Von Rallye über Kurzquiz bis Mitmachheft – das Projektseminar »Kunst für alle?!« hat die Ausstellung des Bildhauers Herbert Mehler auf dem Campus Westend kunstpädagogisch begleitet. Entstanden sind digitale Formate, die sich sehen und hören lassen.
Sehen, tasten, hören
Kunst im öffentlichen Raum hat es nicht leicht. Wenn sie überhaupt wahrgenommen wird, dann nur vorübergehend. „Einfach nur vorbeigelaufen“ an der Ausstellung „Wachstum – Körper – Raum“ auf dem Campus Westend wäre auch Johanna Zeiler, wenn sie nicht einen Grund gehabt hätte, exakt das Gegenteil zu tun: jede einzelne der 18, bis zu sechs Meter hohen Cortenstahl- Skulpturen gemeinsam mit 39 anderen Studierenden der Kunstpädagogik genau zu untersuchen. Also zu besehen und zu ertasten, nachzuhören, wie der Baustahl klingt, wenn man an ihm klopft, die Skulpturen kennenzulernen – über den Künstler, ihren Standort, ihre Geschichte, ihr Umfeld. Um das gesammelte Wissen und die Erfahrungen anschließend an interessierte Betrachter kunstpädagogisch zu vermitteln.
Kunst für alle
„Ein Dialog zwischen Künstler, Galerie und Universität ist keineswegs alltäglich“ – für Projektkoordinatorin Claudia Spezzano war die temporäre Ausstellung, die in zehn Skulpturengruppen über den Campus Westend verteilt ist, ein spannendes kunstpädagogisches Projekt – auch wenn aus der ersten Idee, Bürgerinnen und Bürger der Stadt mit Führungen und Workshops der Studierenden auf den Campus zu locken, nichts wurde. Stattdessen: Pandemie. Ein Campus im Dornröschenschlaf. Doch es entstand etwas Neues, digital. Beeindruckt hat Claudia Spezzano, wie sensibel und kreativ die Studierenden an das Projekt herangingen: Kunst für alle, das hieß für diese Kunstvermittlung wirklich für alle, für Erwachsene, Jugendliche, Kinder, Menschen mit Hör- und Sehbeeinträchtigungen. Kunstvermittlung für alle, betont die angehende Gymnasiallehrerin Johanna Zeiler, hieß für die Studierenden auch: mehrere digitale Formate zu beherrschen, vom Videoskript und -dreh bis zum fertigen YouTube-Channel.
Herbert Mehler: Wachstum – Körper – Raum in Zusammenarbeit mit DIE GALERIE ist noch bis zum 17. Juli auf dem Campus Westend zu sehen. Die digitalen Begleitformate aus dem kunstpädagogischen Projektseminar Kunst für alle?! sind abrufbar unter: www.uni-frankfurt.de/Skulpturenschau- Herbert-Mehler und https://tinygu.de/Kultur-fuer-alle (Foto: Pia Barth)
Augen auf, Augen zu
Erarbeitet haben die zehn Studierendenteams ein breites Angebot: vom Mitmachheft „Gedanken-Gang“ zum Kurzquiz „Have You seen me“ (auch in Englisch), von einem raumatmosphärischen Video für Gehörlose und dem Video „Perspektivwechsel – Kunst im öffentlichen Raum“ bis zum Video „Campuskunst entdecken – Kunst für Kinder“, vom Podcast „Campus-Kreaturen“ bis zur interaktiven Führung „Mehler meets Goethe“ und einem Instagram Account. Beim Rundgang für blinde Menschen haben die Studierenden sich von einem Blinden beraten lassen.
Bögen schlagen
„Was siehst Du, wohin wird Dein Blick gelenkt und warum?“ Das Video, das sich an den Skulpturengruppen entlangbewegt, schlägt Bögen in Raum und Zeit. Das Skulpturensemble „Im Mittelpunkt der Stadt“ vor dem IG-Farben-Hauptgebäude etwa wird Anlass für eine geographische Ortsbestimmung. Ergebnis: Der Campus liegt heute mitten in der Stadt. Aus der Biographie des Künstlers erfahren wir, dass Mehler zunächst mit weicherem Material, mit Kupferblech, Ästen, Wolle und Zweigen arbeitete. Dass ihn braune Papiertütchen, in die selbst gemachte Marzipankartoffeln seiner Frau gewickelt waren, zu einer neuen Schaffensphase inspiriert haben. Wie er von der „unerwarteten Dreidimensionalität dieses dieses dünnen flachen Materials fasziniert“ war. Noch in der Nacht entwirft er Skizzen für seine Metallskulpturen. Warum Mehlers inspirierten Umgang mit dem Material nicht aufgreifen? Zeilers Teamvideo fordert Kinder auf, nach Mehlers Vorbild selbst geometrische Figuren zu falten.
Bürger-Universität
Der Beitrag „Mehler meets Goethe“ entführt in die Lebenszeit des Universalgelehrten, dessen Großeltern auf dem heutigen Gelände Obstgärten besaßen; dorthin lief der junge Goethe in halbstündigem, ansteigendem Fußweg hinaus aus der Stadt. Erinnert wird auch an die Gründungszeit der Universität zu Beginn des ersten Weltkriegs, als Frankfurter Bürger eine Hochschule von Bürgern für Bürger im Sinn hatten. Schon damals der Impuls, so die Studierenden, Universität und Stadt zu verbinden, den die Ausstellung im öffentlichen Raum aufgreift.
Zwiesprache
Mehlers Titel wie etwa „Nachhaltigkeit – nicht keimend“ und „Nachhaltigkeit – unterbrochenes Wachstum“ werden im Podcast „Campus-Kreaturen“ Anlass für eine kritische Auseinandersetzung mit Klimawandel und Naturzerstörung. Andererseits reichen die Studierenden ihren eigenen kreativen, inspirierenden, spielerischen Umgang mit den Kunstwerken an die Betrachter weiter. Erfahrungen etwa, die sie mit écriture automatique gemacht haben und bei der es zu anregenden Zwiesprachen zwischen der Skulptur Corno („Horn“) und der Sitzenden Frau am Wasser kommt: „Du sitzt schon lange so da, wurdest erschaffen, um Blicke auf dich zu ziehen. … Du schweigst mich an, oder flüsterst du mir leise etwas zu?“ Anlässlich der Skulptur „Nach den Sternen greifen“ stellt das Mitmachheft die Frage „Nach welchen Sternen greifst Du?“, bei der Skulptur „Nachhaltigkeit – nicht keimend“ animiert es den Leser, die ersten drei Gedanken zu notieren, die ihr oder ihm beim Anblick der Skulpturen einfallen.
Campus-Kunst
Die Beschäftigung mit der temporären Ausstellung schärft den Blick – auch für die Kunst, die es sonst noch auf dem Campus gibt. Zahllose Kunstobjekte sind im Besitz der Universität. Wo kommen sie her? Worum handelt es sich? „Je genauer man hinsieht, desto spannender wird es“, sagt Claudia Spezzano. Und greift das Thema unmittelbar auf: Ihr gegenwärtiges Projektseminar lautet „Kunst für alle?! Kunst auf dem Campus Westend und Wege der Kunstvermittlung im öffentlichen Raum II“.