Herr Prof. Boehm, ursprünglich arbeiteten Sie in der Kinderklinik des Universitätsklinikums Frankfurt, seit Langem aber forschen Sie inzwischen als Wissenschaftler am Max- Planck-Institut für Immunbiologie und Epigenetik. Warum haben Sie sich für die Theorie entschieden?
Als Arzt in der Kinderklinik und bei den Kollegen der Inneren Medizin hatte die Entstehung von Leukämien mein Interesse geweckt und den Wunsch, aus dem Verständnis der Entstehung genetischer Läsionen bessere Therapien zu entwickeln. Da wir es bei Leukämien wie auch anderen Tumoren mit genetischen Erkrankungen zu tun haben, lag es nahe, aus deren Kenntnis in den Prozess der unkontrollierten Entartungen einzugreifen. An dieser Idee arbeiten Legionen von Wissenschaftlern, ohne dass sie bis heute vollständig realisiert wäre. Dann interessierten mich zunehmend auch angeborene Immundefekte, deren Ursachen und Behandlung heute meinen Arbeitsschwerpunkt darstellen. Ich möchte meinen Teil dazu beitragen, die Mechanismen solcher Erkrankungen aufzudecken, um deren Diagnose und hoffentlich auch Therapie zu verbessern. Nach vielen Jahren wurde es für mich zu schwierig, klinische Arbeit mit theoretischer Arbeit auf hohem Niveau zu verbinden. So habe ich mich, mit nicht ganz leichtem Herzen, für die Forschung entschieden.
Sie erforschen die Entwicklung des Immunsystems. Was würden Sie als Ihre wichtigste Erkenntnis bezeichnen?
Die wichtigste Erkenntnis der letzten Jahre aus vergleichenden Studien der Immunsysteme verschiedener Wirbeltierarten ist, dass die Natur für die Immunabwehr eine ungeheure Vielfalt an Lösungen bereithält. Was bei der einen Art zur tödlichen Immunschwäche führen würde, ist bei einer anderen der Ausgangspunkt für die Entwicklung völlig neuer Lebens- und Fortpflanzungsformen. So bietet die Natur dem Arzt reiches Anschauungsmaterial für unkonventionelle Therapieansätze zur Linderung immunologischer Erkrankungen.
Ihre Forschung trägt dazu bei, neue Diagnoseverfahren und Behandlungsansätze für Immunerkrankungen zu finden. Welche Rolle spielt die Grundlagenforschung für die angewandte Medizin?
Die Erfahrung zeigt, dass man nie wissen kann, welche Erkenntnisse der Wissenschaften plötzlich anwendungsrelevant werden. Aber gerade, wenn es darum geht, unerwartete Probleme zu bewältigen, können wir als Grundlagenforscher wertvolle Informationen liefern. Wer hätte vor noch wenigen Jahren gedacht, dass man heute beispielsweise für wenige 100 Euro innerhalb von 24 Stunden das Genom sequenzieren lassen kann, um bei Diagnosestellung und Therapieplanung zu helfen?
Wie kommen Sie zu Ihren Erkenntnissen, also wie arbeiten Sie?
Ich entwickle klare Pläne, auch um auf Überraschungen schnell reagieren zu können. Als Direktor meiner Abteilung im Max-Planck-Institut versuche ich, meinen Mitarbeitenden Kritiker und Helfer in einem zu sein, was sich aus engem Kontakt ergibt. Das hilft den anfangs unerfahrenen jungen Forschern ungemein, ihr eigenes Profil zu entwickeln. Eine der größten und zugleich schwersten Aufgaben ist es dabei, eine mit viel Herzblut verfolgte Idee begraben zu müssen. Und dann wieder von vorne anzufangen, ohne den Mut zu verlieren. Das gelingt am besten gemeinsam.
Die Biochemikerin Katalin Karikó arbeitete Jahrzehnte an ihrer Idee der Messenger-RNA, wurde vielerorts ausgebremst, nicht ernst genommen. Jetzt ist sie mit dem Nobelpreis für Medizin ausgezeichnet worden, weil durch ihre Arbeit ein Impfstoff gegen COVID entwickelt werden konnte. Welche Schlüsse kann man aus einer solchen Forscherlaufbahn ziehen?
Es gibt sie, diese kleinen gallischen Dörfer in der Wissenschaft, in denen außerhalb des Rampenlichts an neuen und unkonventionellen Ideen gearbeitet wird. Das sind die eigentlich interessanten Plätze, aber dort ist es unglaublich anstrengend, weil man ja oft auch gegen eigene Zweifel ankämpfen muss, nicht selten zehn, zwanzig Jahre lang. Da braucht es schon eine gewisse Dickköpfigkeit und Sturheit. Und viel Glück und ein stützendes Umfeld. Das Problem ist aber, dass man am Ende nur die wenigen sieht, die es geschafft haben. Über alle anderen spricht leider niemand.
Versteht die Öffentlichkeit noch zu wenig davon, wie in der Wissenschaft Erkenntnisse gewonnen werden?
Auf jeden Fall, das hat man beispielsweise während der COVID- Krise gesehen. Da passierte es schon mal, dass Politiker Entscheidungen auf Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse vom Montag getroffen haben, die am Freitag wieder revidiert werden mussten. Das wirkt nach außen selbstverständlich erratisch und willkürlich, wenn man nicht versteht, dass Erkenntnisse in der Wissenschaft ständiger Revision unterliegen und man auch nur so Lösungen findet. Interessanterweise verhält es sich in anderen Bereichen der Gesellschaft auch nicht anders. Unternehmen müssen ihre Geschäftsstrategien auch ständig der jeweiligen Marktsituation anpassen. Da erscheint es jedem selbstverständlich. Man muss aber auch sagen, dass Wissenschaftler nicht gewohnt sind, komplexe Sachverhalte in drei Sätzen korrekt und trotzdem verständlich der Öffentlichkeit zu vermitteln. Aber das ist es, was in der heutigen schnelllebigen Medienlandschaft erforderlich ist.
Wie sollte Ihrer Meinung nach Wissenschaft kommuniziert werden?
Wissenschaftliche Auszeichnungen und Preisverleihungen könnten eines von vielen Vehikeln sein, Wissenschaft in der Öffentlichkeit erfahrbarer zu machen. Wichtig ist es, nicht nur die Leistung zu würdigen, sondern auch die Wege dahin. Es wäre schön, wenn Medien exemplarisch an den Preisträgern aufzeigten, dass diese zwar am Ende in Rom angekommen, aber während der Reise fünf Mal in die falsche Richtung gelaufen sind. Und damit vermitteln, dass Wissenschaft keineswegs eine gradlinige Angelegenheit ist.
Als Vorsitzender des Stiftungsrats der Paul Ehrlich-Stiftung moderieren sie ein Komitee, dass darüber entscheidet, wem der renommierte Paul Ehrlich- und Ludwig Darmstaedter- Preis zuteilwird. Von den bisher 133 Preisträgern und -trägerinnen erhielten 26 den Nobelpreis, wie eben auch Katalin Karikó. Wie finden Sie diese exzellenten Forscherpersönlichkeiten?
In diesem Komitee vertreten sind herausragende Wissenschaftler, unter ihnen eine Reihe von Nobelpreisträgern. Diese geballte Expertise geht bei der Auswahl hochkonzentriert zur Sache; spannend ist es vor allem dann, wenn man sich nicht gleich einig ist. Für das Renommee des Preises ist entscheidend, das bisherige Qualitätsniveau zu halten. Würden wir Leute auszeichnen, deren Stern schnell verglüht, täte das dem Preis nicht gut.
Sie haben an der Goethe-Universität Medizin studiert. Was war die prägendste Erfahrung?
Nachhaltig geprägt haben mich die Professoren, die bei aller wissenschaftlichen Kompetenz jeden Patienten als Individuum wahrgenommen haben. Es ist eine große Aufgabe, das miteinander zu verbinden: wissenschaftliche Abstraktion und menschliche Zugewandtheit. Diesem Ideal wollte ich als Mensch und Arzt folgen, so gut es eben geht.
Sie sind jetzt 68 Jahre alt, ihr Vertrag am Max-Planck-Institut in Freiburg läuft im Sommer aus. Welche Pläne haben Sie für die Zeit danach und worauf freuen Sie sich?
Dann fange ich ein neues Leben an. Ich wechsle nach Tübingen an das Max-Planck-Institut für Biologie und baue dort als Emeritus eine neue Forschungsgruppe auf. Die Tübinger Kolleginnen und Kollegen freuen sich auf mich, und ich freue mich darauf, weiter forschen zu können. Noch bin ich gesund, warum sollte ich also aufhören? Wissen Sie, jeder kommt mit einem Bündel an Fähigkeiten auf die Welt; und besteht nicht die Aufgabe des Lebens darin, das Beste daraus zu machen?
Das Interview führte Heike Jüngst