Der Brexit, die Flüchtlingskrise und ein Rechtsruck in einigen Ländern der EU haben das Thema Europa ganz hoch auf die politische Agenda gesetzt. Ein Podium mit Expertinnen und Experten aus Wissenschaft und Gesellschaft diskutierte nun über die Herausforderungen des Projekts Europa in unruhigen Zeiten.
Moderatorin Prof. Sandra Eckert, Politikwissenschaftlerin an der Goethe-Universität und Organisatorin der Veranstaltungsreihe „Europa in Frankfurt“, fragte einleitend, ob Europa 10 Jahre nach der Finanz- und Staatsschuldenkrise wieder „wetterfest“ sei. Prof. Hans- Helmut Kotz, Ökonom an der Goethe-Universität, verneinte die Frage; vor allem der Dissens zwischen Franzosen und Deutschen hinsichtlich der Diagnose der EUKrise sei eine große Belastung.
Wie man beispielsweise mit regionalen Ungleichgewichten umgehen solle, sei strittig. „Ich war damals aus politischen Gründen für die Einführung des Euro, aus makroökonomischer Perspektive hingegen skeptisch“, so Kotz. Dr. Johannes Lindner, Leiter der Abteilung EU-Institutionen und -Foren bei der Europäischen Zentralbank (EZB), hob die symbolische Bedeutung des Euro hervor; nicht zuletzt sei Marine Le Pen bei der Wahl in Frankreich unter anderem für ihre ambivalente Haltung gegenüber der gemeinsamen Währung abgestraft worden.
Hingegen habe das Vertrauen in die europäischen Institutionen, auch in die EZB, in der Krise durchaus gelitten. Man sei aber mit der Bankenunion bereits auf einem guten Weg. Auch der Wirtschaftsaufschwung mache sich augenblicklich in der ganzen Eurozone bemerkbar, so Lindner. Wichtig sei es jetzt, dass sich die Politik auf einen schrittweisen Prozess der weiteren Vertiefung der Wirtschafts- und Währungsunion einige.
Prof. Sandra Seubert, Politikwissenschaftlerin an der Goethe-Universität, richtete den Blick auf das „politische Vakuum“. Die EZB zwinge bisweilen den Europäischen Gerichtshof, Entscheidungen zu treffen, die eigentlich die Politik auf den Weg bringen müsse. Zwar kämen beim Bürger, wie beispielsweise mit den im letzten Jahr entfallenden Roaming- Gebühren, langsam auch die Vorteile der EU an.
Aber die Idee einer europäischen Bürgerschaft sei längst noch nicht verwirklicht. Bei der letzten Bundestagswahl habe Europa kaum eine Rolle gespielt, erst der französische Präsident Macron habe dafür gesorgt, dass auch in Deutschland wieder darüber diskutiert werde, so Seubert. Dr. Daniel Röder, Mitinitiator und Vorsitzender des Vorstands von PULSE OF EUROPE e. V., sieht das Schicksal Europas auf engste mit dem Euro verbunden; seiner Ansicht nach hat nicht zuletzt die deutsche Austeritätspolitik in vielen Ländern Ressentiments gegenüber einer europäischen Wirtschaftspolitik erzeugt.
„Die Deutschen sollten lieber ihre ‚Zuchtmeisterhaltung‘ ablegen“, so Röder. Wie könne man nationale Egoismen überwinden, wie die Bürgerinnen und Bürger noch stärker für die europäische Idee begeistern, fragte Moderatorin Sandra Eckert die Politikwissenschaftlerin und aktuelle Alfred-Grosser-Gastprofessorin Ulrike Guérot. „Die Bürger sind gar nicht das Problem“, unterstrich Guérot, vielmehr seien es nationale Politiker, die um ihre Macht fürchteten.
Die europäische Idee werde bereits seit den 90er Jahren vor allem unter Kostenaspekten diskutiert und kritisiert; was es aber koste, den europäischen Einigungsprozess wieder zurückzufahren, werde dagegen nicht erörtert. Für Hans-Helmut Kotz ist die Gleichheit der Lebensverhältnisse, wie sie im deutschen Grundgesetz in Artikel 72 verankert ist, auf europäischer Ebene eine Illusion.
Die Vereinigten Staaten von Amerika seien ein Beispiel dafür, wie unterschiedlich sich in einem großen Staatengebilde die Lebensverhältnisse entwickeln könnten. Der Länderfinanzausgleich, der in Deutschland funktioniere, sei in dieser Form, dies belegten Untersuchungen, nicht auf die Europäische Union anwendbar. Sandra Seubert sieht einen Grund für eine mangelnde politische Konvergenz auch in der fehlenden europaweiten Öffentlichkeit; die thematische Behandlung Europas sei insgesamt immer noch sehr national geprägt.
In Deutschland habe man aber immerhin seit der Wahl Macrons ein größeres Verständnis für französische Interessen und Befindlichkeiten. Ulrike Guérot hielt dagegen, dass es auch in Deutschland keine bundesweite Öffentlichkeit gebe; der Rheinländer interessiere sich im Prinzip auch nicht für Belange der Bayern. Entscheidend sei aber, dass Deutschland eine Rechtsgemeinschaft darstelle, mit einer normativen Gleichheit der Bürger.
In Ländern wie Ungarn und Polen sei man enttäuscht darüber, dass die Einführung des Euro dort von Brüssel so lange aufgeschoben werde, und appellierte daher an den politischen Gestaltungswillen: Der Vertrag von Maastricht sei 1992 unterzeichnet worden, zehn Jahre später bereits die gemeinsame Währung eingeführt worden. „Die Ökonomie darf beim Projekt Europa nicht ausschlaggebend sein“, forderte Guérot abschließend.
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Die Podiumsdiskussion fand statt im Rahmen der Lehrveranstaltungsserie „Europa in Frankfurt“, die als innovatives Lehrkonzept mit Praxisbezug und Kontakt zur Stadtgesellschaft durch die Stiftung Polytechnische Gesellschaft Frankfurt am Main gefördert wird. Zudem ist die Diskussion Teil der Reihe „EuropaDialoge/ Dialogues d’Europe“, gemeinsam veranstaltet vom Forschungskolleg Humanwissenschaften und dem Deutsch-Französischen Institut der Geschichts- und Sozialwissenschaften der Goethe-Universität (IFRA).
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Dieser Artikel ist in der Ausgabe 1.18 (PDF-Download) des UniReport erschienen.