Quo vadis EU? Interview mit Politikprofessorin Sandra Eckert

Sandra Eckert, Politikwissenschaftlerin;Foto: privat

Es gibt keinen Zweifel: In gleich mehrerlei Hinsicht steckt die EU in der Krise. Doch birgt die jetzige Situation bei aller Krisenhaftigkeit nicht auch Chancen? „Neue Perspektiven für Europa“ – unter diesem Titel befasst sich die zweite Ausgabe der Bad Homburg Conferences am 21. und 22. September im Forschungskolleg Humanwissenschaften  mit der Zukunft Europas. Wir sprachen vorab mit Prof. Sandra Eckert, einer der Organisatorinnen der zweitägigen Konferenz.

Frau Prof. Eckert, US-Präsident Donald Trump geht klar auf Konfrontation mit der EU. Ist das für die Gemeinschaft eine Bedrohung oder eine Chance?

Sicherlich ist das eine Chance. Das ist wie beim Brexit: Nun merken wir, dass vieles, was bislang selbstverständlich war, in den transatlantischen Beziehungen, aber auch in Europa selbst, eben gar nicht so selbstverständlich ist. Dass man daran auch arbeiten muss. Wenn man sich die Entwicklung der vergangenen Jahre genauer anschaut, ist das ja schon bizarr: Meine erste Veranstaltung an der Goethe-Universität war zum Thema TTIP: Was heißt das für den Verbraucher- und Umweltschutz, diese amerikanische Auffassung von Freihandel? Und jetzt haben wir Angst vor dem amerikanischen Protektionismus. Jetzt wird Europa ja, was Handelspolitik angeht, liberaler sein und auch multilateraler als die USA, und das ist natürlich ein ganz gravierender Einschnitt, der durchaus auch Chancen bringt.

Sie beschäftigen sich in Ihrer Forschung u.a. mit Energie- und Umweltpolitik und mit dem Thema Regulierung. Was bedeutet der Rückzug der USA in dieser Hinsicht für Europa?

Weil bislang die USA und Europa in vielen Bereichen der Regelsetzung – sei es jetzt bei Chemikalien oder anderen Themen, die uns Verbraucher unmittelbar betreffen – in einem gewissen Wettbewerb waren, da kann der Rückzug natürlich auch eine Chance sein für die Europäer, international noch stärker als Regelsetzer aufzutreten. Weit mehr Gedanken mache ich mir aber über die Bedrohung der EU von innen.

Sie meinen das Auseinanderdriften der Mitgliedsstaaten?

Die liberale Demokratie, den Rechtsstaat, diese sehen wir ja auch in Europa bedroht, vor allem in den mittel- und osteuropäischen Staaten, aber auch in Ländern wie in Italien oder in den jungen Demokratien in Südeuropa. Selbst in Deutschland haben wir aktuell eine Debatte über bestimmte Grundwerte, die in Frage gestellt werden. Diese Destabilisierung von innen ist vermutlich für die EU noch problematischer als der Umgang mit den Herausforderungen im Außenverhältnis, etwa mit Trump.

Darüber wird bei der Konferenz im Panel „Europäische Integration“ gesprochen werden.

Ja, und ich bin auch schon gespannt darauf, was mein Kollege Oliver Treib dazu sagen wird. Er hat in seinem Abstract angedeutet, dass man auch Rücksicht nehmen muss auf die Befindlichkeiten der Mitgliedsstaaten. Starke Reaktionen von den EU-Institutionen könnten letztendlich größeren Schaden anrichten. Das kann ja auch ein Kalkül sein von Leuten wie Orban, die das dann innenpolitisch nutzen wollen. Oliver Treib hat angedeutet, dass er einen Weg wüsste, wie man dieses Dilemma auflöst.

Wie kann man denn Rücksicht nehmen, ohne die Grundprinzipien der EU preiszugeben?

Das ist durchaus möglich. Nehmen wir die zunehmende Politisierung von Freizügigkeit, die ja ein Kernelement der Unionsbürgerschaft darstellt. Empirische Forschung zeigt, dass EU-Institutionen durchaus auf die Stimmung in den Mitgliedstaaten reagieren und nicht einfach weitermachen wie bisher. Sogar die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes hat sich im Zuge der Debatten und Befindlichkeiten in den Mitgliedsstaaten verändert.

Dann ist vieles doch Auslegungssache?

Es gibt einen Gestaltungspielraum, der entsprechend genutzt wird.

Der Populismus unterschiedlicher Färbung arbeitet sich an Europa ab. Missstände werden oft der EU in die Schuhe geschoben, das war auch im Vorfeld des Brexit sehr stark der Fall. Werden weitere Länder dem Beispiel Großbritanniens folgen?

Ich glaube nicht. Seit dem Brexit hat die Zustimmung zur EU wieder zugenommen. Natürlich gibt es innerhalb der Gesellschaft in fast allen Mitgliedsstaaten und über die Mitgliedsstaaten hinweg große Unterschiede. Das wird derzeit in der Wissenschaft viel diskutiert: Der Unterschied zwischen den Stay-at-homers, also denen, die zu Hause bleiben, und den Mobilen, die die Errungenschaften der Internationalisierung wahrnehmen und davon profitieren. Diese Spaltung hat auch in Großbritannien eine große Rolle gespielt, mal abgesehen von den Slogans der Brexiteers. Etwa hat direkt nach der Osterweiterung der damals zuständige Minister die Möglichkeit einer Übergangsfrist bei der Einführung der Freizügigkeit nicht genutzt – anders als etwa in Deutschland. Eine einseitig liberalisierende Politik kann die Spaltung in der Gesellschaft weiter befördern.

Welches sind nach dem Brexit die besonderen Herausforderungen an die Wissenschaft?

Da ist vor allem die Desintegration. Wir haben Theorien zur Integration: Wie können wir erklären, dass Staaten freiwillig Kompetenzen abgeben an eine höhere Ebene? Aber jetzt stellt sich die Frage: Können wir erklären, dass das rückgängig gemacht wird? Können wir das gleiche Instrumentarium hierfür verwenden? Oder hätten wir das gar vorhersehen müssen? Waren wir theoriegeleitet sozusagen „betriebsblind“?

Gab es Forscher, die den Brexit vorausgesehen haben?

Es gab schon Stimmen, die stark auf die Verwerfungen hingewiesen haben. Und es gibt schon länger in der Europaforschung einen Strang, wo es um die Politisierung des Europathemas geht. Weil in der Vergangenheit in den Mitgliedstaaten darüber nicht, oder kaum gestritten wurde, ging man lange Zeit von einer stillschweigenden Zustimmung in der Bevölkerung aus. Während früher selbst die Europawahl eine nationale Wahl war, es vor allem um nationale Politik ging, wird das Thema Europa heute bei nationalen Wahlen thematisiert, sehr prominent beispielsweise voriges Jahr in Frankreich. Dass es auf europäischer Ebene nicht wirklich eine politische Opposition gibt, ist ein Problem für die politische Kultur. Vor allem in der Forschung zur Rolle von Parteien in der Europapolitik wurde das frühzeitig bemerkt.

Was ist mit dem Europa der zwei Geschwindigkeiten?

Die EU ist kein homogenes Ganzes, sondern sie ist ja schon sehr ausdifferenziert. Wofür die Briten das beste Beispiel sind, die haben ja bei vielem nicht mitgemacht, z.B. beim Euro. Diese differenzierte Integration ist jetzt schon Faktum, aber das wird sich noch mehr formalisieren, mehr herausbilden müssen, um mehr Flexibilität zu haben, wenn es darum geht, dass man gewisse Kompetenzen nicht abgeben will. Hierzu wird Adrienne Héritier, die sich schon lange mit der Europäischen Integration beschäftigt, auf unserem Panel sprechen. Und das Thema Einheitlichkeit versus Differenzierung wird auch beim Panel zur Wirtschafts- und Währungsunion eine große Rolle spielen.

Diese Differenziertheit ist ja von außen betrachtet eine eher schwierige Sache. Würde es den Zusammenhalt nicht stärken, wenn man mehr zentralisieren würde?

Das wäre ja sozusagen die Flucht nach vorn. Wie Macron das macht: Alle sind der EU überdrüssig, aber er will mehr Europa. Wir haben ja schon vieles: beispielsweise eine Hohe Beauftragte für Außen- und Sicherheitspolitik, die – zugegeben – einen schweren Stand hat angesichts der vielen aktuellen Herausforderungen. Durch eine stärker europäisch koordinierte Sicherheits- und Verteidigungspolitik könnte man natürlich in den nationalen Haushalten Einsparungen erzielen.

Wie könnte man die Bürger stärker für Europa gewinnen?

Was die Partizipation angeht, gibt es bereits vielfältige Möglichkeiten, nur werden sie wenig genutzt. Wir sollten mehr Menschen motivieren, 2019 zur Europawahl zu gehen. Das Parlament wurde in den vergangenen Jahren immer wichtiger, aber zugleich wurde die Wahlbeteiligung immer geringer. Das ist paradox. Viele Themen aus Europa sind vielleicht schwierig und zu komplex, die Diskussion und Abstimmung zur Zeitumstellung ist da eher eine Ausnahme. Auch die Unionsbürgerschaft an sich ist ja so ein Instrument, dazu wird meine Kollegin Sandra Seubert in Bad Homburg mit ihrem Panel diskutieren. Hierzu habe ich in einer Medienanalyse herausgefunden, dass die Rechte der Unionsbürgerschaft stark in Frage gestellt werden, sobald es um den Zugriff auf wohlfahrtsstaatliche Leistungen geht. Hingegen weisen die Befürworter der Unionsbürgerschaft oftmals auf die ökonomischen Kosten einer eingeschränkten Freizügigkeit hin, etwa durch das Fehlen von Arbeitskräften in gewissen Branchen. Wenig thematisiert werden selbst bei den Europabefürwortern die Möglichkeiten der politischen Partizipation: Niemand sagt, Ihr könnt ja dann auch nicht mehr das Europäische Parlament wählen oder in einem anderen Land an den Kommunalwahlen teilnehmen. Diese supranationalen Partizipationsrechte scheinen noch nicht ausreichend zu funktionieren als Instrument der Schaffung einer aktiven Unionsbürgerschaft.

Was auch oft kritisiert wird, ist die europäische Bürokratie. Ist das in der Gesamtheit berechtigt, dass die EU schuld ist an der überbordenden Bürokratie?

Das ist natürlich ein Standardthema. Nehmen Sie das berüchtigte Beispiel der Gurkenkrümmung. Industrie und Handel wollten diese Regel aus Gründen der Praktikabilität, aber dann wurde sie so sehr kritisiert, dass man sie letztendlich abgeschafft hat. Allerdings wird sie dennoch faktisch weiter eingehalten. Es gibt also gute Gründe für viele europäische Regeln, das hat sich kein Bürokrat am Schreibtisch in Brüssel ausgedacht. Viele Regeln, gerade im Umwelt- und Verbraucherschutz, sind zudem Errungenschaften der EU, und sie tragen auch zur Planungssicherheit der Unternehmen bei. Das Beispiel Chemikalienregulierung und Brexit ist hierzu aufschlussreich: Wenn man die britische Industrie in der Vergangenheit befragt hat zur Chemikalienregulierung, dann haben die immer gesagt, diese sei geschäftsschädigend. Seit dem Brexit sind sich jetzt aber plötzlich alle einig, Umweltverbände und Industrie: Das ist das Beste, was wir haben, bloß nicht abschaffen, denn das bringt Sicherheit und Verlässlichkeit. Natürlich ist die Frage, wie viele Regeln brauche ich, und natürlich ist das in einem Mehrebenensystem komplex.

Fehlt angesichts dieser Komplexität eine übergeordnete Idee, die vorhergehende Generationen vielleicht noch eher hatten?

Die Generationenfrage ist ein wichtiger Punkt. Vieles ist selbstverständlich geworden, nicht nur der Freihandel, sondern auch das Friedensprojekt Europa. In Großbritannien gibt es eine deutschstämmige Labour-Abgeordnete, die den Brexit unterstützte, die hat gesagt: Das mit dem Friedensprojekt, das hat sich überlebt, das ist gestrig. Wir haben jetzt andere Herausforderungen. Da würde ich ein großes Fragezeichen setzen.

Welche Rolle können die Universitäten dabei spielen?

Einerseits kann man sagen, wir haben ja Erasmus. Ich wundere mich aber darüber, wie wenig diese Chance wahrgenommen wird. Nehmen Sie zum Beispiel meinen Fachbereich: Es gehen lange nicht so viele Studierende ins Ausland, wie man meinen könnte, und es kommen auch nicht so viele. Es ist halt oft einfacher und günstiger, hierzubleiben. Da muss man etwas tun, auch für die sogenannten zukünftigen „Eliten“ in unserer Gesellschaft. Insofern ist es wichtig, dass wir die Rolle der Universitäten, gerade mit Blick auf den Vorstoß von Macron, in einem Panel genauer beleuchten.

Sogar Jürgen Habermas wird bei der Konferenz dabei sein. Welche Impulse erwarten Sie von ihm?

Es ist ja Teil seines intellektuellen Lebenswerks, dass er sich immer wieder mit Europa auseinandergesetzt hat, sich an diesem Thema wie fast keinem anderen beständig abgearbeitet hat. Habermas war zunächst vor allem mit Bezug auf die Ausrichtung Europas als Marktprojekt durchaus kritisch. Als weitere Integrationsschritte zunehmend schwieriger wurden, hat er sich vehement für Europa ausgesprochen. Für ihn heißt die Lösung: mehr Europa und nicht weniger. Und tatsächlich ist es ja so, wir können nur jenseits des Nationalstaates gewisse Regeln setzen, wir haben in vielen Bereichen mehr Gestaltungsmöglichkeiten, wenn wir dies auf höherer Ebene machen und nicht rein national. Wie gehen wir aber mit der politischen Stimmung in den Mitgliedstaaten um, wie nehmen wir die Menschen mit? Ich bin jedenfalls sehr gespannt, was er dazu sagen wird.

[Interview: Anke Sauter]

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