Manchmal hilft nur ein »Trüffelschwein«

Über Ordnung und Unordnung in der Universitätsbibliothek

von Jonas Krumbein

Mit mehr als elf Millionen gedruckten und digitalen Medien zählt die Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg zu den größten Universitätsbibliotheken in Deutschland. Wie hält das Bibliotheksteam den gewaltigen Bestand in Ordnung? Wie werden die gesuchten Informationen auffindbar gemacht?

Angela Hausinger, Stellvertretende Direktorin der Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg, begrüßt in ihrem Büro im ersten Obergeschoss des Hauptgebäudes der Zentralbibliothek an der Bockenheimer Warte. Der dreistöckige Bau mit dem schlichten Erscheinungsbild einer Industriehalle stammt von Ferdinand Kramer, einem der Architekten des »Neuen Frankfurt« der 1930er Jahre. Von den Nationalsozialisten mit Arbeitsverbot belegt, emigrierte Kramer 1938 in die USA, wo er Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, die Köpfe des Frankfurter Instituts für Sozial­forschung, kennenlernte. Als Horkheimer nach dem Zweiten Weltkrieg als Rektor an die Goethe-­Universität zurückkehrte, wurde Kramer Universitätsbaumeister. Heute liegt der Nachlass Horkheimers in Kramers Bibliotheksbau, welcher wegen seines an amerikanische Bibliotheks­gebäude erinnernden Systems aus Lesesälen und Studienkabinen bei seiner Eröffnung 1965 als modernste Bibliothek Europas gefeiert wurde und heute unter Denkmalschutz steht. Für Hausinger und ihr Team ist der Kramer-Bau jedoch ein Auslaufmodell, denn irgendwann in den nächsten Jahren soll die Zentralbibliothek auf den Campus Westend ziehen. Eine Mammutaufgabe für die Beschäftigten der Bibliothek.

In Konkurrenz zu Google

Hausinger sieht die Universitätsbibliothek auch im Tagesgeschäft vor ganz großen Aufgaben: »Die Digitalisierung erzeugt eine Flut an Daten, die sich niemals in Gänze katalogisieren lassen. Google aber erweckt den Eindruck, jede Suchanfrage beantworten zu können. Als Universitätsbibliothek stehen wir in Konkurrenz zu Google.« Google, die Weltmarke unter dem Dach von Alphabet, einem der profitabelsten, teuersten und innovativsten Unternehmen der Welt. Einem Unternehmen, das Milliarden Dollar in Künstliche Intelligenz investiert. Wie will Hausinger in dieser Konkurrenz bestehen, wie will sie Studierende und Forschende überzeugen, dass die Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg ihre Suchanfragen teilweise qualitativ besser beantworten kann? »Mit der Kernkompetenz von Bibliotheken«, sagt Hausinger: »Wir versuchen, in der Flut der Informationen einen Weg – jenseits von Fake News – zu qualitätsgesicherten Informationen zu bieten, und helfen Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden.«

Ein Katalogsystem, das nur noch findet, was Nutzende wirklich suchen

Wer »Thomas Mann« in die Suchmaske von Google oder eines herkömmlichen Bibliothekskatalogs eingibt, erhält nicht nur Ergebnisse zum Literaturnobelpreisträger. Angezeigt werden alle Personen namens Thomas Mann, die publiziert oder auf andere Weise im Internet Spuren hinterlassen haben. Das wären zum Beispiel ein US-amerikanischer Schauspieler, ein deutscher Rechts- und Wirtschaftswissenschaftler sowie gleich zwei Politiker. Wer für ein Referat oder Forschungsprojekt zum Schriftsteller Thomas Mann recherchiert, muss in solchen Fällen also zunächst einmal filtern. »Ambiguitäten aussortieren« nennt das Bibliotheksmitarbei­terin Franziska Voß. Die studierte Theater­wissenschaftlerin arbeitet für die Universitäts­bibliothek Johann Christian Senckenberg an einem kollaborativen Katalogisierungssystem, der sogenannten Gemeinsamen Normdatei (GND), ein Wissensknotenpunkt im Netz. »Normdaten«, so schreiben die Projektverantwortlichen, ein Konsortium unter Führung der Deutschen Nationalbibliothek, »dienen der sicheren Identifikation der Entitäten, die sie beschreiben. Sie stellen damit die Disambiguierung von gleichnamigen Entitäten sicher.« Mit anderen Worten: Wer zum Literatur­nobelpreisträger Thomas Mann recherchiert, soll keinen anderen Thomas Mann angezeigt bekommen. Und das funktioniert so: Personen wie der Literaturnobelpreisträger Mann, Körperschaften wie ein Schauspielhaus oder sogenannte Geografika wie die Stadt Lübeck erhalten eine Kennung, die sie eindeutig markiert: die GND-ID. Auch Sachbegriffe wie der Erste Weltkrieg oder Werke wie Thomas Manns Gesellschaftsroman »Buddenbrooks« lassen sich mit der in Bibliothekskatalogen integrierten ID finden. Und wenn Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen Thomas Manns Romane und ihre Bearbeitung fürs Theater auf einer Konferenz diskutieren und die Ergebnisse in einem Tagungsband veröffentlichen, erhält auch dieser eine GND-ID.

AUF DEN PUNKT GEBRACHT
  • Die Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg gestaltet Zugänge im digitalen Wissensnetz, indem sie für Nutzergruppen wie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler relevante Bestände durch maßgeschneiderte Services zugänglich macht. Ein Beispiel ist das Suchportal »Performing Arts«, in dem sich unter anderem Bühnenaufführungen recherchieren lassen
  • Die Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg verfügt über mehr als elf Millionen Medieneinheiten, von denen 8,7 Millionen physische Medien sind. Am Standort Zentralbiblio­thek befinden sich etwa 5,9 Millionen Medieneinheiten (physisch), die zur Ausleihe oder zumindest in einen der Lesesäle bestellt werden können.
  • Ist ein bestelltes Medium im Magazin nicht auffindbar, weil es zum Beispiel falsch einsortiert wurde, und haben Nutzerinnen oder Nutzer dringenden Bedarf angemeldet, kommen Kolleginnen und Kollegen mit besonderer Such­begabung zum Einsatz.

Auch Zirkusprogramme werden auffindbar

Doch die Gemeinsame Normdatei (GND) kann mehr als nur eindeutige Suchergebnisse liefern. Mit ihr kann zum Beispiel Bibliotheksmitarbeiterin Franziska Voß Wissensbestände verknüpfen. Wer zu Manns Buddenbrooks recherchiert, ­findet so etwa auch eine Bühnenfassung des Schriftstellers und Dramatikers John von Düffel. Und sogar externe Wissensbestände wie Wikipedia-Artikel lassen sich über das GND-Verweissystem anklicken.

Doch das genügt Franziska Voß noch nicht. Als Mitarbeiterin der Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg kümmert sie sich gezielt um die Bedürfnisse von Forscherinnen und Forschern – zum Beispiel aus der Theater- und Tanzwissenschaft. In deren Interesse leitet sie die »AG Performing Arts« der GND-Kooperative, in der sich etwa Bibliotheken, Archive, Museen und Gesellschaften der darstellenden Künste zusammengeschlossen haben. Ziel ist es, Bühnenkunst wie Theater­aufführungen oder Zirkusvorstellungen, die in Programm­heften oder Sammlungsobjekten ihren Niederschlag findet, besser auffindbar zu machen. Dazu müssten auch diese Kultur­ereignisse per GND-ID markierbar werden – wie Werke oder Personen.

Ordnung ist das A und O in jeder Bibliothek. Daran arbeiten Franziska Voß, Thorsten Fritze und Angela Hausinger (von links), hier im Lesesaal im zweiten Stock des Kramer-Baus in Bockenheim.

Regeln wie beim Peer-Review-Verfahren

Doch wer eine neue Katalogisierungskategorie und Erfassungsregeln einrichten will, muss zunächst den GND-Ausschuss überzeugen. In diesem Gremium vertreten sind die Deutsche Nationalbibliothek, die deutschsprachigen Bibliotheksverbünde, die Zeitschriftendatenbank (ZDB) und zahlreiche weitere Institutionen. Hier entscheiden Fachleute über Fachfragen, es ist ein System der Selbstverwaltung und Qualitätskontrolle, ähnlich dem Peer-Review-Verfahren, in dem Wissenschaftler Forschungspublikationen vor Veröffentlichung auf die Einhaltung von Standards guter Wissenschaft hin begutachten. Gegenüber ihren Peers im GND-System muss Franziska Voß also begründen, warum es das Ereignis als neue Katalogisierungs- und Suchkategorie im GND-System braucht. Voß argumentiert: »Theaterwissenschaftler interessieren sich für einzelne Aufführungen, etwa, wenn diese Kontroversen oder einen Skandal ausgelöst haben.« Und auch benachbarte Disziplinen würden von einer leichteren Auffindbarkeit von Ereignissen in Bibliotheken, Archiven und Sammlungen profitieren. Etwa eine Historikerin, die sich für lokale Unterschiede in der Rezeption einer Wanderausstellung interessiert.

Die Universitätsbibliothek als digitaler Informationsdienstleister

Die Arbeit von Franziska Voß zeigt, wie wissenschaftsnah, wie spezialisiert, wie digital heute in einer großen Universitätsbibliothek gearbeitet wird, wie digital das Angebot ist – und wie vielfältig Nutzergruppen und -bedürfnisse sind, die das Team der Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg mit knapp 220 Vollzeitstellen bedienen muss. Da sind Fachinformationsdienste wie »Darstellende Kunst«. Mit Angeboten wie dem Suchportal »Performing Arts« führen Franziska Voß und ihre Kolleginnen des Fachdienstes bislang schwer zugängliche Wissensressourcen etwa aus Archiv-, Sammlungs-, Museums- und Bibliotheksbeständen zusammen und machen sie am heimischen Computer abrufbar. Mehr als 40 solcher Fachinformationsdienste für verschiedene Wissenschaftsdisziplinen von Afrikastudien über Bio­diversitätsforschung bis zur Theaterwissenschaft fördert die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) bundesweit, sechs von ihnen allein an der Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg.

Die Vielfalt von Aufgaben in einer modernen Universitätsbibliothek spiegelt sich auch im Kollegium wider, in dem Fachleute für Bibliothekswesen ebenso zu finden sind wie für die verschiedensten Fachwissenschaften und die Informationstechnologie. Gemeinsam sorgen sie für eine ­forschungsnähere Informations­infra­struktur. »Technologien und Konzepte wie Linked Data oder Natural Language Processing werden adaptiert und in fachspezifische Angebote integriert«, erläutert Thorsten Fritze, Softwareentwickler im Fachinformationsdienst Linguistik.

Die Möglichkeit, dass Wissenschaftler Forschungsdaten aus Experimenten, Messungen, Simulationen oder Umfragen eingeben, ablegen und veröffentlichen können, etwa im Rahmen des Goethe University Data Repository (GUDe), ist für die Universitätsbibliothek eine folgerichtige Erweiterung des Aufgabenbereichs, gehorcht doch das Katalogisieren von Forschungsdaten ähnlichen Regeln wie jenes von Büchern. Und selbst die ordnet die Universitätsbibliothek schon seit rund 50 Jahren nicht mehr mithilfe von Zettelkatalogen, sondern mittels einer Datenbank, die den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern etwa Auskunft darüber gibt, welche Werke verliehen sind und wer sie ausgeliehen hat. Und die den Nutzerinnen und Nutzern die Möglichkeit bietet, mit wenigen Mausklicks Online-Ressourcen aufzurufen, bereits Verliehenes vorzumerken und Bücher aus den Magazinen zur Ausleihe oder in die Lesesäle zu bestellen.

Unordentliche Erinnerungen aus dem Leben eines Bibliothekars

Bibliotheken sind oder basieren immer auf Sammlungen. Und Sammlungen kann man ordnen – oder eben auch nicht. Meine Sektkorken-Sammlung zum Beispiel: einst in Sekt-Laune begonnen, lungern die Korken unsortiert in einem großen Glas herum. Ordnen oder sortieren muss man die nicht, sie werden irgendwann eh als Dämmstoff verwendet (?). Anders die Briefmarkensammlung meiner Jugendzeit: Die ist ohne Ordnung kaum vorstellbar, auch wenn kein einziges Mädchen mich ihretwegen zu Hause besucht hat.

Eine Bibliothek ist auch so eine Sammlung, die man sich ohne Ordnung nicht vorstellen kann. Lange Zeit basierte die Katalogordnung in deutschen Bibliotheken auf den »Preußischen Instruktionen« (PI). Die enthielten zahlreiche Regelungen und Vorschriften, wie Bücher zu katalogisieren seien. Die PI wurden kurz vor 1900 entwickelt und fanden noch in den 1980er Jahren rege Anwendung. Da musste man bei der Katalogisierung von Büchern zum Beispiel noch Appositionen und das »erste sinntragende Substantiv im Nominativ« berücksichtigen. Inzwischen ist das Regelwerk, das über die Katalogisierung in Bibliotheken entscheidet, international und nennt sich »Resource Description and Access« (RDA). Und natürlich sind es nicht weniger, sondern viel mehr Regeln geworden.

Aber ob PI oder RDA – wenn der mensch­liche Faktor hinzukommt, werden zuweilen auch die strengsten Regeln außer Kraft gesetzt. So gab es in der Frankfurter Universitätsbibliothek in den 1960er Jahren einen Bibliothekar, der sein eigenes Süppchen kochte. Er war ­spezialisiert auf »Frankfurt-Literatur«, sein Sammeltrieb war kaum zu bremsen. Wenn in einer Ausgabe einer Zeitschrift ein spannender Beitrag über Frankfurt war, so holte er diese aus dem allgemeinen Zeitschriftenmagazin, stellte sie in den Katalog der »Sammlung Frankfurt« ein – und fortan war das Heft für alle ­anderen Nutzer­anfragen nicht auffindbar. Erst viel später fiel das auf, die Ordnung wurde ­wiederhergestellt.

Großen Sammeleifer lebte schon ein Vorgänger dieses Kollegen aus: Arthur Richel, von 1906 bis 1933 Leiter der »Abteilung Frankfurt« der Stadtbibliothek, die ja die Vorgängerin der Uni­bibliothek war. Herr Richel sammelte einfach alles, was ihm in die Hände fiel und was mit Frankfurt zu tun hatte. Die Regel, dass Bibliotheken nur Bücher und Zeitschriften, eventuell noch Landkarten sammeln, interessierte ihn dabei offenbar nicht. Deshalb findet man bis heute in der »Sammlung Frankfurt« noch einzigartige Konvolute wie das zur »Internationalen Luftschiffahrt-Ausstellung 1909« in Frankfurt: Büchlein, Broschüren, Faltblätter, Schreiben des Organisationskomitees, Eintrittskarten, Arm­binden von Ordnungskräften und, und, und.

Derlei »Spezialsammlungen« sind in einer großen Bibliothek keine Seltenheit. Sie harren des entdeckenden Auges sowie der ordnenden Hand einer Bibliothekarin, eines Praktikanten, einer Professorin oder eines Studenten. Der Zeitpunkt ihrer Entdeckung ist nicht absehbar und entzieht sich jeder Ordnung. Nur ein paar Beispiele aus unserer Universitätsbibliothek: mehrere Tausend Exlibris, Tarnschriften aus der NS-Zeit, lithografierte Korrespondenzen aus der Revolutionszeit 1848 / 49, Erinnerungsstücke an Musik- und Theaterleute…

Aber vielleicht ist die alte Ordnung auch ein Auslaufmodell, und unsortiert herumstehende Bücher sind bald kein Schock mehr für das Bibliothekarsgemüt. Wer acht Millionen Bände sortiert aufstellen will, benötigt natürlich viel Magazinfläche. Ungenutzte Magazinfläche muss frei gehalten werden, um Neuzugänge unterzubringen, die nach der bestehenden Ordnung genau dort hingehören. Aber muss das so sein? Ein Gegenmodell ist die organisierte Unordnung, die »free floating library«: Die Bücher haben keinen festen Platz im Magazin. Ein neues Buch oder ein Buch, das von der Nutzung im Lesesaal zurückkommt, wird einfach auf den nächsten freien Platz gestellt. Library 4.0 macht’s möglich: Das elektronische Bibliotheksverwaltungssystem muss sich immer neu merken, wo das jeweilige Buch nun steht. Erfolgreiche Handelsriesen verfahren in ihren Lagern auf ähnliche Weise. Ob im künftigen Neubau der UB Frankfurt »free floating books« die Regel werden?

Bernhard Wirth

Wo suchen nach verstellten Büchern?

Doch nicht immer kann die Universitätsbibliothek »liefern«, nicht immer sind Bücher oder Zeitschriftenbände dort, wo sie sein müssten. Dann schlägt die Stunde der »Trüffelschweine«. So nennen sie scherzhaft in der Zentral­bibliothek Kolleginnen und Kollegen mit der besonderen Begabung, Verstelltes wiederzu­finden. Zum Beispiel Michaela Schöneborn. Sie hat an der Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg eine Ausbildung zur Fachangestellten für Medien- und Informationsdienste absolviert und arbeitet nun im Team Information der Zentralbibliothek. Wo sich verstellte Bücher befinden könnten, verrät Schöneborn allerdings ihre Erfahrung und Intuition.

An einem Montag im August eilt sie durch klimatisierte, gefühlt kilometerlange Gänge im Untergrund des Bibliotheksgebäudes. Hier im Magazin lagern Bände, bis sie jemand bestellt. Schöneborn hält drei Suchzettel in der Hand. Vermisst werden ein Band mit dem slowakischen Titel »Atlas krkonosských mechorostu a hub«, ein Buch über eine Militärintervention Kenias in Somalia sowie ein Heft über die Zwangsräumung und Zerstörung kurdischer Dörfer durch türkische Sicherheitskräfte. Heft und Buch sind noch auf Bibliothekskonten von Nutzern verbucht, doch beide behaupten, die Werke zurückgegeben zu haben. Der »Atlas« sollte sich eigentlich im Magazin befinden, war jedoch bei der ersten Suche nicht aufzufinden. »Nach zwei Bestellungen oder wenn Nutzer dringenden Bedarf an einem Werk anmelden, forschen wir nach«, erläutert Schöneborn die Kriterien dafür, dass einer der Millionen Bibliotheksbände zum Suchfall wird.

Einst das modernste Bibliotheksgebäude Europas, steht der Kramer-Bau heute unter Denkmalschutz. Die Zentralbibliothek soll in den kommenden Jahren einen Neubau auf dem Campus Westend erhalten.

Per Fahrrad zum Bücherregal

In den langen unterirdischen Gängen des Magazinbereichs stehen Millionen Bücher in unendlich scheinenden Regalreihen. Zutritt haben nur Mitarbeitende. Wer weniger gut zu Fuß ist als Michaela Schöneborn oder es noch eiliger hat, nimmt das Rad. In der Stille der Magazine gut vernehmbare Geräusche und der Dienstplan verraten, ob mit Gegenverkehr zu rechnen ist.

Auf der Suche nach den drei Büchern schaut Schöneborn am vorgesehenen Standort nach rechts und links, oben und unten – vergeblich. Als Nächstes folgt Schöneborn der Fährte der Zahlendreher. Bei dem Atlas – Signatur 90.874.19 – schaut sie am Standort 90.874.91. Wieder vergeblich. Da kommt ihr eine neue Idee: »Atlas«, das klingt doch nach einem großen Buch. Und große Bücher können in der Zentralbibliothek mit dem Buchstaben »Q« (für Quartformat) gekennzeichnet sein. Doch wenn Bücher nach Augenmaß auf Rollwägen gestapelt werden, um sie zu ihren Standorten zu fahren, kann schon mal ein Band in die Kategorie »Q« geraten, der dort nicht hineingehört. Schöneborn strebt also vorbei an Bücherregalen, durch Gänge, über Treppen, auf und nieder, ins sogenannte Zeppelin-Magazin, das so heißt, weil es unter der ­Zeppelinallee und über der U-Bahn-Line 4 gelegen ist. Fährt ein Zug vorbei, vibriert hier der Boden. Es riecht nach Staub und alten Lederbänden. Bei Q 90.874.19 stoppt sie und tatsächlich, da steht er: »Atlas krkonosských mechorostu a hub«, ein slowakischer Pilzatlas. »Ist tatsächlich recht groß«, sagt Schöneborn, »vielleicht bekommt der doch noch ein ›Q‹ zu seiner Signatur, damit er nicht noch mal verstellt wird.« Doch zunächst geht der Pilzatlas ans Ausleihbüro – und die frohe Botschaft an den Nutzer: Der Band ist gefunden.

Die anderen beiden Bücher wird Schöneborn an diesem Tag nicht mehr zu Gesicht bekommen. Und weil beide bereits zum dritten Mal gesucht wurden und im Ausleihsystem nicht als Rückgaben erfasst sind, werden aus »Suchfällen« nun »Buchersatzfälle«. So heißt das, wenn derjenige, auf dessen Bibliothekskonto das Buch verbucht ist, den Verlust ersetzen muss. Das muss nicht immer teuer werden. »Wir raten dazu, verlorene Bücher selbst nachzukaufen. Das ist meist günstiger, weil wir auch gebrauchte Exemplare als Ersatz akzeptieren, falls sie in gutem Zustand sind«, sagt Michaela Schöneborn. Mit ihrer Suchbilanz heute ist die Bibliotheksangestellte zufrieden. Immerhin hat »Trüffelschwein« Schöneborn den verstellten Pilzatlas gefunden und im gewaltigen Bestand von rund elf Millionen Medien ein Stück Ordnung geschaffen.

Der Autor

Jonas Krumbein, Jahrgang 1985, hat in Freiburg und Durham (England) Geschichts- und Politikwissenschaft studiert und arbeitet nebenberuflich als freier Journalist.

j.m.krumbein@icloud.co

Der Autor

Bernhard Wirth, geboren 1964, ist Diplom-Bibliothekar und leitet die Stabsstellen Personalentwicklung und Öffent­lichkeitsarbeit an der Universitätsbibliothek.

b.wirth@ub.uni-frankfurt.de

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