Paul Lichterman, Professor für Soziologie und Religion an der University of Southern California, forscht am Forschungskolleg Humanwissenschaften (FKH) über weißen Antirassismus. Sein Aufenthalt wird von der Alexander von Humboldt-Stiftung gefördert.
UniReport: Herr Prof. Lichterman, einleitend möchte ich Ihnen zwei Fragen zum amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf stellen: In Ihrer Forschung beschäftigen Sie sich mit einer sozial ungleichen und kulturell vielfältigen Gesellschaft. Wird die große Kluft zwischen Republikanern und Demokraten die sozialen Probleme verschärfen? Gibt es einen Hoffnungsschimmer, auch wenn Trump die Wahl gewinnen könnte?
Paul Lichterman: Die Kluft zwischen Republikanern und Demokraten hat bereits dazu geführt, dass viele nationale Probleme sich verschärft haben. Besonders hart trifft es die sozial ausgegrenzten Amerikaner. Die unterschiedlichen politischen Vorstellungen von Demokraten und Republikanern machen es den nationalen Gesetzgebern oft unmöglich, soziale Ungleichheit überhaupt anzugehen, Kompromisse zu suchen oder neue Gesetze auf den Weg zu bringen. Das liegt zum Teil daran, dass seit den 1990er Jahren eine Partei (die Republikaner) die ungeschriebenen Normen der demokratischen Governance zunehmend ablehnt. Die Republikaner neigen dazu, die Demokraten nicht als legitime Konkurrenten, sondern politisch als illegitime Feinde und kulturell als antiamerikanische Außenseiter zu betrachten. Trumps spaltende Kraft ist das Ergebnis einer längerfristigen Erosion des Engagements für die Demokratie in der republikanischen Partei. Aber er fügt noch etwas anderes hinzu, das es schwierig macht, soziale Probleme auf nationaler Ebene anzugehen. In der Politik Trumps geht es nicht um Ideen oder die Auseinandersetzung mit Problemen. Sie richtet sich an treue „Fans“ und nicht so sehr an Bürger, die konsistente Gründe hören wollen. Sie erinnert ein wenig an die reisenden Medizin-Shows, die die amerikanische Populärkultur des 19. Jahrhunderts prägten. In diesen Shows verkauften schnell sprechende Unternehmer Wundermittel an die Bevölkerung auf dem Lande, die ein hartes Leben führte. Während einige Amerikaner sicherlich Fans der Trump-Show geworden sind, wollen andere demokratische Institutionen haben, auch wenn das als Slogan nicht so spannend klingt. Sollte Trump die Präsidentschaftswahlen im November gewinnen, könnte die antiliberale Politik eine vollständig autoritäre Richtung einschlagen.
Der Hoffnungsschimmer ist, dass viele Amerikaner keine autoritäre Regierung haben wollen, die die Wohlhabenden begünstigt und nichtweiße, nichtchristliche Menschen abwertet. Während der Präsidentschaft Trumps (2016–2020) entstanden viele neue zivilgesellschaftliche Gruppen, die sich gegen die Pläne des Präsidenten zur Wehr setzten. Dieses Wählerengagement hat sich fortgesetzt. Sollte Trump eine zweite Amtszeit bekommen, will er den Protest der Bürger beschränken. Unklar ist, ob auch andere, unumstrittene Formen des bürgerschaftlichen Engagements riskanter werden.
In Ihrer Studie »Elusive Togetherness«, für die Sie mehrere Preise erhalten haben, haben Sie untersucht, inwieweit auf gemeinsamem Glauben gründende Bürgergruppen, die in Amerika seit Langem wichtig sind, in einer ungleichen und vielfältigen Gesellschaft breite soziale Bindungen schaffen können. Können diese Gruppen, auch mit Blick auf die aktuelle Situation in den USA, dazu beitragen, die tiefen Gräben zu überbrücken, und welche Hindernisse gibt es dabei?
Als der Staat Mitte der 1990er Jahre seine Verantwortung für die Sozialfürsorge sukzessive von sich wies, sagten einige Gesetzgeber, dass religiöse Freiwilligenverbände besser tun könnten, was früher dem Staat oblag. Stimmt das? In meinem Buch habe ich neun lokale, kirchliche Gruppen miteinander verglichen, die sich für Menschen mit geringem Einkommen engagieren. Den meisten Gruppen gelang es nicht, stabile soziale Bindungen zu diesen Randgruppen aufzubauen. Die Umgangsformen und Gewohnheiten, die die amerikanische Zivilgesellschaft kennzeichnen, hatten die meisten Gruppenmitglieder nicht darauf vorbereitet, mit Menschen zu arbeiten, die anders sozialisiert sind als sie selbst. Auch ihre religiösen Verpflichtungen halfen dabei nicht. Es gibt wenig Grund zu der Annahme, dass lokale, religiöse Freiwilligenvereinigungen neue, verbindliche Beziehungen zwischen politisch gegensätzlichen Gruppen kultivieren können. Tatsächlich schließen sich einige (nicht alle) theologisch konservative, evangelikale Kirchen der „Make America Great Again“-Politik an, die kulturell oder politisch Andersdenkenden mit Misstrauen begegnet.
Als Sie mit Prof. Sutterlüty und anderen Kollegen an der Goethe-Universität und am FKH zu arbeiten begannen, haben Sie sich mit Religion in Gesellschaft und Politik beschäftigt. Wie würden Sie die Rollen, die religiöse Gruppen in der Gesellschaft einnehmen, beschreiben?
Kann die Religion dem modernen Menschen einen Standpunkt bieten, um groteske soziale Ungleichheit und ihre zerstörerischen Auswirkungen auf die soziale Ordnung zu kritisieren? Auf diese Frage, die in US-amerikanischen Soziologiekreisen selten gestellt wird, wurde ich durch ein Forschungsprojekt von Prof. Sutterlüty aufmerksam. Bevor ich 2019 dazustieß, hatte ich untersucht, wie religiöse und nichtreligiöse sozial engagierte Menschen gemeinsam an dem Problem der Wohnungslosigkeit arbeiten. Das US-amerikanische System ist bei der Bekämpfung von Obdachlosigkeit stärker auf diese nichtstaatlichen Akteure, ob religiös oder säkular, angewiesen als die meisten europäischen Gesellschaften. Als Ethnograf interessierte mich diese Situation auf der Handlungsebene. Wie würden die Teilnehmer einander verstehen und respektieren, wenn einige ihre Haltung zu Obdachlosigkeit religiös und andere nichtreligiös begründen? Während meines ersten Aufenthalts am FKH vor fünf Jahren habe ich einen Aufsatz fertiggestellt, in dem ich zeige, dass Geltungsansprüche notwendigerweise etwas über die soziale Identität und das Ansehen der Menschen aussagen, die sie erheben. Wenn wir diesen Aspekt der bürgerlichen Debatte außer Acht lassen, können wir nicht verstehen, warum Gespräche und Diskussionen in einer vielfältigen, „postsäkularen“ Gesellschaft oft selbst unter Menschen scheitern, die die gleichen Ideen vertreten. Das Argument ist immer noch relevant: Immer mehr säkulare Amerikaner assoziieren „Religion“ im Allgemeinen mit rechtem, christlichem Nationalismus, und dieser Ruf kann dazu führen, dass einigeZuhörer wütend werden, ganz gleich, was ein religiöser Verfechter sagt.
Jetzt schreiben Sutterlüty und ich gemeinsam an einem Aufsatz, und wir planen eine Konferenz, die aus unseren aktuellen Forschungsprojekten erwächst. Darin geht es um die Frage, wie ganz gewöhnliche Menschen Widerstand gegen eine von ihnen als unterdrückend empfundene Gesellschaftsordnung leisten. Wir beschäftigen uns beide mit der Frage, wie man in sozialwissenschaftlichen Texten ein Gleichgewicht zwischen Interpretation und Sozialkritik findet. Darüber werden wir bei der Konferenz, die im Herbst 2025 am FKH stattfindet und durch meinen Humboldt-Forschungspreis gefördert wird, mit Kollegen von der Goethe-Universität und von anderen Universitäten diskutieren.
In einem neuen Buch werden Sie sich mit dem weißen Antirassismus beschäftigen. Darin betrachten Sie antirassistisches Handeln als ein »moralisches Projekt« und Sie untersuchen kollektives Handeln gegen systemischen Rassismus. Können Sie erklären, wie sich diese beiden Aspekte des Antirassismus zueinander verhalten? Wie manifestieren sie sich im Alltagsleben in den USA?
Rassismus ist immer noch auf eine mächtige, wenngleich oft subtile Weise in den USA präsent. Am Arbeitsplatz, im Klassenzimmer, im Gerichtssaal und in den alltäglichen Beziehungen nehmen die Amerikaner die Menschen immer noch nach den üblichen Vorstellungen wahr, die weiße Menschen oft privilegieren. Menschen, die den systemischen Rassismus bekämpfen wollen, können an vielen Stellen ansetzen. Viele weiße amerikanische Antirassisten beginnen damit, an sich selbst zu arbeiten. Sie lernen, dass die Bekämpfung des Rassismus eine emotional anstrengende Arbeit erfordert, um den Rassismus „in uns“ abzubauen, damit wir ihn nicht unbewusst fortführen. Diese Antirassisten engagieren sich für etwas, das ich ein persönliches „moralisches Projekt“ nenne. Sie versuchen, ihr weißes Privileg zu erkennen und auf antirassistische Weise zu handeln. Sie lernen, „Weißsein“ mit individueller Leistung und Machthunger in Verbindung zu bringen, und bemühen sich, die Lebenswelten marginalisierter, nichtweißer Menschen mehr zu schätzen als die der meisten Weißen. Um diese neue Identität zu kultivieren, schließen sie sich Lesegruppen an, um etwas über die Geschichte der indigenen Völker oder die Geschichte der Polizeipolitik zu lernen, die Schwarze in den USA unverhältnismäßig stark bestraft. Andere schließen sich Gesprächsgruppen an, um den Rassismus in ihrem eigenen Leben in einem quasitherapeutischen Rahmen zu erkunden. Einige weiße Antirassisten betrachten diese Arbeit als ihren Beitrag zu einer weniger rassistischen Gesellschaft.
Wieder andere engagieren sich in kollektiven Aktionen, in denen sie diese persönliche Moral zum Ausdruck bringen. Sie nehmen an öffentlichen Versammlungen teil, um rassistische Polizeipraktiken zu kritisieren. Sie unterstützen antirassistische Kandidaten für den Stadtrat. Es mag überraschen, dass sie nicht viel über Bürgerrechte oder institutionelle Reformen sprechen, obwohl sie diese Dinge sicherlich befürworten. Sie verstehen ihren Antirassismus im Rahmen einer umfassenderen Vision des kulturellen Wandels, in der die Gesellschaft mehr auf moralischen Normen der Fürsorge und weniger auf Bestrafung beruht. Sie sprechen weniger über persönliche Veränderungen als die Teilnehmer der Lese- und Gesprächsgruppen, aber auch ihre kollektiven Bemühungen sind eine Art moralisches Projekt.
Es wäre falsch, die Positionierungen der weißen Antirassisten als eine Frage von strategischer Mobilisierung im Gegensatz zu Moral zu interpretieren. Vielmehr organisieren Antirassisten Kampagnen im Einklang mit ihrer Moral. Sie lernen, solidarisch mit nichtweißen Aktivistenführern zu arbeiten, ohne „zu viel Raum einzunehmen“. Sie versuchen zu vermeiden, andere Aktivisten als „Arbeitskräfte“ für die Bewegung zu behandeln, und sie halten die Pflege von fürsorglichen, nichtinstrumentellen Beziehungen für strategisch wichtig, um eine Bewegung gegen den systemischen Rassismus aufzubauen. Diese moralisierte Art der Mobilisierung geht mit Kompromissen einher. In meinem Buch werden diese Aktivisten mit einer anderen Gruppe verglichen, die für rassenbezogene Bürgerrechte und konventionellere institutionelle Reformen kämpft. Sie sind mit einer anderen Reihe von Kompromissen konfrontiert.
Worin besteht Ihrer Meinung nach der Unterschied zwischen den Diskussionen über die Ursachen des Rassismus und seine Überwindung in den USA und in Deutschland?
Einige Amerikaner gehen immer noch davon aus, dass Rassismus aus rein persönlichen Vorurteilen entsteht, aber eine wachsende Zahl sieht systemische, strukturelle Kräfte der Gesellschaft am Werk. Die meisten weißen Kritiker des systemischen Rassismus betrachten diesen als eine institutionalisierte Gewalt. Ich denke, dass sich dieses amerikanische Verständnis nicht so sehr von dem deutschen unterscheidet, insbesondere in Universitätskreisen. Es ist auffällig, dass seit der Ermordung des schwarzen Amerikaners George Floyd durch die Polizei im Jahr 2020 Journalisten und Beamte viel häufiger auf die weitreichenden Auswirkungen der Rassenungleichheit auf das Gesundheitswesen oder die Schulbildung verweisen – oder darauf, wer Filmpreise gewinnt. Während viele die institutionelle Dimension sehen, sind vielleicht mehr Amerikaner als Deutsche der Meinung, dass die Verringerung des systemischen Rassismus nachhaltige persönliche Anstrengungen jenseits von Gesetzesreformen erfordert. Die Amerikaner versuchen dies mit Bestseller-Büchern, in Highschool- und Universitätsklassen oder in „Diversity-Trainings“ für Mitarbeiter von Unternehmen und Universitäten im ganzen Land. Bemühungen, den systemischen Rassismus abzubauen, werden von konservativen Politikern ins Visier genommen, um Bücher zu verbieten und Lehrpläne in den Schulen einzuschränken. Unabhängig davon, ob diese Gegenkampagnen erfolgreich sind oder nicht, ist es unwahrscheinlich, dass sich die moralische Einstellung der Amerikaner zum Rassismus in naher Zukunft ändern wird.
Fragen: Dirk Frank