Quantensprünge in der Materialforschung

Wie im Labor und am Computer Kristalle mit überraschenden ­Eigenschaften entstehen

Unter dem Schutz von Edelgasen entstehen im Herzen dieser Apparatur Kristalle nach dem Czochralski-Verfahren: In eine Schmelze wird ein Metallstab mit einem Impfkristall eingetaucht und dann langsam wieder herausgezogen, sodass das Material knapp unterhalb des Schmelzpunkts kristallisieren kann.

Seit hundert Jahren ist bekannt, dass die mikroskopische Welt der Atome und Moleküle von den Gesetzen der Quantenphysik regiert wird. Lange Zeit galten Quantenphänomene als verworren und unkontrollierbar. Heute arbeiten Physikerinnen und Physiker daran, unter Nutzung quantenphysikalischer Effekte Materialien mit neuartigen Eigenschaften zu kreieren.

Am Physikalischen Institut auf dem Campus Riedberg im Norden Frankfurts hat ­Cornelius Krellner sein Büro. Der Physikprofessor dreht sich auf seinem Stuhl nach hinten und öffnet die Tür eines senffarbenen Schranks. Er lächelt schelmisch über seinen verborgenen Schatz. »In dem Schrank haben wir praktisch alle chemischen Elemente in Reinstform«, sagt Krellner. Es ist eine Sammlung, die man eher bei einem Chemiker erwarten würde. In diesem Fall nutzt ein Experimentalphysiker die chemischen Elemente für seine Forschung. Er stellt aus ihnen Kristalle her, also Stoffe, in denen die Atome in regelmäßiger Abfolge angeordnet sind. »Kristalle eignen sich dank ihrer geordneten Struktur in besonderer Weise, den atomaren Aufbau der Materie zu verstehen«, sagt Krellner.

Quantenmaterial Supraleiter

Cornelius Krellner erforscht Quantenmaterialien. In einem gewissen Sinn ist jeder Stoff der materiellen Welt ein Quantenmaterial. Jeder Stoff besteht nämlich aus Atomen, und deren Bausteine gehorchen den Gesetzen der Quantenphysik. Die Wissenschaft definiert »Quanten­material« aber enger: Hier bezeichnet der Begriff Materialien, deren makroskopische Eigenschaften auf Quanteneffekten beruhen. Das prominenteste Beispiel sind Supraleiter. In diesen Materialien fließt elektrischer Strom – anders als in den uns bekannten Kupferleitern – ohne Widerstand. Warum das so ist, erklärt die Quantenphysik: Elektronen bewegen sich in Supraleitern verlustfrei, weil sie sich zu flinken, durch nichts zu bremsenden Paaren verbinden.

Supraleiter faszinieren, denn sie könnten in Zukunft eine Stromversorgung ohne Über­tragungsverluste ermöglichen. So erstaunt es wenig, dass die Forschung nach anderen Quantenmaterialien Ausschau hält, die ähnlich nützliche Eigenschaften besitzen. Cornelius Krellner hat schon mehrere solcher Materialien her­gestellt. Der gebürtige Dresdner nennt beispielhaft ein Quantenmaterial, das durch seine ­magnetischen Eigenschaften verblüfft: Der Stoff verliert seine magnetische Kraft, wenn man ihn zusammenpresst. Um das Material zu kristallisieren, benutzte Krellner drei Elemente aus ­seinem senffarbenen Schrank: Europium, Palla­dium und Silizium. Diese Elemente bilden einen Kristall, ein regelmäßiges Gitter aus ­Einheitszellen. Jede Einheitszelle besteht aus einem Europium-Atom und jeweils zwei Palladium- und Silizium-Atomen. Die chemische Formel EuPd2Si2 ist zugleich der Name des Quantenmaterials: »Europium Palladium zwei Silizium zwei«.

Ein Elektron macht den Unterschied

»Die interessante Physik steckt im Europium«, sagt Cornelius Krellner. Um zu erklären, warum dieses Material bei Drücken seinen Magnetismus einbüßt, nimmt er den Journalisten mit auf eine Reise in die mikroskopisch kleine Welt der Atome. Europium ist ein Metall der Seltenen Erden. Um den Atomkern tummeln sich 63 Elektronen. Sie sind auf sechs Schalen beziehungsweise 13 Unterschalen verteilt. Die Unterschale, die ein Elektron belegt, definiert den Abstand zum Atomkern und seinen Energie­zustand. Für den Magnetismus von Europium ist ein einziges der 63 Elektronen verantwortlich: ein 4f-Elektron. Es heißt so, weil es normalerweise auf der Unterschale 4f zu Hause ist. Wird der Kristall nun aber zusammengepresst, springt das Elektron von 4f auf Unterschale 5d.

Obwohl sich sein Energiezustand nur unmerklich ändert, hat dieser quantenphysi­kalische Vorgang für das Europium zwei einschneidende Folgen: Es schrumpft um rund 20 Prozent – und es verliert seinen Magnetismus. Durch äußeren Druck wird der ganze EuPd2Si2­Kristall also nichtmagnetisch. Entfällt der Druck, kehren die Elektronen von der Unterschale 5d auf ihren angestammten Platz zurück; der Kristall wird wieder magnetisch. In der Fachsprache der Physik: Durch eine Manipulation von außen vollziehen Quantenmaterialien einen »Phasenübergang« zwischen zwei »Quantenzuständen«. Damit sich dieser Effekt zeigt, muss der EuPd2Si2-Kristall auf minus 100 Grad Celsius abgekühlt werden.

AUF DEN PUNKT GEBRACHT
  • Bei tiefen Temperaturen können sogenannte Quantenmaterialien zum Beispiel Strom verlustfrei leiten (Supraleiter), andere verlieren unter Druck ihren Magnetismus.
  • Physikerinnen und Physiker versuchen Kristalle so zu züchten, dass sie als Quantenmaterialien bei einer Verformung etwa ihre elektrischen oder magnetischen Eigenschaften verändern.
  • Theoretische Physikerinnen und Physiker komplettieren diese Arbeiten mit mathematischen Modellen, die zeigen, wie neue Quantenmaterialien aussehen könnten.

Die Frage nach dem Warum

Cornelius Krellners Gruppe umfasst 15 Forschende und Studierende. Sie untersuchen gegenwärtig ein Dutzend Quantenmaterialien, die durch Drücken, Biegen oder Dehnen ihre magnetischen, aber auch ihre elektrischen oder weitere Eigenschaften verändern. »Ein Material untersuchen wir typischerweise zwei bis fünf Jahre«, berichtet Krellner. »Wir suchen Materialien, die so interessante Eigenschaften zeigen, dass andere Forschungsgruppen weltweit sich mit diesen Materialien vertieft befassen wollen.« Anders ausgedrückt: Die Quantenmaterialen aus dem Frankfurter Physiklabor sind nicht dafür gedacht, morgen schon eine neue Generation von Hightech-Anwendungen zu ermög­lichen. Die Forschung schafft vielmehr das grundlegende Verständnis, das erforderlich ist, um Quantenmaterialien mittel- und langfristig kommerziell zu nutzen.

Für ihre Experimente verwendet die Forschungsgruppe eine Armada von Spezialgeräten. Mit ihnen vermessen sie magnetische Momente, elektrische Ströme, thermodynamische Eigenschaften, den atomaren Aufbau des Kristallgitters, auch spezielle Zustände, die die Elektronen an der Oberfläche der Materialproben zeigen. Doch all diese Messwerte verraten ihnen nicht, warum Quantenmaterialien diese verblüffenden Eigenschaften zeigen. Die Frage nach dem Warum beantwortet in Frankfurt eine theoretische Physikerin. Sie hat ihr Büro wie Cornelius Krellner im Physikgebäude, allerdings in einem entfernten Flügel. Dort arbeitet Roser Valentí, Professorin für theore­tische ­Physik. In ihrem Büro gibt es eine Wandtafel, voll beschrieben mit mathematischen Sym­bolen. »Die Tafel brauchen wir für die ­Diskussionen in meiner Forschungsgruppe«, sagt Valentí.

Doktorandin Katharina Zoch legt einen der winzigen im Labor gezüchteten Kristalle (s. Bildschirm) unter ein Auflichtmikroskop.

In der Sprache der Quantenphysik

Die Wissenschaftlerin spanischer Herkunft betreut ein Dutzend Postdocs, Promovierende, Master- und Bachelorstudierende. Die Forschungsgruppe arbeitet nicht mit Laborgeräten wie das Team um Cornelius Krellner, sondern mit Gleichungen. Die mathematischen Werkzeuge wurden in den 1920er Jahren von Physikern wie Erwin Schrödinger und Paul Dirac erdacht. Mit ihnen lassen sich Elektronen, die in Quantenmaterialien eine zentrale Rolle spielen, exakt beschreiben, und zwar mit Wellenfunk­tionen. Das klappt, weil Elektronen nach dem Verständnis der Quantenphysik Mischwesen aus Teilchen und Wellen sind.

Die Forschungsgruppe von Roser Valentí führt ihre Untersuchungen unter anderem an Kristallen durch, die in den Labors von Cornelius Krellner vermessen wurden. Die Informationen aus den Messungen übertragen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in Gleichungen, die anschließend gelöst werden. Dadurch verstehen sie, warum sich Kristalle so verhalten, wie sie sich verhalten, sagt Roser Valentí: »Aus den Lösungen der Gleichungen können wir ableiten, welche Wechselwirkungen der Elektronen untereinander beziehungsweise mit den Nachbaratomen des Kristallgitters die Eigenschaften des untersuchten Quantenmaterials hervorrufen.« Um solche Gleichungen zu lösen, braucht es ausgeklügelte mathematische Lösungswege, die Roser Valentí mit entwickelt hat. Es braucht zudem Computer mit großer Rechnerleistung.

Modell und Kristall: Bei minus 100 Grad Celsius büßt dieser Kristall namens »Europium-Palladium-zwei-Silizium-zwei« (EuPd2Si2, auf Millimeterpapier liegend) unter Druck seine magnetischen Eigenschaften ein. Wie es zu dieser Eigenschaftsänderung kommt, ergründet die theoretische Physikerin Roser Valentí. Im Modell der Kristall-Einheitszelle sind die Europiumatome rot, die Palladiumatome blau und die Siliziumatome weiß gefärbt.

Neue Materialien aus der Küche der Theoretiker

Quantenmaterialien zu verstehen, ist das eine. Die theoretischen Physikerinnen und Physiker gehen noch einen Schritt weiter. Sie stellen Vermutungen an, wie ein bisher nicht existierendes Quantenmaterial zusammengesetzt sein müsste, damit es bestimmte Eigenschaften annimmt. Ihre Ideen spielen sie zurück an die Experimentalphysiker. Diese versuchen, die fraglichen Kristalle herzustellen und die vorhergesagten Eigenschaften zu messen. So wurde zum Beispiel in EuPd2Si2 das Silizium teilweise durch das verwandte Germanium ersetzt. Es zeigte sich: Auch dieses Material verliert durch Druck seinen Magnetismus, allerdings bei einer um 50 Kelvin niedrigeren Temperatur.

Das Pingpong zwischen Theorie und Experiment wurde erst möglich, weil experimentelle Physiker wie Cornelius Krellner in den vergangenen Jahren große Fortschritte bei der Züchtung von Kristallen erzielt haben. Wie groß diese Fortschritte sind, verdeutlicht das Beispiel von EuPd2Si2: Das Material ist seit vier Jahrzehnten bekannt, die Züchtung von Kristallen, mit denen sich gut experimentieren lässt, gelang aber erst vor sechs Jahren. Die Frankfurter Forscherinnen und ­Forscher nutzen für die Kristallherstellung die Czochralski-Methode: Die Kristalle werden hierbei aus einer Schmelze gezogen, quasi wie beim Kerzenziehen. Das auf 1400 °C erhitzte Stoffgemisch ist so aggressiv, dass ihm kein Behälter standhält. Deshalb muss die Schmelze durch elektromagnetische Kräfte in der Schwebe gehalten werden, damit die Kristallzüchtung gelingt.

Forschungsverbund Elasto-Q-Mat

Bei allen Schwierigkeiten der praktischen Umsetzung: Quantenphänomene werden heute in vielen Fällen verstanden, und sie sind beherrschbar geworden. Damit rückt auch ihre technische Nutzung immer näher. Im Jahr 2022 ging der Physik-Nobelpreis an drei Forscher, die mit ihren Arbeiten die Grundlagen für die Quantentechnologie gelegt haben. Sie schufen die Voraussetzung für die Nutzung von Quantenphänomenen in Computern, in der Verschlüsselungstechnik oder in Sensoren. Das alles sind mögliche Einsatzgebiete, die ebenfalls von den Arbeiten der Quantenmaterial-Forscher Roser Valentí und Cornelius Krellner profitieren könnten.

Das Frankfurter Duo arbeitet seit zwei Jahren unter dem Dach des überregionalen Sonderforschungsbereichs Elasto-Q-Mat, der durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft gefördert wird. Der Forschungsverbund untersucht Quantenmaterialien, die ihre Eigenschaften ändern, wenn sie elastisch verformt werden. Unter der Federführung der Goethe-Universität und der Sprecherschaft von Roser Valentí arbeiten 18 Gruppen aus Forschungseinrichtungen in Mainz, Karlsruhe und Dresden mit. Wenn alles rund läuft, haben die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler weitere zehn Jahre vor sich, um das Zusammenspiel von Elektronen und Kristallgittern in Quantenmaterialien umfassend zu verstehen. »Unser Antrieb ist die pure Lust am Entdecken von neuen Dingen«, sagt Cornelius Krellner. »Wir denken, wenn man mehr versteht, kann man später auch irgendwas Nützliches daraus machen.«

Zu den Personen

Cornelius Krellner, Jahrgang 1978, studierte Physik an der Universität Dresden und der Eidgenössisch-Technischen Hochschule Zürich. Für seine Dissertation wurde er mit der Otto-Hahn-Medaille der Max-Planck-Gesellschaft ausgezeichnet. Nach einem Aufenthalt im englischen Cambridge wurde er 2012 als Professor für Experimentalphysik an die Goethe-Universität berufen.

krellner@physik.uni-frankfurt.de

Roser Valentí, Jahrgang 1963, promovierte an der Universität Barcelona, forschte unter anderem an der University of Florida und wurde 2003 als Professorin für theoretische Festkörperphysik an die Goethe-Universität berufen, der sie 2009 bis 2012 als Vizepräsidentin vorstand. Valentí vertritt den Sonderforschungsbereich Elasto-Q-Mat als Sprecherin und ist damit die treibende Kraft hinter der Forschungsinitiative. Gemeinsam mit Luciano Rezzolla, Professor für theoretische Astrophysik (s. Seite 7), ist sie Gründungssprecherin des Profilbereichs »Raum, Zeit, Materie« der Goethe-Universität.

valenti@itp.uni-frankfurt.de


Die Autorin:

Dr. Benedikt Vogel, geboren 1964 in Luzern/Schweiz, arbeitet von Berlin aus als freiberuflicher Wissenschaftsjournalist mit Schwerpunkten in den Bereichen Physik, Energie und Medizin. Zusätzlich berät er Hochschulen, Verbände und Behörden in strategischen Fragen der Kommunikation.

vogel-komm.ch


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