Der Film als Medium des Fremden, des Eigenen und der kulturellen Indifferenz

Plakat rechts: © Berolina Film, Berlin
Plakat rechts: © Berolina Film, Berlin

„Der Film als mobiles Medium der Moderne produziert unablässig Erfahrungen von Eigenem und Fremdem, von Identität und Differenz“, betont der Filmwissenschaftler Prof. Dr. Vinzenz Hediger in seinem Beitrag in der aktuellen Ausgabe von Forschung Frankfurt (2/2016), dem Wissenschaftsmagazin der Goethe-Universität. Zeigten die Reisefilme zu Beginn des 20. Jahrhunderts bewusst die „wunderbare Differenz“ zur eigenen Wirklichkeit, wurde in der heilen Welt der Heimatfilme nach Ende des Zweiten Weltkriegs das Eigene für den Konsum verfügbar gemacht. Erst die Hollywood-Blockbuster verfolgten die Strategie, das kulturell Fremde so zu minimieren, dass daraus der für alle verständliche „Dialekt der Moderne“ wurde.

Als eigenes Genre vermittelte der Film in seiner frühen Phase die Erfahrung des Naturschönen, gleichzeitig stand die Erfahrung mit dem Fremden und der kulturellen Differenz im Vordergrund. „Die Sujets umfassten das ganze Repertoire der ethnologischen Feldforschung: Handwerk, Nahrungszubereitung, Kleidungsstile, Tänze, Rituale“, so Hediger über die Dokumentationen und Reisefilme mit ethnografischen Motiven, die in Deutschland „Kulturfilme“ genannt wurden. Filme lösten ortgebundene Formen des Spektakels ab wie die legendären „Völkerschauen“ des Hamburger Zoounternehmers Hagenbeck. So griff auch Robert Flaherty in „Nanook of the North“ das Alltagsleben einer Inuit-Familie auf; er rekonstruierte aber eine Lebensform mit Kleidern und Gerätschaften, die schon längst nicht mehr in Gebrauch waren. Das Broadway-Publikum war begeistert, die Vermarktung der Nanook-Produkte von Pelzmänteln bis Speiseeis wurde ein voller Erfolg.

„Dem Film kommt aber auch die Rolle zu, das Eigene für den Konsum verfügbar zu machen. Der Heimatfilm des deutschen Nachkriegskinos ist dafür ein prägnantes Beispiel“, erläutert der Frankfurter Filmwissenschaftler. Geschichten von der Liebe im Grünen, von Brauchtum und Tradition, Wanderschaft und heilsamer Natur versichern dem Publikum ab den 1950er Jahren, dass es eine heile Welt jenseits der Trümmerlandschaften gibt. So strömten die Menschen, sobald erste Impulse des Wirtschaftswachstums zu spüren waren, in die deutschen Landschaften, noch verzaubert von seichten Heimatfilme. Diese bildeten aber schon bald die kritische Kontrastfolie für Filme der neuen deutschen Filmemacher. In seiner Film-Trilogie „Heimat“ verkehrte Edgar Reitz die beschaulich ländliche Idylle in eine vielschichtige lebendige Chronik der deutschen Geschichte vom Faschismus über das Wirtschaftswunder und bis in die 1980er Jahre.

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Forschung Frankfurt im Internet:

Den Beitrag von Prof. Vinzenz Hediger in der Ausgabe 2-2016 lesen (PDF) »

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Warum hatte Reitz‘ „Heimat“ auch international einen solchen Erfolg? Dazu Hediger: „Der erdverbundende Dichter/Denker/Musiker Hermann, der schließlich die Hauptfigur von ‚Heimat‘ wird, entspricht einer Fremdwahrnehmung Deutschlands als Land der Dichter und Denker. Bei aller kritischen Haltung verfertigt Reitz’ Kino schließlich das Eigene zum Spektakel kultureller Identität, das von einem internationalen Publikum als konsumierbare kulturelle Differenz angenommen wird.“ Während Filme mit Marcello Mastroianni und Sophia Loren aus den 1950er und 1960er Jahren die „Italianità“ feiern, die italienische Lebensart, die um Liebe und Küche kreist, macht bei „Heimat“ der Bildungsroman des tiefgründigen Künstlers den deutschen Markenkern aus.

Die Blockbuster-Erfolge des „New Hollywood“ basieren auf der gegenteiligen Strategie: Sie minimieren die kulturellen Differenzen und bieten ein Spektakel kultureller Indifferenz. „Das können sich alle zu eigen machen, ohne zuerst einen Graben des Fremden überwinden zu müssen“, sagt Hediger. Die deutsch-amerikanische Filmwissenschaftlerin Miriam Hansen hat dafür den Begriff „globaler Dialekt der Moderne“ geprägt. In Spielbergs „Jaws“ (1975), einer der ersten Blockbuster-Erfolge bedarf es – so der Frankfurter Wissenschaftler – „keiner interkulturellen Hermeneutik, um zu verstehen, dass es nicht angenehm ist, von einem weißen Hai gefressen zu werden.“

Doch wie geht das Erfolgsrezept auf, wenn Filme nicht von kulturfreien Grundängsten handeln? Dazu der Filmexperte: „Diese Filme basieren dann vorzugsweise auf Vorlagen deren kulturübergreifender Appeal schon feststeht, wie etwa den weltweit erfolgreichen Harry-Potter-Romanen.“ Damit reagieren die Hollywoodstudios auch auf die extremen Risiken des Filmgeschäfts. Die meisten Filme floppen, während 20 Prozent aller Filme 80 Prozent aller Einnahmen einspielen. Gerade weil sie kulturelle Differenzen herunterspielen, haben Blockbuster-Filme dabei die besten Aussichten, zu den wenigen großen Gewinnern zu zählen.

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Die aktuelle Ausgabe von „Forschung Frankfurt“ können Journalisten kostenlos bestellen: ott@pvw.uni-frankfurt.de. Im Internet steht die Ausgabe „eigen und fremd“ unter: www.forschung-frankfurt.de.
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Quelle: Pressemitteilung vom 11. Januar 2017

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