Ich betreibe Rechtsgeschichte

Vom Zauber einer kleinen Spezialdisziplin

Albrecht Cordes, Professor für mittelalterliche und neuere Rechtsgeschichte und für Zivilrecht

Ein wichtiger Teil der Rechtswissenschaft ist die Rechtsgeschichte. Sie ermöglicht es, die Entwicklung des Rechts und seiner Grundlagen zu verstehen und zu erklären, wie die heutige Rechtsprechung entstanden ist. Auch an der Goethe-Universität wird dieses kleine Fach gelehrt und erforscht. Im Institut für Rechtsgeschichte sind seit den späten 1960er Jahren vier Professuren zusammengefasst, die seit der Jahrtausendwende nach Epochen gegliedert sind: Antike, Mittelalter, Neuere und Neueste Rechtsgeschichte. Seit 2010 gibt es eine fünfte Professur für vergleichende Rechtsgeschichte. Das Institut arbeitet eng mit dem benachbarten Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte und anderen Partnern zusammen. Prof. Albrecht Cordes gibt einen persönlichen Einblick in seine Leidenschaft für die Rechtsgeschichte. Angefangen hatte alles damit, dass der Geschäftsführende Direktor des Instituts sich gegen eine Karriere als Basketballprofi entschied. Lesen Sie hier seinen persönlichen Blick auf seine Laufbahn.

Ich betreibe Rechtsgeschichte…

… , weil Basketball allein nicht ausgereicht hätte, um meine Familie zu erhalten. Rechtsgeschichte ernährt. …, weil mein Lehrer Kroeschell in meinem 3. Semester in Freiburg i. Br. eine begeisternde Vorlesung in Rechtsgeschichte hielt — genau in dem Moment, als ich überlegte, mit dem drögen Jurastudium aufzuhören. Nun hatte ich etwas gefunden, was mich begeisterte. Später wurde mir zudem klar, dass ich mich nicht mit Publikationen abmühen will, die mit der nächsten Änderung der Gesetze oder der Rechtsprechung obsolet werden.

Rechtsgeschichte macht Spaß

…, weil die Rechtsgeschichte, und zwar gerade die ältere Rechtsgeschichte, für künftige Juristen viel mehr Erkenntnisse bereithält, als die Jurastudentinnen und -studenten so denken. Die Rechtsgeschichte beispielsweise des Mittelalters ähnelt einer Zeitreise durch ferne untergegangene Welten, bei der man aber immer wieder Fundamenten begegnet, auf denen unsere moderne Gesellschaft aufbaut. Diese vertraute Fremdheit fasziniert mich, weil sie spannende Fragen aufwirft. Ich nenne einige. Welche Spolien (wörtlich: antike Säulen, Steine und andere Überreste in den Bauten späterer Epochen) wurden bei der Errichtung einer jüngeren und auch unserer modernen Rechtsordnung wiederverwendet und welche nicht? Warum? Wie sähen unsere heutigen Staaten und unsere heutige Gesellschaft aus, wenn wir uns an anderen Vorbildern der Vergangenheit orientiert hätten?

Dafür zwei Beispiele: Wie sähe unsere Welt ohne Juristen aus? Würden erfahrene, angesehene, durch Wahlen legitimierte Mitglieder der Gesellschaft (Max Weber nannte sie Rechtshonoratioren) unsere Konflikte gerechter und nachhaltiger lösen als studierte Juristen? Diese Frage untersuche ich anhand des vormodernen Handels- und Seerechts. Oder: Wie sähe unsere Welt aus, wenn sie in Stadtrepubliken statt in Nationalstaaten eingeteilt wäre, wenn sich also in der Frühen Neuzeit nicht der territoriale Flächenstaat durchgesetzt hätte, der dann nationalistisch aufgeladen werden konnte? Auch dafür gibt es Beispiele, etwa die Stadtstaaten der griechischen Antike oder des norditalienischen Mittelalters; meine Wahl fiel auf die Hanse in Nordeuropa.

Rechtsgeschichte bildet

Der Aufsatz ist erschienen in dem Sammelband
»Ich betreibe Rechtsgeschichte«
Hrsg. Peter Oestmann
© 2022 Böhlau, ein Imprint der Brill-Gruppe
ISBN Print: 9783412525514
ISBN E-Book: 9783412525521
Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags

…, weil die künftigen Juristen aus der Geschichte lernen sollten. Das ist nicht in dem platten Sinn gemeint, dass man die Probleme der Zukunft mit den Rezepten der Vergangenheit zu lösen sucht. Entgegen dem Zeitgeist ist es auch nicht so gemeint, dass man die Geschichte kennen soll, um ganz konkrete Fehler zu vermeiden. Die Geschichte wiederholt sich nie und die nächste Bedrohung kommt garantiert aus einer Richtung, aus der wir sie nicht erwarten. Was unsere Jurastudentinnen und -studenten hingegen lernen sollten, ist einfacher und grundsätzlicher: kritische Distanz zu dem Instrumentarium der Macht, mit dem wir sie im Studium vertraut machen. Unsere Rechtsordnung ist historisch gewachsen und nie »alternativlos«. Sie ist entstanden und wird vergehen wie alles Menschliche. Das Recht ist ein Werkzeug dafür, unsere Welt zu einem freieren und gerechteren Ort zu machen. Die künftigen Juristinnen und Juristen müssen in den dogmatischen Fächern lernen, es kunstgerecht anzuwenden. Zugleich dürfen sie nie müde werden, sich um eine Verbesserung ihrer zeitlich nur begrenzt haltbaren Instrumente zu bemühen. In unserer Gesellschaft sitzen an fast allen wichtigen Schaltstellen Juristen. Die Rechtsgeschichte kann helfen, sie an die Endlichkeit ihrer Macht zu erinnern.

Rechtsgeschichte schafft kritische Distanz

TANZ. Wie heißt es in den Carmina Burana? Rex sedet in vertice. Caveat ruinam! Nam sub axe legimus Hecubam Reginam. – Der König sitzt auf dem Scheitelpunkt. Hüte er sich vor dem Fall! Denn unter der Achse des Glücksrads lesen wir »Königin Hecuba«. Kennen Sie die unglückliche Königin Hecuba, Gattin des Priamos und Mutter von Hector, Paris und Kassandra, nicht? Dann googeln Sie sie bitte! Und lesen Sie anschließend Walter Jens’ kongeniale Nachdichtung von Ilias und Odyssee! Dort erfährt man auch etwas über den Schild des Achilleus. Auf ihn war der Idealtyp einer Gerichtsszene in einer archaischen Welt ohne Nationalstaaten und ohne Juristen eingraviert.

Albrecht Cordes, Rechtshistoriker am Institut für Rechtsgeschichte der Goethe-Universität; Bild: Uwe Dettmar

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