Poetikdozentur in Pandemiezeiten: Judith Hermann und ein Blick nach vorn

Eine Frau lässt ihr altes Leben hinter sich und bricht in die Einsamkeit eines winzigen und baufälligen Hauses am Meer auf, in dem sie versucht, neue Wurzeln zu schlagen. Doch nicht nur die Geschichte der Ich-Erzählerin in Judith Hermanns Roman „Daheim“ weckt Assoziationen zu der seit nunmehr zwei Jahren weltweit grassierenden Covid-Pandemie, auch dessen Erscheinungsjahr 2021 suggeriert einen zeitgeschichtlichen Zusammenhang, der sich als bloßer Zufall entpuppt.

Denn der Roman ist schon vor der Pandemie geschrieben worden, wie die Autorin in einem Interview mit UniReport (Dezember 2021) sagt und dennoch könne das Leben der Protagonistin als „Kommentar zur Lage“ und „Reflexion der Verhältnisse“ gelesen werden. Ein gewisses Maß an einsamer Zurückgezogenheit bringt wohl jede Schreibarbeit mit sich, das habe sich seit der Pandemie nicht verändert. Künstlerisch inspirierend sind die von der Pandemie hervorgebrachten „Bilder von Distanz und Isolation“, die hinzugekommenen Sorgen, „die ungewisse Lage, die offenen Fragen“ für Judith Hermann nie gewesen. Im Gegenteil hätten sie vielmehr etwas Lähmendes und Deprimierendes. Und das sei nichts, worüber sie schreiben wolle.

Obwohl der Zusammenhang zwischen Romanhandlung und Infektionsgeschehen sowie dessen gesellschaftliche Auswirkungen Zufall ist, so zeigt sich ein weiteres Mal, dass die 1970 in Berlin geborene Autorin mit ihrer Literatur im besten Sinne des Wortes gegenwärtig ist: Sie trifft den Nerv unserer Zeit. Vom Feuilleton gefeiert und wochenlang auf der „Spiegel“-Bestsellerliste, gehört Judith Hermann nicht erst seit ihrem jüngsten Roman zur ersten Reihe der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Schon ihr 1998 erschienenes Debüt „Sommerhaus, später“, das im Berlin der 1990er-Jahre spielt und neun Erzählungen enthält, wurde zu ihrem großen Durchbruch und als mentalitätsgeschichtliches Zeugnis einer Generation gefeiert. Weitere Publikationen sollten folgen: die Erzählbände „Nichts als Gespenster“ (2003), „Alice“ (2009) und „Lettipark“ (2016) sowie 2014 der kontrovers diskutierte erste Roman „Aller Liebe Anfang“. Für das bisherige Werk wurden ihr u. a. der Bremer Literaturpreis (2022), der Rheingau Literatur Preis (2021), der Erich Fried Preis (2014), der Friedrich-Hölderlin-Preis der Stadt Bad Homburg (2009) sowie der Kleist-Preis (2001) zuerkannt.

„Wir hätten uns alles gesagt – vom Schweigen und Verschweigen im Schreiben“: Unter diesem Titel wird Judith Hermann die traditionsreichen Frankfurter Poetikvorlesungen am 3., 10. und 17. Mai 2022 halten. An drei Dienstagabenden ab jeweils 18 Uhr gibt unsere Gastdozentin für Poetik im Hörsaalzentrum (Raum HZ1) auf dem Campus Westend der Goethe-Universität dem Publikum Einblick in ihr literarisches Schaffen. Die Reihe wird am 18. Mai abgeschlossen mit einer Lesung im Frankfurter Literaturhaus. Der Konjunktiv im Titel von Judith Hermanns Poetikvorlesungen spricht Bände: Wir hätten uns alles gesagt, wenn es denn möglich gewesen wäre. Die Pandemie beeinflusst nicht nur die Art und Weise, wie wir Literatur lesen, sondern auch die Bedingungen ihrer Entstehung und des Austausches über sie. Vieles, was früher selbstverständlich war, ist abhängig von etwas, das aus dem medizinischen Fachdiskurs in die Alltagssprache eingewandert ist: Infektionsgeschehen. Schon im vergangenen Sommersemester mussten die Poetikvorlesungen deswegen verschoben werden und konnten im darauffolgenden Wintersemester bedauerlicherweise erneut nicht stattfinden. Umso mehr hoffen wir auf ein mildes Infektionsgeschehen im Mai, um das Schweigen im Hörsaal zu überwinden und Judith Hermanns Poetikvorlesungen vor Ort erleben zu können.

Ausweitung des Begleitprogramms

Flankiert werden die drei Vorlesungen von zwei wissenschaftlichen Vorträgen. Am 2. Mai widmet sich Carola Hilmes (Frankfurt am Main) dem von Volker Hage 1999 in Bezug auf Judith Hermann ausgegebenen ambivalenten Label „literarisches Fräuleinwunder“, das einerseits eine Erfolgsgeschichte markiert und andererseits misogyn ist. 14 Tage später, am 16. Mai, untersucht Leonhard Herrmann (Leipzig) den spezifischen „Sound“ in Judith Hermanns Debüt „Sommerhaus, später“, den Hellmut Karasek seinerzeit als „Sound einer neuen Generation“ charakterisierte. Beide Vorträge beginnen jeweils um 18:15 Uhr und finden online via Zoom statt. Alle Interessierten sind auch hierzu herzlich eingeladen. Um Anmeldung per Mail wird gebeten.

Die beiden begleitenden wissenschaftlichen Vorträge deuten auf die zukünftige Ausrichtung der Stiftungsgastdozentur für Poetik an der Goethe-Universität hin. Anstatt jedes Semester finden die Poetikvorlesungen nun einmal im Jahr als kompakte Veranstaltungsreihe mit einem umfangreichen und engmaschigen Begleitprogramm statt, u. a. aus universitären Lehrveranstaltungen, studentischen Projekten, Ausstellungen, wissenschaftlichen Tagungen und Vortragsreihen etc. In der Vergangenheit wurden solche Formate bereits erprobt und sollen zukünftig integraler Bestandteil der jeweiligen Poetikvorlesung werden, wodurch sie einerseits als dezidiert akademische Veranstaltung in den Kontext von Forschung und Lehre an der Goethe-Universität eingebunden ist. Andererseits schlägt sie durch ihr Begleitprogramm noch stärker als bisher eine Brücke der Vermittlung zwischen akademischem Diskurs und interessierter Öffentlichkeit.

Schon im Sommersemester 2018 fand begleitend zu Christian Krachts Poetikvorlesungen eine internationale Tagung zu dessen Ästhetik statt, die 2019 in einem viel beachteten, von Susanne Komfort-Hein und Heinz Drügh herausgegebenen Tagungsband mündete, welcher derzeit ins Englische übersetzt wird. Christoph Ransmayrs Jubiläumsdozentur anlässlich des 60-jährigen Bestehens der Frankfurter Poetikvorlesungen im Wintersemester 2019/20 wurde von einer Vortragsreihe eingeleitet, die sich einer großen Nachfrage insbesondere außeruniversitären Publikums erfreute. Im Anschluss an die Jubiläumsdozentur fand zudem ein Workshop statt, der von Studierenden initiiert und organisiert wurde.

Auch Monika Rincks Poetikvorlesungen im Winter 2020 wurden von einer wissenschaftlichen Online-Tagung flankiert, deren Beiträge demnächst in einem von Nathan Taylor herausgegebenen Sammelband publiziert werden. Insgesamt stand Monika Rincks Gastdozentur ganz im Zeichen der Pandemie. Denn nachdem sie zunächst verschoben werden musste, war die Lyrikerin und Essayistin bereit, sich auf das ästhetische Experiment einer digitalen Dozentur einzulassen. Aus der scheinbaren Notlösung resultierte tatsächlich eine der herausragendsten Poetikvorlesungen der letzten Jahre – gerade wegen der ungewohnten Form. Nach wie vor sind die Videos über die Webseite der Stiftungsgastdozentur einsehbar.

Zwar werden auch in Zukunft die Poetikvorlesungen den Mittelpunkt der jeweiligen Gastdozentur bilden, doch die bereits erprobten Begleitformate sollen weiter ausgebaut werden und die Bedeutung der Frankfurter Poetikdozentur als Institution in der Literaturstadt Frankfurt, als Medium ästhetischer Reflexion sowie als Forschungsgegenstand stärken.

Breite Unterstützung

Allen Partnerinnen und Partnern sei an dieser Stelle herzlich für die großzügige Unterstützung und die vertrauensvolle, gute Zusammenarbeit gedankt, die einen wesentlichen Beitrag zum langjährigen Erfolg unserer Poetikdozentur geleistet haben und in Zukunft leisten werden. Ein großer Dank gebührt zunächst den drei Verlagen S. Fischer, Suhrkamp und Schöffling für ihre jahrelange, aktive und intensive Unterstützung. Diese traditionsreichen Partnerschaften konnten aufgrund der geltenden, strengeren Compliance-Regeln der Goethe-Universität, die im Dienst der Wissenschaftsfreiheit und Neutralität eine striktere Trennung von Akteuren und Förderern verlangen, nicht fortgesetzt werden. Frau Dr. Dania Hückmann, der Vereinigung der Freunde und Förderer der Goethe-Universität, der Stadt Frankfurt und dem Literaturhaus Frankfurt werden wir auch weiterhin für eine großzügige Förderung dankbar sein können. Wir freuen uns zudem über die Unterstützung durch unsere neue Partnerin, die Dr. Marschner-Stiftung. Zu den größeren Frankfurter Stiftungen zählend, begleitet die Dr. Marschner-Stiftung kleinere Projekte wie größere ambitionierte Vorhaben aus den Bereichen Kultur, Soziales und Wissenschaft. Ihr Einsatz in der Region – in Frankfurt und Offenbach – fügt sich in die lange Tradition sowohl des bürgerlichen Engagements in der Stadt Frankfurt als auch in die der Goethe-Universität als Stiftungsuniversität.

Über den Kreis der Förderer hinaus ist die partnerschaftliche Zusammenarbeit mit der Buchmesse und dem Museum Angewandte Kunst geplant. So wird die Stiftungsgastdozentur ihre Geschichte auf dem Fundament starker Partnerschaften in Gegenwart und Vergangenheit fortsetzen und blickt schon jetzt mit Zuversicht ins Sommersemester 2023, wenn der Büchner-Preisträger Clemens J. Setz die Poetikdozentur übernimmt, freut sich zunächst aber auf Judith Hermann im Mai 2022.

Maximilian Koch

TERMINÜBERSICHT

3., 10. und 17. Mai 2022

Wir hätten uns alles gesagt – vom Schweigen und Verschweigen im Schreiben
Poetikvorlesungen mit
Judith Hermann,
jeweils ab 18 Uhr,
Hörsaalzentrum (Raum HZ 1)
Campus Westend.

18. Mai 2022
Abschlusslesung im Literaturhaus Frankfurt,
Schöne Aussicht 2

2. und 16. Mai 2022
wissenschaftliche Vorträge über Zoom
Anmeldung unter: poetik@lin-gua.uni-frankfurt.de

Weitere Informationen www.poetikvorlesung.uni-frankfurt.de

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