Goethe-Vigoni Discorsi: Europa: Das Virus, das Internet, der Sozialstaat

Ein Beitrag von Maurizio Ferraris


Welche Verbindung besteht zwischen so unterschiedlichen Dingen wie einem Virus, dem Internet und dem Sozialstaat? Die erste Beobachtung ist recht offensichtlich: Ohne den Menschen kommt das Virus nicht weit. Es braucht unsere Hände und Füße, unsere Bedürfnisse und Wünsche, unsere Beweggründe, andere Menschen zu treffen. Wäre der Patient Null ein Faultier gewesen, wäre es nicht zur Pandemie gekommen. Man hätte über Corona kein Wort verloren.

Nun funktioniert aber auch das Internet wie das Virus. Es benötigt den Menschen, seine auf der Tastatur tippenden Hände, seine Bedürfnisse, Begierden oder auch seine Zeitnot. Wenn wir uns eine Welt ohne Menschen, aber mit Internet vorstellten, dann sähen wir dieselbe Welt – solange wir sie uns über Google Maps anschauten. Bei näherer Betrachtung würde aber deutlich: Die Wohnhäuser sind zum Unterschlupf für Tiere geworden oder wie die Pyramiden der Maya von der Vegetation überwuchert. In dieser Phantasiewelt blieben jedoch auch Handys, Bildschirme und ähnliche Geräte stumm, da sie den Faultieren, Bibern, Elefanten und selbstverständlich auch den Viren von keinerlei Nutzen wären.

Zwischen Virus und Internet besteht jedoch auch ein grundlegender Unterschied. Das Virus gibt den Menschen nichts zurück. Im schlimmsten Falle bringt es den Tod. Das Internet hingegen gibt uns etwas zurück. Jeder von uns füttert das Internet mit Informationen, die es dazu verwendet, die eigenen Archive wachsen zu lassen und die Wirtschaft durch die Aufzeichnung des menschlichen Lebens zu automatisieren. Anhand des Wissens über die Bedürfnisse werden die Informationsflüsse optimiert. Im Gegenzug versorgt es uns mit meist kostenfreien Informationen und Dienstleistungen, auf die wir nicht mehr verzichten können, genauso wie das Internet nicht auf uns verzichten kann.

Dass bei diesem Austausch ein Ungleichgewicht besteht, ist ein weitverbreiteter Eindruck. Aber er basiert auf irrigen Annahmen: Da ist die apokalyptische Idee, dass Maschinen an die Macht gelangen, was aber – wie wir an der sehr langen Technik- und Technologiegeschichte sehen – eine der unwahrscheinlichsten Möglichkeiten darstellt, zumal der Sinn und die Richtung dieses ganzen Herumtüftelns vom Menschen und nicht von Automaten ausgeht. Da ist die durchaus berechtigte Angst, dass sie uns die Arbeit wegnehmen. Man vergisst dabei, dass die Berufe, die verschwinden, diejenigen sind, die eigentlich niemand mehr gerne ausübt. Und es gibt schließlich die Befürchtung, dass das Internet uns unserer Privatsphäre beraubt.

Die insgesamt 110 Kilometer aneinandergereihter Akten, die die Stasi über ihre DDR-Mitbürger zusammengetragen hat, sind ebenso vergessen wie Klatsch und Tratsch auf dem Dorf; aber wir sind in heller Aufregung um unsere Privatsphäre, während wir im selben Moment alle möglichen Dinge auf den sozialen Netzwerken posten. Die Furcht vor dem technologischen Golem, die Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes oder die Angst vor dem „Großen Bruder“ verdeckt ein viel wichtigeres, aber weniger untersuchtes Phänomen unserer Zeit: den digitale Mehrwert.

Der Austausch zwischen den Plattformen und den Nutzern scheint auf den ersten Blick ausgeglichen: Man versorgt sich gegenseitig und kostenlos mit Informationen und Dienstleistungen. Doch die Wirklichkeit sieht anders aus. Und dies nicht nur, weil nicht alle Angebote kostenlos sind und die Nutzer sich nach wie vor die primären Produktionsmittel selbst beschaffen müssen, sondern vor allem, weil die von den Plattformen gesammelten Daten sehr viel wertvoller sind als diejenigen, die sie den Nutzern zur Verfügung stellen. Die Nutzerdaten sind quantitativ mehr und damit ergiebiger (im Durchschnitt erhält man für vier Informationen über sich selbst nur eine zurück); sie sind Eigentum der Netzwerke, da sie aufgrund der Nutzungsbestimmungen den Plattformen gehören. Außerdem lassen sie sich zu Geld machen, mit der ersten Datenerhebung ebenso wie danach in Form der Profilerstellung durch den Abgleich mit Millionen von anderen Daten. Sie können gekauft und verkauft werden. Und nicht zuletzt haben sie die wundersame Eigenschaft, den Konsum in Arbeit zu verwandeln, wenn man unter „Arbeit“ die Erzeugung von Wert versteht.

Die Menschheit ist schon merkwürdig. Wir haben Bewegungen wie Occupy Wall Street miterlebt und gesehen, wie die „Bankster“ verurteilt wurden: Banker wurden Gangstern gleichgesetzt. Aber wir haben uns keine Gedanken darüber gemacht, dass wir den Banken unser Geld leihen und niemand uns dazu zwingt, an der Börse zu zocken, während wir gleichzeitig unsere Daten leichtfertig im Internet preisgeben. Vielmehr gab es Leute, die darin das Instrument der direkten Demokratie sahen. In Wirklichkeit stehen wir vor einer Chance historischen Ausmaßes: der von den Plattformen generierte Mehrwert könnte dazu dienen, den Sozialstaat des 21. Jahrhunderts zu errichten.

Keynes stellte sich Arbeit und Freizeit als zwei getrennte Einheiten vor und war überzeugt, dass, wenn erstere weniger würde, letztere sich vergrößern müsse, was eine große Leere zur Folge gehabt hätte. Doch die Geschichte nahm einen anderen Verlauf. Das Internet ist ein großer Apparat, der uns mobilisiert und unser Verhalten aufzeichnet, ein Reich, in dem die Sonne nie untergeht. Jede unserer Handlungen wird festgehalten und erzeugt einen Wert in Form der Erstellung spezifischer Nutzerprofile, der automatisierten, personalisierten Datenverteilung. Doch wenn das so ist, muss der von uns unbewusst produzierte Mehrwert besteuert werden, mit dem Ziel, für eine neue staatliche Daseinsvorsorge zu sorgen, die sich nicht – im Gegensatz zu Keynes‘ Idee – auf den Ausgleich zwischen Einsparung und Investitionen stützt, sondern auf den Ausgleich zwischen Produktion und Konsum.

Und dies aus einem sehr guten Grund: Maschinen können alles – außer konsumieren. Der Konsum ist den Menschen vorbehalten. Er gibt ein Ziel für das gesamte Produktionswesen vor, das sonst keinen Sinn hätte. Produktion ist eben nicht schmutzig und beklagenswert, sondern der wichtigste Motor der menschlichen Entwicklung. Wäre der Mensch kein unzulängliches, von der Umwelt abhängiges Lebewesen, hätte er die Technik nicht entwickelt, die uns zu dem gemacht hat, was wir sind. Viele Jahrhunderte lang hat die Technik dem Menschen körperliche Anstrengungen abverlangt und die Automatisierung mit sich gebracht, doch heute ist das anders. Den Teil der Menschheit, der in Produktionsprozesse eingebunden ist, der auf den Feldern und in den Werkshallen schuftet, gibt es nach wie vor. Langsam rückt jedoch ein Teil der Gesellschaft ins Rampenlicht, dessen wichtigste Funktion darin besteht, Dateien über sich selbst zu produzieren (ich nenne ihn im Italienischen „documanità“). Solche Datensätze sind zwar von geringfügigerem und kleinerem Umfang, aber in jedem Falle nützlich, wie die Daten, die wir beim Internetsurfen hinterlassen, oder größere, wichtigere Dokumente, wie es intellektuelle oder kulturelle Erzeugnisse sein können.

Wohlfahrt bedeutet Freiheit von materiellen Notlagen, aber auch Überwindung von Unwissen oder Vorurteilen, in einem Wort: Bildung. Doch damit diese sich durchsetzt, müssen wir uns die Zukunft nicht als Projektion der Vergangenheit, sondern als eine Umwertung vorstellen, die kompromisslos voranschreitet und die Welt von Grund auf verändert. Veränderungen hin zum Besseren treten ein, wenn man die richtigen Entscheidungen trifft. Dies setzt die Erkenntnis voraus, dass sich die Arbeit der Zukunft auf drei Säulen stützen wird: Innovation, Konsum und Bildung (über die kein Computer je verfügen wird). Und der homo faber bleibt getrost in seiner Werkstatt.

Es sei noch hinzugefügt, dass die Europäische Union die einzige politische Struktur darstellt, die imstande ist, einen solchen Sozialstaat zu bauen. Die Vereinigten Staaten sind Eigentümer der privaten Plattformen und werden sie nicht besteuern. Sie werden mit drakonischen Strafzöllen auf Wein und Käse drohen, falls die Europäische Union die Plattformen besteuert. Dann werden sie ihre Meinung aber revidieren, da sie nicht an zwei Fronten gleichzeitig kämpfen können: gegen Europa und gegen China. China ist ebenfalls im Besitz solcher Plattformen und verfügt zudem über einen Sozialstaat, zahlt dafür jedoch einen sehr hohen Preis: Das ist die Einschränkung der bürgerlichen Freiheiten. Europa hingegen ist eine supranationale Struktur, die sich darauf beschränken würde, die immense Arbeitskraft, die von seinen 460 Millionen Internetnutzern erbracht wurde, zu besteuern und diese Steuern in Form des Sozialstaates (Dienstleistungen und Bildung kämen vor Geldleistungen, was wiederum die Einzelstaaten zu regulieren hätten) umzuverteilen. Wobei ich hoffe, dass diese Zahl bald wieder die halbe Milliarde übersteigt, wenn (was ich nicht für ausgeschlossen halte und für wünschenswert sowieso) Großbritannien in die EU zurückkehrt.

Maurizio Ferraris, Philosoph, Universität Turin


Dieser Artikel erscheint in der Reihe Goethe-Vigoni Discorsi und ist zuerst am 23. September 2020 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung veröffentlicht worden.

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