Die rätselhafte Stille nach der Dozentenfrage

Felix Glenk hat das Phänomen der Atmosphäre in einem sportsoziologischen Seminar untersucht.

Wodurch zeichnet sich eine gute Atmosphäre im Seminar aus? Welche inneren und äußeren Faktoren prägen das subjektive Empfinden von Atmosphäre? Mit diesen Fragen hat sich der Soziologe Felix Glenk in einem Lehr­forschungsprojekt beschäftigt – und vor allem für sich und seine Tätigkeit wertvolle Schlüsse daraus gezogen.

© BongkarnGraphic/Shutterstock
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Da herrscht immer eine ganz besondere Atmosphäre.“ „Auf einmal war die Atmosphäre irgendwie vergiftet.“ „Die Atmosphäre beim Siegtreffer in der Nachspielzeit war einfach elektrisierend!“ – Wir alle kennen den Begriff „Atmosphäre“ aus der Alltagssprache. Doch wer ihn näher definieren möchte, hat seine liebe Not. Denn den meisten ist wohl nicht bewusst, wodurch sich eine bestimmte Atmosphäre auszeichnet, welche Faktoren darauf einen Einfluss haben. Auch im Evaluierungsformular, das die Studierenden am Ende des Semesters ausfüllen, taucht der Begriff auf, bleibt aber nach den Worten von Felix Glenk, Doktorand bei Professor Robert Gugutzer am Institut für Sportwissenschaften, ebenfalls unklar.

Dabei ist die „Atmosphäre“ in den Naturwissenschaften durchaus klar definiert: Die Zusammensetzung aus altgriechisch atmós (Dunst) und sphaīra ((Erd-)Kugel) bezeichnet etwa in den Geowissenschaften die Gashülle der Erde oder eines anderen Planeten, in der Physik die Einheit für den Druck. Der alltagssprachliche Begriff findet seinen Widerhall indes in der philosophischen Ästhetik und Phänomenologie, in Teilbereichen der Kunsttheorie und der Soziologie. In der Ästhetik bezieht er sich auf die leiblich-sinnliche Wahrnehmung räumlicher Stimmungen, die durch Licht, Musik oder Architektur erzeugt werden. In der Phänomenologie war der Kieler Philosoph Hermann Schmitz prägend: Er definierte Atmosphären als Halbdinge, die nicht allein mit den klassischen fünf Sinnen wahrnehmbar sind, sondern spürend erfahrbar werden. Der Frankfurter Sportsoziologe Robert Gugutzer machte den Begriff für sein Fach nutzbar, indem er den Zusammenhang von Atmosphäre und Situation im Sport herausarbeitete.

Atmosphäre als Haupt- und Metathema

Felix Glenk bot im Wintersemester 2023/24 ein Lektüreseminar an, in dessen Zentrum Gugutzers gerade erschienenes Buch „Sport als Widerfahrnis: Phänomenologische Erkundungen“ stand. Im Rahmen eines Lehrforschungsprojekts machte er aus dem Thema des Seminars auch ein Metathema und befragte die Studierenden, wie sie die jeweilige Sitzungsatmosphäre empfunden hätten, welche Faktoren darauf Einfluss gehabt hätten und in welcher Grundstimmung sie selbst sich befunden hätten. „So genau wurde das im Hochschulbereich meines Wissens noch nie erhoben“, sagt Glenk. Er wolle keineswegs für sich in Anspruch nehmen, die letztgültige Definition gefunden zu haben. Aber die Antworten der Studentinnen und Studenten hätten auf jeden Fall für ihn in seiner Rolle als Dozent einige Neuigkeiten zutage gebracht. So sei ihm zuvor nicht bewusst gewesen, dass sich sogar die Kleidung des Dozenten auf die Atmosphäre auswirke – ein buntes Hemd habe offenbar die Aufmerksamkeit auf sich gezogen.

Warum aber sollte Atmosphäre überhaupt ein Untersuchungsgegenstand sein? Darauf hat Felix Glenk eine klare Antwort: „Unterschiedliche Atmosphären wirken sich unterschiedlich auf das leibliche Befinden und dann auch auf das Handeln von Menschen aus“, sagt er. So steigere eine entspannt konzentrierte Atmosphäre die Produktivität, während sich eine toxische Atmosphäre eher hemmend auf den Lerneffekt im Seminar auswirke. Festgestellt wurde auch, dass unterschiedliche Menschen dieselbe Situation unterschiedlich atmosphärisch erleben können. Dies hänge zum Beispiel von der emotionalen Verfassung ab, in der sich die einzelnen Individuen schon vorher befunden hätten; wer zum Beispiel abgehetzt ins Seminar kam, habe die Atmosphäre oft anders erlebt als die anderen. „Insofern müssen sich Dozierende bewusst sein, dass die Seminar­atmosphären nur sehr beschränkt beeinflusst werden können“, sagt Glenk, „Atmosphäre ist kein Lego-Bausatz, bei dem herauskommt, was man geplant hat.“

Der berühmte Elefant im Raum

Dennoch habe er selbst viel aus den Antworten gelernt. So habe sich auch das Rätsel der Stille nach einer Frage im Seminar zumindest teilweise lüften lassen. Die Studierendenantworten hätten deutlich gezeigt, dass diese Stille meist nicht auf eine schlecht gestellte Frage zurückgeht; vielmehr hatten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer eingeräumt, dass sie die erforderlichen Texte nicht gelesen oder sich schlicht nicht getraut hätten, sich zu melden. „Klar, kann man sich das als Dozent auch denken. Das ist der berühmte Elefant im Raum, aber es hat doch eine andere Bedeutung, wenn die Studierenden das explizit mitteilen“, sagt Glenk. Er habe sich vorgenommen, die Ursachen für diese Stille künftig besser auszuloten und sein eigenes Verhalten anzupassen.

Felix Glenk fände es durchaus sinnvoll, der Atmosphäre in Lehrveranstaltungen künftig regelmäßig auf diese proaktive und genaue Art und Weise nachzuspüren. Er selbst jedoch wird sich vorläufig vor allem seinem Dissertationsprojekt widmen, das im Bereich des Tanzsports angesiedelt ist – und ebenfalls, was kaum verwundert, mit dem Thema Atmosphäre zu tun hat: „Es geht um die Atmosphäre im Formationstanz, die dort eine besondere Rolle spiele“, erklärt Glenk, der selbst Tanzsportler ist.

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