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Sprachwissenschaften: Angela Grimm zum Schreib- und Leseunterricht an Grundschulen

Die Sprachwissenschaftlerin Prof. Angela Grimm zum Schreib- und Leseunterricht an Grundschulen

UniReport: Frau Professorin Grimm, im Sommer hat das Hessische Kultusministerium bekannt gegeben, dass die Methode »Lesen durch Schreiben« nicht mehr unterrichtet werden darf. Für viele Eltern dürfte diese Entscheidung überfällig gewesen sein. Sehen Sie das als Sprachlernexpertin auch so?

Angela Grimm: Zunächst finde ich es erfreulich, dass Kultusminister Lorz sich in einer Zeit mit der Rechtschreibung befasst, in der an Schulen sicher ganz andere Dinge anstehen. Auch ich habe aus didaktischer Sicht Zweifel an der Methode, frage mich aber, ob man mit einem Verbot erreicht, dass die Methode nicht mehr verwendet wird.

Wer legt fest, auf welche Weise Kinder Lesen und Schreiben lernen?

Es gibt eine Vielzahl an zugelassenen Lehrwerken. Welche Lehrwerke verwendet werden, entscheiden die Lehrkräfte und Schulen selbst. Es gibt Grundschulen, die sich einheitlich für eine Methodik oder bestimmtes Material entscheiden, an anderen unterrichten die Lehrkräfte nach unterschiedlichen Methoden oder mit verschiedenen Materialien.

Was genau verbirgt sich hinter der Methode »Lesen durch Schreiben«?

Genau genommen ist das gar kein didaktischer Ansatz, denn es geht hier nicht darum, Schülerinnen und Schülern etwas beizubringen, sie zu „unterrichten“. Um zu verstehen, wie es dazu kam, muss man zeitlich zurückgehen: Bis in die 1980er-Jahre stand das Richtigschreiben im Vordergrund des Unterrichts. Die Schüler wurden mit Abschreibaufgaben und Diktaten darauf gedrillt, Wörter richtig zu schreiben. Der Deutschunterricht zählte damals zu den unbeliebtesten Fächern. Dann kam Jürgen Reichen mit seiner Idee „Lesen durch Schreiben“, das war 1988. Er wollte weg vom Drill und meinte, Kinder seien selber in der Lage, sich das Schreiben richtig anzueignen.

Und wie genau sollte das funktionieren?

Die Kinder sollen möglichst früh die Möglichkeit haben, Texte schreiben zu können. Zunächst sollten sie lautgetreu schreiben, daher der irrtümliche Name „Schreiben nach Gehör“. Die Kinder bekommen als Unterstützung eine Anlauttabelle mit Bildern von Dingen, die sie kennen. So können sie sich z. B. den Buchstaben „J“ über das Bild von einer Jacke erschließen. Die Idee ist, dass sich die Schüler über das eigenaktive Schreiben und Lesen das richtige Schreiben selbst aneignen. Rechtschreibfehler sollen in den ersten Jahren nicht korrigiert werden, um den Schülern nicht den Spaß am Schreiben zu nehmen. In der Reinform wird diese Methode in den Schulen aber kaum mehr unterrichtet. Wird von der Methode auch etwas bleiben? Ja, die Anlauttabelle beispielsweise hat in vielen aktuellen Lehrbüchern ihren festen Platz. Auch pädagogische Ansätze wie der Werkstattunterricht oder offener Unterricht werden sicher weiterhin praktiziert.

Worin bestand der Irrtum der Methode Lesen durch Schreiben?

Reichen ging davon aus, dass die Schüler selbstgesteuert schreiben lernen, wenn sie bestimmte Lernangebote bekommen und aktiver am Lernprozess teilhaben. Der Schriftspracherwerb ist seiner Meinung nach stark implizit. Das sieht man heute nicht mehr so.

Was heißt das – »implizit«?

„Implizites Wissen“ besagt, dass wir Generalisierungen ableiten, ohne dass uns jemand die Regel erklärt. Die Rechtschreibvermittlung ist aber vor allem explizit. Schülerinnen und Schüler lernen im Unterricht, wie bestimmte Laute oder Wörter verschriftlicht werden.

Grammatikwissen wird beim Erstspracherwerb implizit gelernt.

Richtig. Der Spracherwerb des Kleinkindes erfolgt implizit, es lernt die Sprache ohne Anweisung, also ungesteuert. Schreiben hingegen ist eine Kulturtechnik, die vermittelt werden muss. Die Fehlannahme von „Lesen durch Schreiben“ ist, dass alle Kinder in der Lage sind, sich die Regularitäten, denen die Schriftsprache unterliegt, selbst beizubringen. Das klappt bei guten Schülern, bei Schülern mit mehr Unterstützungsbedarf aber nicht.

Welche Faktoren spielen hier eine Rolle?

Neben dem didaktischen Ansatz ein ganzes Bündel: Wie ist die Lesesozialisation zu Hause? Wie groß ist der Wortschatz des Kindes? Wie weit ist die phonologische Bewusstheit entwickelt? Möglicherweise spielt auch das Geschlecht indirekt eine Rolle, denn Mädchen lesen meist ein bisschen häufiger als Jungs.

Ist ein nichtdeutschsprachiges Elternhaus per se ein Nachteil beim Schriftspracherwerb im Deutschen?

Die Mehrsprachigkeit an und für sich spielt keine negative Rolle, aber vermittelt durch die sozialen Faktoren finden wir in der Gruppe der lese-rechtschreibschwachen Schüler doch mehr mit Migrationshintergrund.

Hat das richtige Schreiben noch immer einen so hohen Stellenwert?

Im Zuge der Rechtschreibreform hatte man den Eindruck, dass immer mehr Leute denken, es ist ja eh egal, wie ich schreibe. Ich würde schon sagen, dass das Rechtschreiben immer noch einen hohen Stellenwert hat – bei Bewerbungen zum Beispiel. Rechtschreiben wird von den meisten Menschen assoziiert mit Intelligenz, Bildung und weiteren positiven Merkmalen über den Status der Person.

Mit welcher Methode lernen die meisten Kinder gut lesen und schreiben?

Die eine richtige Methode gibt es gar nicht. Dafür sind die Kinder zu verschieden. Und es hängt davon ab, was der Deutschunterricht leisten soll. Manche Lehrkräfte legen viel Wert auf das richtige Schreiben und greifen zu Lehrwerken, die das sehr strukturiert und systematisch erarbeiten. Systematik ist vor allem für Kinder wichtig, die ungünstigere Voraussetzungen haben. Sie brauchen gute Erklärungen, sie brauchen Zeit, darüber nachzudenken und sich Zusammenhänge zu erschließen, um die Rechtschreibung zu „entdecken“.

Die Kinder sollen aber auch schon früh selber argumentieren, Ergebnisse präsentieren, Texte verstehen.

Das bleibt natürlich auf der Strecke, wenn sich die Lehrkraft stark auf Rechtschreibung konzentriert.

Dann ist die richtige Rechtschreibung auch ganz einfach ein Zeitproblem?

Ja, das ist in der Forschung unstrittig: Der Deutschunterricht ist mit den Jahren immer voller geworden, es kamen immer mehr Inhalte hinzu. Für das Üben der Rechtschreibung fehlt dann eben die Zeit. Kinder sollen nun beispielsweise auch präsentieren und argumentieren lernen.

Ist das nicht die falsche Reihenfolge?

Die grundsätzlichen Lernziele legen die Lehrpläne fest, und da steht das Präsentieren und Argumentieren nicht an vorderster Stelle. Trotzdem muss man sich fragen: Wie früh sollen Kinder kleine Texte schreiben, Texte lesen und erarbeiten? Die Prioritäten zu setzen, das ist die Aufgabe der Lehrkraft.

Aus Ihrer Sicht sollte man lieber später mit der Texterstellung anfangen?

Ich würde die Textebene nicht ausklammern vom Anfangsunterricht. Die Kinder wollen ja auch Texte lesen und schreiben, nicht nur Einzelwörter. Aber die Vermittlung von Orthographie ist auf jeden Fall sehr wichtig. Mich irritiert, dass die Rechtschreibleistungen immer schlechter werden. Die Schreibung von Doppelkonsonanten zum Beispiel in Wörtern wie „Mitte“ wird oft nicht sicher beherrscht. Das ist beunruhigend, denn da kann man den Schülern tatsächlich sehr gute Unterstützung geben.

Das lernen die angehenden Lehrkräfte an der Uni.

Ja, natürlich müssen wir an der Uni vermitteln, wie die Schreibprinzipien sind und wie Schüler dabei unterstützt werden, sie zu lernen. Wann man einen Doppelkonsonanten schreibt, ist recht eindeutig geregelt im Deutschen. Die Rechtschreibung muss meiner Meinung nach nicht unbedingt nur mehr, sondern auch anders thematisiert werden. Dass viele Schüler nicht wissen, wie Portemonnaie geschrieben wird, das ist nicht so schlimm. Wichtig ist, dass sie die Wörter richtig schreiben, die sie sich systematisch erschließen können, weil es Regeln dazu gibt. Und das kommt in der Schule oft zu kurz.

Trägt das Prinzip »Lesen durch Schreiben« eine Mitverantwortung dafür, dass die orthographischen Kenntnisse zurückgegangen sind?

Empirische Studien führen die schlechter werdenden Leistungen unter anderem auf Ansätze zurück, die zu wenig systematisch sind. Dazu gehört auch „Lesen durch Schreiben“. Man setzt zu viel auf implizites Lernen, gibt zu wenig Unterstützung, lässt die Kinder mit ihren Schwierigkeiten allein. Der grundsätzlich falsche Gedanke dabei ist, dass man hören kann, was man schreiben muss. Wenn Kinder versuchen, so zu schreiben, wie sie sprechen, und schreiben ein Wort falsch, dann heißt es: „Hör doch mal genau hin und schreib‘s noch mal“. Aber sie hören das Wort nicht anders als vorher. Das ist das Problem: Die Kinder sollen zur Fehlerkorrektur Strategien verwenden, an denen sie schon einmal gescheitert sind.

Merken Sie bei Studentinnen und Studenten auch eine Verschlechterung der Kenntnisse?

Tatsächlich bräuchten einige Studierende selbst noch Rechtschreibunterricht. Häufig sind Kommafehler, aber wir sehen auch Probleme in der Groß- und Kleinschreibung und Getrennt- und Zusammenschreibung. Die Ausdrucksfähigkeit ist manchmal auch ziemlich schwach. Erwarten Sie nun eine Aufwertung des Themas Rechtschreibung? Offenbar möchte man der Rechtschreibung einen höheren Stellenwert beimessen. Hessen ist ja nicht das einzige Bundesland, das ein Verbot von „Lesen durch Schreiben“ ausgesprochen hat. Ich glaube nicht, dass Orthographie den Ländern vorher nicht wichtig war, aber es war wohl nicht klar, wie schwierig es für manche Kinder ist, richtig schreiben zu lernen.

Die Fragen stellte Anke Sauter.

Dieser Beitrag ist in der Ausgabe 1/2022 (PDF) des UniReport erschienen. 

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