StreitClub: Engagierte Diskussion über die Strategie im Ukraine-Krieg

[v.l.: Carlo Masala, Johannes Varwick, Michel Friedman, Nicole Deitelhoff. Foto: FGZ]

„Europas Sicherheit – Sind wir auf Krieg vorbereitet?“, lautete der Titel des StreitClubs am vergangenen Montagabend im Frankfurter English Theatre. Die Gastgeber*innen Prof. Nicole Deitelhoff (Goethe-Universität, FGZ) und Dr. Michel Friedman hatten diesmal zwei streitbare Politikwissenschaftler eingeladen: Prof. Carlo Masala (Universität der Bundeswehr München) und Prof. Johannes Varwick (Universität Halle). Bereits auf Twitter waren die beiden Experten mit unterschiedlichen Positionen zum Ukraine-Krieg aneinandergeraten, nun trafen sie auf der Bühne des ausverkauften English Theatre direkt aufeinander.

„Sind wir verteidigungsbereit?“, wollte einleitend Nicole Deitelhoff von den beiden Gästen wissen. „Wir haben als Gesellschaft verlernt, wehrhaft zu sein“, betonte Carlo Masala. Ein Krieg gegen Deutschland habe man lange Zeit nicht für möglich gehalten, sich mit militärischen Einsätzen schwergetan. Diese seien von der Politik oft totgeschwiegen worden. Doch seit den 1990er Jahren habe das Land auch einiges geleistet; heute sei die Zeitenwende in den Köpfen angekommen. Johannes Varwick betonte demgegenüber, dass durchaus die Notwendigkeit einer Verteidigungsfähigkeit früher schon gesehen worden sei; ein Angriff auf Deutschland sei nun aber lange Zeit sehr unwahrscheinlich gewesen.

In Deutschland, so Michel Friedman, hätten viele Beobachter bis in die Wissenschaft hinein, nicht damit gerechnet, dass Russland die rote Linie überschreite und die Ukraine angreift. „Ja, da waren wir etwas naiv, aber ich habe immer gesagt, dass Russland vitale Interessen in der Ukraine hat und einen NATO-Beitritt der Ukraine nicht akzeptieren wird. Es wäre klüger gewesen, auf Russlands Interessen Rücksicht zu nehmen“, so Johannes Varwick. Hier entgegnete Carlo Masala vehement, dass seit 2008 ein Beitritt kein wirkliches Thema mehr gewesen sei. Die Europäer hätten vor dem Angriff Russlands am 24. Februar sogar einiges dafür unternommen, einen möglichen Beitritt zu dementieren. Doch Russland sei es gar nicht um die eigene Sicherheit, sondern um die Identität der Ukraine gegangen; der Staat habe aus russischer Sicht keine Existenzberechtigung.

Kritisch diskutiert wurde auch noch der von Johannes Varwick bereits häufiger verwendete Begriff der „Eskalationsdominanz“, wonach Russland immer noch etwas „draufsetzen“ könne, egal, was der Westen tue. Erst im Laufe des Krieges, so Varwick, habe Russland zivile Ziele bombardiert; mittlerweile seien 70 Prozent der Infrastruktur in der Ukraine zerstört. Carlo Masala hielt dagegen, dass es keinen Automatismus einer „Rutschbahn“ gebe. Michel Friedman ergänzte, dass bereits zu Beginn des Krieges die Lieferung von lediglich 5.000 Helmen mit der Warnung vieler Beobachter einhergegangen sei, dass man sich aus dem Krieg heraushalten solle.

Während Johannes Varwick eine politische Lösung für geboten hielt, um der russischen Skrupellosigkeit im Krieg und noch schwereren Verlusten Einhalt zu gebieten, betonte Carlo Masala, dass Verhandlungen nur dann Sinn machten, wenn die Ukraine Druck auf den Besatzer ausüben könne. Sonst würde Russland auf dem Status quo der okkupierten Oblaste insistieren. Schüler*innen der Frankfurter Ziehen-Schule, die hinter der Bühne das Gespräch kritisch analysiert hatten, stellten anschließend den beiden Gästen noch Fragen; sie wollten unter anderem wissen, ob der Krieg in der Ukraine ein Stellvertreterkrieg für Europa und die NATO sei. Während Carlo Masala das klar verneinte, erklärte Johannes Varwick, dass es sich zwar nicht um einen klassischen Stellvertreterkrieg handele, jedoch die Ukraine in gewisser Weise für die Freiheit Europas eintrete.

Der StreitClub ist neben anderen Formaten Teil des Projekts „Frankfurt streitet!“ des Frankfurter Standorts „Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhang“ (FGZ).

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