht direkt. Luciano hat eine große Fähigkeit: Er kann Nicht-Experten in sein komplexes Wissen mitnehmen. Und wir begreifen unser Haus als Ort, der Fenster auf die unterschiedlichen Erfahrungen von Welt öffnet und in dem man staunend neues Wissen erlebt.
Rezzolla: Ich bin dankbar, dass ich Frau Nori kennengelernt habe. Denn ich war schon immer davon überzeugt, dass Kunst und Wissenschaft zusammengebracht werden können. Aber ohne die Leidenschaft von Frau Nori wäre das nicht möglich gewesen. Wir Physiker haben dafür keine Zeit, und wir brauchen auch Hilfe, weil wir nicht immer wissen, wie wir unser Wissen an die Nicht-Experten vermitteln können.
Das heißt, Sie hatten schon länger das Bedürfnis, ihre Erkenntnisse über das Universum in ein anderes Medium zu übersetzen?
Rezzolla: Ja. In der Tat denken wir Physiker im Besonderen, aber alle Wissenschaftler im Allgemeinen ständig über sehr allgemeine Fragen nach. Das Medium, das wir benutzen, um unsere Ideen auszudrücken, sind Mathematik und Zahlen. Wir können aber noch viele weitere Medien für diese Konzepte verwenden.
Frau Nori, Herr Rezzolla, vielen Dank für dieses Gespräch.
Die Fragen stellte Pia Barth
Weitere Informationen
Ausstellung „Das Anwesende des Abwesenden“
12.10.2024–02.03.2025 im Frankfurter Kunstverein
Homepage
Führungen
mit der Kuratorin und Direktorin des Frankfurter Kunstvereins Franziska Nori sowie Wissenschaftlern und Lehrbeauftragten der Goethe-Universität:
10. November 2024, 15 Uhr
„Das Geheimnis der Schwarzen Löcher“ mit Prof. Dr. Luciano Rezzolla, Institut für Theoretische Physik an der Goethe-Universität*
8. Dezember 2024, 15 Uhr
„Spuren des Zufalls – Flüchtige Momente, die für immer in die Materie eingeschrieben sind“ mit Dr. Ottmar Kullmer, Abteilungsleiter der Paläoanthropologie, Senckenberg Forschungsinstitut und Naturmuseum
16. Januar 2025, 18:30 Uhr
„Kunst und Wissenschaft? Einblicke in die Kooperation zwischen den Frankfurter Kunstverein und der Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung“ mit Prof. Dr. Andreas Mulch, Direktor Senckenberg Forschungsinstitut und Naturmuseum Frankfurt
30. Januar 2025, 18:30 Uhr
„Was uns die Spuren menschlicher Körper aus der Vergangenheit erzählen“ mit Dr. Wolfgang David, Direktor des Archäologischen Museums Frankfurt
Frankfurter Kunstverein, Steinernes Haus am Römerberg, Markt 44, 60311 Frankfurt am Main