Sport und Bewegung reduzieren Nebenwirkungen der Krebstherapie
Für die meisten Menschen ist Krebs die Schockdiagnose schlechthin. Etwa die Hälfte der deutschen Bevölkerung erkrankt im Laufe ihres Lebens an dieser Krankheit. Tendenz steigend. Das belegen die Statistiken des Robert Koch-Instituts (RKI). Demnach liegt die Zahl der Neuerkrankungen in Deutschland derzeit bei rund 510.000 Menschen pro Jahr. Die gute Nachricht: Mehr als die Hälfte der Erkrankten überlebt den Krebs. Die Heilungschancen haben sich in den letzten vier Jahrzehnten deutlich verbessert. Dank wirksamerer Therapien und begleitender Angebote. Sport und Bewegung zum Beispiel. Zahlreiche Studien belegen das für verschiedene Krebsarten. Das Universitäre Centrum für Tumorerkrankungen (UCT) Frankfurt bietet seinen Patientinnen und Patienten deshalb Sport- und Bewegungstherapie an.
Fünf Kilometer. 10.000 Schritte. Einmal am Frankfurter Mainufer entlang und zurück. Als Petra das erste Mal zum Nordic-Walking-Training kam, schien diese Strecke kaum zu schaffen. »Der Anfang war sehr schwer«, erzählt die Brustkrebspatientin. »Ich fühlte mich nach der Chemo sehr geschwächt und hatte große Probleme beim Atmen.« Sie, die vor ihrer Krebserkrankung viel Sport getrieben hatte, wäre nach der ersten Brücke am liebsten umgekehrt. Aufgeben kam für sie aber nicht in Frage: »Ich wusste, dass ich etwas für mich tun musste.« Petra hielt durch. Nach nur wenigen Monaten läuft sie heute der kleinen Gruppe zügig voraus. Sport und Bewegung gehören jetzt zu ihrem Tagesprogramm. Sie habe Lebensqualität und Lebensfreude zurückgewonnen, sagt Petra.
Bewegung als Kraftquelle
Adele Kruse begleitet und trainiert die Nordic-Walking-Gruppe. Die Sportwissenschaftlerin und Sporttherapeutin hat sich auf onkologische Patienten spezialisiert. Sie arbeitet auf den onkologischen Stationen sowie in der UCT Ambulanz am Universitätsklinikum Frankfurt. »Ich erlebe oft, dass die Menschen Spaß an der Bewegung entwickeln und dadurch das Gefühl bekommen, wieder mehr Kontrolle über ihr Leben zu haben.« Kontrolle, die sie während ihrer Krebserkrankung verloren haben: Therapie und Krankenhausabläufe rauben die Selbstbestimmung. Krebsbehandlungen sind belastend. »Eine Krebserkrankung und die Therapie führen bei den meisten Menschen zu enormen psychischen Belastungen und körperlicher Erschöpfung«, sagt Adele Kruse. In ihren Kursen gibt sie den Teilnehmerinnen und Teilnehmern Raum und Zeit. »Alles darf, nichts muss. Wer Redebedarf hat, kann erzählen, wer weinen muss, lässt den Tränen ihren Lauf, wem das Training gerade zu anstrengend ist, der geht nach Hause«, sagt sie. So kommt es, dass manchmal nur drei Personen zum Kurs kommen, ein anderes Mal sind es bis zu zwölf. Die Patienten zu motivieren, ist ein wichtiger Teil von Adele Kruses Arbeit.
Positiver Einfluss auf den Krankheitsverlauf
Es ist noch nicht lange her, da wurde Krebspatienten vor allem Ruhe und körperliche Schonung empfohlen. Diese Einstellung hat sich grundlegend geändert. Klinische Studien, auch von Sportmedizinern der Goethe-Universität, belegen messbare Effekte von Sport bei Krebspatientinnen und Krebspatienten. »Wir wissen, dass die onkologische Sport- und Bewegungstherapie vor, während und nach einer onkologischen Behandlung positive Auswirkungen auf unsere Patientinnen und Patienten hat. Sportliche Aktivität macht die Krebstherapie besser verträglich und kann Nebenwirkungen lindern. Viele Patienten berichten zudem, dass sie durch Sport ein Stück Normalität und Selbstbestimmung zurückgewinnen – ein ganz entscheidender Faktor für die empfundene Lebensqualität auch unter Therapie«, sagt Prof. Christian Brandts, Direktor des UCT. Auch Ängste und Unsicherheiten können durch regelmäßigen Sport abgebaut, Stimmungstiefs und Depressionen gelindert werden. Die Sport- und Bewegungstherapie am Universitären Centrum für Tumorerkrankungen ist inzwischen fester Bestandteil der Angebote für Krebspatienten.
Patientenzentrierte Versorgung
Als Maria zur stationären Behandlung ihrer Leukämie an das Universitätsklinikum Frankfurt kam, fand sie zwischen all den medizinischen Befunden und Therapieplänen auch das Angebot der Sporttherapeuten des UCT. »Dort habe ich mich sofort angemeldet«, erzählt die Patientin. So lernte sie noch vor ihrer Stammzelltransplantation Adele Kruse kennen. Sie ist selbst Krankenschwester und weiß, dass Sport und Bewegung viele unangenehme Begleit- und Folgeerscheinungen der Transplantation lindern können. Auch ein Jahr nach der Therapie leidet sie noch unter dem Fatigue-Syndrom, hat Gedächtnis- und Wortfindungsstörungen, Polyneuropathien. Wieder zu arbeiten, ist für sie undenkbar. Im Moment jedenfalls. Das Nordic-Walking-Training helfe ihr, die chronische Erschöpfung besser zu ertragen, sagt Maria. Und weiß zugleich, dass sie noch einen langen Weg vor sich hat. »Ein individuell angepasstes Bewegungsprogramm hilft Krebspatienten, bei der Stange zu bleiben«, erklärt Adele Kruse das Konzept des UCT. Schon vor der Teilnahme an einem Kurs stellt das Sporttherapeutenteam gemeinsam mit dem Patienten ein Programm zusammen. Inzwischen kann Maria mit Petra mithalten. Immerhin.
Wirkmechanismen unbekannt
Die onkologische Bewegungstherapie ist nach heutigem Stand der Wissenschaft wirksam – ähnlich einem Medikament. Warum das so ist, kann allerdings noch niemand erklären, nur vermuten. »Das liegt vor allem daran, dass die Krebsentstehung und der Stoffwechsel des Tumors komplexe Prozesse darstellen«, sagt Nils Schaffrath. Der Sportwissenschaftler erforscht am Institut für onkologische Sport- und Bewegungstherapie derzeit die biologischen Mechanismen, die dazu führen, dass Sport einen Einfluss auf Krebs hat. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vermuten, dass Bewegung entzündungshemmende Prozesse im Körper in Gang setzt und zudem Zellen des Immunsystems einen besseren Zugang in den Tumor finden könnten. Sport fördert die Ausschüttung von Signal- und Botenstoffen, welche parallel zur Mehr-Durchblutung im ganzen Körper verteilt werden. Dadurch wird das Immunsystem gestärkt, was wiederum den Krebszellen das Überleben erschweren kann. Nils Schaffrath ist zuversichtlich, bald Antworten zu finden. Zukünftig könnten Bewegungs- und Sporttherapien noch individueller gestaltet werden, maßgeschneidert also. Das ist auch für Langzeitüberlebende wichtig, die mit körperlichen, psychischen und sozialen Spätfolgen ihrer Erkrankung und Therapie zu kämpfen haben. Langzeitüberlebende wie Isabel aus der Nordic-Walking-Gruppe.
Keine Kassenleistung
Isabel hatte Brustkrebs und nimmt seit vielen Jahren am Trainingsangebot des UCT teil. Die festen Trainingszeiten geben ihrem Alltag Struktur. In den Kursen kommt sie mit Menschen in Kontakt, die das gleiche Schicksal teilen. Man versteht sich, ohne viel Aufhebens um die Krankheit zu machen. Mitleid braucht niemand. Gemeinschaft schon. »Ich kann mir keinen teuren Einzelsport leisten«, sagt Isabel. Sie wüsste nicht, wo sie hingehen könnte, wenn es die onkologische Sportgruppe nicht gäbe. Obwohl viele Studien belegen, dass eine individuelle Bewegungstherapie Krebspatienten hilft, ist sie keine Kassenleistung und nur für Studienpatienten oder Selbstzahler möglich. Das UCT allerdings ermöglicht allen onkologischen Patientinnen und Patienten, die dort behandelt werden, kostenlos an diesem Angebot teilzunehmen – dank eingeworbener Drittmittel und Spenden, die das vielfältige Kursangebot und die Anschaffung von Sportgeräten ermöglichen.
In Deutschland leben etwa 5 Millionen Menschen mit oder nach einer Krebserkrankung. Langzeitüberlebende nach Krebs stellen mit ca. 3,5 Millionen den größten Anteil, so die Deutsche Krebshilfe. Eine heterogene Gruppe, die immer größer wird. Langzeitüberlebende nach einer Krebserkrankung haben ebenso spezifische wie vielfältige Bedürfnisse. Ein betreutes Sportangebot gehört dazu. Doch bis zu einer bedarfsgerechten und bedürfnisorientierten Versorgung ist es noch ein weiter Weg.
Kontakt, Kurtermine und Anmeldung unter Web: www.uct-frankfurt.de/sporttherapie. Gefördert wird das Angebot von der Stiftung Leben mit Krebs und der Stiftung Deutsche Krebshilfe.
Spenden zur Unterstützung der onkologischen Sport- und Bewegungstherapie: Die Brücke e.V. Förderverein zugunsten krebskranker Patienten am UCT
Spendenkonto: Frankfurter Sparkasse, IBAN: DE82 5005 0201 0200 5707 06,
BIC: HELADEF1822, Stichwort: „Sporttherapie“
Autorin & Bilder: Heike Jüngst